David Lagercrantz (nach Stieg Larsson) – (Millennium: 4) „Verschwörung“

Sonntag, 20. September 2015

(Heyne, 605 S., HC)
Als mit Frans Balder einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Künstlichen Intelligenz in seiner Wohnung erschossen wird, kreuzen sich nach langer Zeit wieder die Wege von „Millennium“-Redakteur Mikael Blomkvist und der brillanten Hackerin Lisbeth Salander, denn unabhängig voneinander haben sie vor Balders Tod mit ihm zu tun gehabt. Der promovierte Wissenschaftler hatte erst vor kurzem seine Anstellung im Silicon Valley gekündigt und war nach Schweden zurückgekehrt, um seinen autistischen Sohn August zu sich zu holen. Während Salander vor einiger Zeit eine Hackerattacke auf die Forschungsergebnisse von Balder und seinem Team untersucht hatte, trat Balder direkt vor seinem Tod an Blomkvist heran, um ihm zu erzählen, warum er sich in Gefahr befand.
Der einst gefeierte Star des investigativen Journalismus, dessen Kollegen und Konkurrenten schon seinen Niedergang kommentierten, hatte gerade noch überlegt, ob er noch eine Zukunft bei „Millennium“ hat, nachdem die Investoren Serner und Levin entgegen ihres früheren Bekenntnisses nun doch Veränderungen an der Ausrichtung des Magazins in Gang setzen wollen, da wird er von seinem Assistenten Andrei Zander auf die Informatikprofessorin Farah Sharif angesetzt.
Von Balders ehemaligen Studienkollegin erfährt Blomkvist, dass Balder an einer Artificial General Intelligence gearbeitet hat, an Maschinen, die die gleiche Intelligenz wie ein Mensch besitzen, woraus schließlich eine Artificial Superintelligence entstehen wird, die den Menschen letztlich überflüssig zu machen droht. Salander fand vor zwei Jahren heraus, dass einer von Balders Mitarbeitern, die sich aus Sharifs Studenten zusammensetzten, der Dieb gewesen ist, der Balders Forschungsergebnisse an Solifon verkauft hatte, wo der Konkurrenzanalyst Zigmund „Zeke“ Eckerwald die Fäden zog.
Doch auch die NSA hatte dabei ihre Finger im Spiel. Sobald der NSA-Sicherheitsexperte Ed Needham die Identität von Wasp gelüftet hat, haben es Mikael und Lisbeth nicht nur mit den schwedischen Behörden zu tun, sondern auch mit finsteren Typen, die zwar Frans Balder ausschalteten, aber das Leben seines autistischen Sohnes verschont haben. Als Lisbeth den Jungen unter ihre Fittiche nimmt, kommt sie mit seiner mathematischen Begabung den Zusammenhängen zwischen Balders Forschungen, der dunklen Vergangenheit ihrer russischen Familie und der NSA auf die Spur …
„Mikael wusste besser als jeder andere, dass man auf alle möglichen Zusammenhänge stieß, wenn man nur tief genug wühlte. Das Leben hielt immer und überall merkwürdige Korrespondenzen bereit. Die Sache war nur … Wenn es um Lisbeth Salander ging, glaubte er nicht an Zufälle. Wenn sei einem Chirurgen die Finger brach oder sich im Zusammenhang mit einem Diebstahl bahnbrechender KI-Technologie engagierte, hatte sie nicht nur genau darüber nachgedacht. Sie hatte auch einen Grund, ein Motiv. Lisbeth vergaß kein Unrecht und keine Kränkung. Sie übte Vergeltung und sorgte für Gerechtigkeit. Ob ihr Engagement in dieser Geschichte etwas mit ihrem eigenen Hintergrund zu tun hatte? Undenkbar war es nicht.“ (S. 385) 
Als der schwedische Journalist und Schriftsteller Stieg Larsson 2004 an einem Herzinfarkt starb, waren gerade erst drei Manuskripte seiner auf zehn Bände angelegten „Millennium“-Reihe fertiggestellt, die ab 2005 posthum veröffentlicht wurden und sich sofort als internationale Bestseller entwickelten. Nun ist seinem Kollegen David Lagercrantz von Stieg Larssons Verlag und Familie angetragen worden, die auch erfolgreich verfilmte Reihe fortzuführen.
Lagercrantz meistert diese schwere Herausforderung erstaunlich souverän. Seine immerhin 600 Seiten umfassende Fortsetzung der mit „Verblendung“, „Verdammnis“ und „Vergeltung“ begonnenen Reihe erreicht zwar nicht ganz die epische Qualität von Larssons packenden Kriminalfällen, die gleichzeitig tief in die schwedische Geschichte hineinreichen, aber er versteht es, mit einer ähnlich schnörkellosen Sprache vor allem die ikonischen Figuren Mikael Blomkvist und Lisbeth Salander wieder als äußerst charismatische Kämpfer für die Wahrheit und Gerechtigkeit auftreten zu lassen. Dabei verbindet er geschickt einen Mordfall mit spannenden Themen wie der Meinungsfreiheit in den Medien, der Überwachungskultur und fadenscheinigen Sicherheit im Internet und Industriespionage.
Wie sich Blomkvist und Salander durch kryptische Daten, verhängnisvolle Beziehungen und Missbrauchsfällen in Familien wühlen, ist ebenso berührend wie packend geschrieben und lässt nach einem versöhnlichen Finale auf weitere Abenteuer der beiden ambivalent angelegten Protagonisten hoffen.
Leseprobe David Lagercrantz - "Verschwörung"

Steve Mosby – „Der Kreis des Todes“

Montag, 14. September 2015

(Droemer, 430 S., Pb.)
Seit sich seine depressive Frau Marie vor zweieinhalb Jahren von der Brücke stürzte, zieht Alex Connor rastlos von einem Ort zum anderen. Erst als er im Fernsehen in den Nachrichten sieht, dass seine Freundin Sarah Pepper seit fünf Tagen vermisst wird und sein Bruder James mit dem Vorfall in Verbindung gebracht wird, bricht er von Venedig aus wieder nach England auf. Obwohl James ein Geständnis abgelegt hat, seine Freundin im stark alkoholisierten Zustand getötet zu haben, kann ihre Leiche nicht gefunden werden.
Gleichzeitig sucht Detective Kearney nach der verschwundenen Rebecca Wingate. Zusammen mit seinem Partner Todd Dennis ist er seit vier Jahren an der Operation Butterfly beteiligt, die die Morde an drei Frauen und das Verschwinden zweier weiterer Opfer aufzuklären versucht.
Getrieben von Gewissensbissen, dass er nicht für Sarah da gewesen ist, als sie ihn brauchte, nachdem sie für ihn nach Maries Tod eine starke Stütze gewesen war, macht er sich in der Wohnung von Sarah und James auf die Spurensuche und stößt in Sarahs Sachen auf drastische Fotos von Leichen, darunter auch eines von Marie.
Schließlich gelangt Alex auf die Website doyouwanttosee.co.uk, auf der ein User namens Christopher Ellis ein mit dem Handy aufgenommenes Video von Maries Freitod eingestellt hat.
„Seit ich das Foto in James‘ Wohnung gefunden hatte, befand ich mich emotional im freien Fall. Jetzt musste ich herauskriegen, was passiert war und was ich tun konnte. Das Erstere war zum Teil offensichtlich. Während Sarah zu einem Artikel recherchiert hatte, war ihr dieses Video mit dem Tod meiner Frau, der Frau ihres Freundes, untergekommen und hatte zu den weiteren Nachforschungen geführt. Vielleicht so, wie ein Krebs geweckt und zu unaufhaltsamem Wachstum aktiviert wird. Als die Besessenheit von dem Thema sie immer mehr ergriff, zog sie sich von ihren Freunden und ihrer Arbeit zurück und vernachlässigte die Beziehung zu James. Es hatte sie total vereinnahmt.“
(S. 125) 
Währenddessen fasst die Polizei einen Mann namens Thomas Wells, in dessen Wagen sie drei Liter Blut in Flaschen und die Handtasche von Rebecca Wingate finden. Weitere Nachforschungen führen zu dem angesagten Künstler Timms, dessen Portraits teilweise mit dem Blut der Frauen gemalt worden sind, die Kearney als Opfer des Vampir-Killers identifizieren kann …
„Der Kreis des Todes“ ist der fünfte Roman des britischen, in Leeds lebenden Autors Steve Mosby und erschien zwei Jahre nach seinem Drittwerk „Der 50/50-Killer“, mit dem er 2007 seinen internationalen Durchbruch feiern durfte. Seither zählt Mosby zwar zu den bekanntesten Krimi-Schriftstellern Englands, doch sein Werk ist von durchwachsener Qualität. In dem Paperback „Der Kreis des Todes“, das jetzt als deutsche Erstveröffentlichung erschienen ist, entwickelt Mosby einen wirklich interessanten Plot und vor allem verschiedene Handlungsstränge, die sich einmal um Alex Connor und den Tod seiner Frau Marie und dann seiner besten Freundin Sarah, dann um die Ermittlungsarbeit von Kearney und Dennis im Fall des Vampir-Killers drehen. Allerdings gelingt es Mosby nicht so recht, echte Spannung zu erzeugen und die Motivation seiner Figuren transparent zu gestalten. Er springt so oft zwischen den Figuren, Schauplätzen und Zeiten hin und her, dass der Erzählfluss merklich ins Stocken gerät und die Dramaturgie immer wieder darunter leiden muss, dass sich der Autor in seinen zugegebenermaßen sehr bildhaften Schilderungen zu verlieren droht.
So bleibt „Der Kreis des Todes“ eine leidlich unterhaltsame Aneinanderreihung von wechselhaft spannenden Episoden, die nicht wirklich zu einem stimmigen Ganzen zusammengefügt werden.
Leseprobe Steve Mosby - "Der Kreis des Todes"

James Lee Burke – (Hackberry Holland: 3) „Glut und Asche“

Freitag, 11. September 2015

(Heyne, 699 S., Pb.)
Danny Boy Lorca hat schon einiges erlebt in seinem Leben. Dass er während seiner Haftzeit auf der Sugar Land Farm Peitschenschläge gegen seinen Kopf einstecken musste, ist seinem Hirn ebenso wenig bekommen wie seine Tätigkeit als sogenannte „Tomatendose“, wenn er gegen ortsansässige Boxer antrat und nach jedem Schlag, den er einstecken musste, blutete. Einige meinten auch, dass der Meskal seine Hirnzellen aufgeweicht hat. Als Danny Boy eines Mittwochabends im April zwei Dinosauriereier in der Wüste freilegt, beobachtet er, wie eine Gruppe von sechs Männern einen Mann foltern und in Stücke zerteilen, einen weiteren Gefangenen aber laufen lassen.
Als Danny Boy am nächsten Morgen Sheriff Hackberry Holland von dem Vorfall berichtet, hat der Sheriff bereits seinen alten Freund, FBI-Agent Ethan Riser, am Telefon, der auf der Suche nach einem Bundesbeamten ist, der möglicherweise von mexikanischen Drogenmulis verschleppt wurde. Offensichtlich geht es in diesem Fall um eine Frau namens Anton Ling, auch La Magdalena oder La China genannt. Wie Sheriff Holland, sein Deputy Sheriff Pam Tibbs und seine Mitarbeiter bald erfahren, ist nicht nur das FBI hinter dem Informanten Noie Barnum hinterher, sondern auch der russische Kriminelle Josef Sholokoff.
Zwielichtige Gestalten wie Senator Temple Dowling oder Reverend Cody Daniels mischen in diesem Szenario, in dem es um Informationen zu einer Predator-Drohne geht, die nicht in die Hände von Al-Qaida fallen sollen, ebenso mit wie Hollands alter Feind Preacher Jack Collins, den er bereits tot gewähnt hat …
„Das Erbe von Salem löst sich nicht einfach so in Luft auf. Der Vigilantismus nach dem Bürgerkrieg, der Ku-Klux-Klan, Senator McCarthy und seine Anhänger – ein roter Faden, der sich seit 1692 durch die Geschichte zieht, dachte er. Diese Erkenntnis änderte aber wenig an der Tatsache, dass Hackberry kläglich versagt hatte, sich des Problems Jack Collins anzunehmen. Er hatte es versäumt, einen Mann dingfest zu machen, der damals wie heute nach Lust und Laune Menschen ermordete und dabei nicht nur wie ein Geist durch Wände zu gehen schien, sondern – mal abgesehen von trichterförmigen Fußabdrücken – auch keinerlei Spuren hinterließ.“ (S. 265f.) 
Warum Barnum ausgerechnet mit Collins auf der Flucht ist, ist allen Beteiligten nicht zu recht klar, aber offensichtlich sind unter allen Beteiligten noch so einige offene Rechnungen zu begleichen.
Seit Sheriff Hackberry Holland in „Regengötter“ Jagd auf den Auftragskiller Jack Collins gemacht hat, der mit seinem Thompson-Maschinengewehr neun thailändische Mädchen niedergemäht hatte, die als Drogenkuriere und Prostituierte missbraucht worden waren, will Holland den gerissenen Psychopathen unter der Erde sehen. Doch bis es soweit ist, kreuzen sich ihre Wege auch in „Glut und Asche“ immer wieder auf eine verstörende Art, die James Lee Burke zu seiner ganz eigenen Kunstform erhoben hat. Selten sind seine Figuren in simple Schwarz- und Weiß-Kategorien einzuordnen. Stattdessen haben die Protagonisten auch in dem epischen Nachfolger zum Meisterwerk „Regengötter“ mit ihrem Gewissen und fürchterlichen Dämonen zu kämpfen, die ihnen das Leben zur Hölle machen. Zwar steht das antagonistische Verhältnis zwischen Holland und Preacher auch in „Glut und Asche“ im Mittelpunkt der Geschichte, doch die interessanten Nebenhandlungen wecken auch Interesse für die vielschichtigen Nebenfiguren.
Burke gelingt es, das schillernde Panoptikum seiner Figuren so lebendig zu zeichnen, als würde der Leser direkt unter ihnen weilen und Teil des komplexen Geschehens in der hitzeflimmernden Wüste nahe der mexikanischen Grenze sein. Der alternde Sheriff hat dabei nicht nur mit seinen Gefühlen für den viel jüngeren Deputy Sheriff Pam Tibbs zu kämpfen, die weit mehr als nur kollegiale Gefühle für ihren Chef hegt, sondern auch mit Anton Ling, die ihn an seine verstorbene Frau erinnert. Und auch das Verhältnis zu FBI-Agent Riser gestaltet sich wie immer schwierig, denn das FBI steht nicht unbedingt für kompromisslose Kooperation.
Mit „Glut und Asche“ ist Burke ein weiteres Meisterwerk gelungen, das durch einen packenden Plot ebenso fesselt wie durch zutiefst menschlich gezeichnete Figuren, die ihren jeweils eigenen und oft sehr steinigen Weg zur Erlösung finden müssen.

Joe R. Lansdale – „Ein feiner dunkler Riss“

Samstag, 5. September 2015

(Suhrkamp, 351 S., Tb.)
Als Stanley Mitchel es satt hat, sein Leben als Automechaniker im 300-Seelen-Kaff No Enterprise zu fristen, zieht er mit seiner Frau Gal und den beiden Kindern, dem 13-jährigen Stanley Junior und der 16-jährigen Callie, und dem Hund Nub 1958 nach Dewmont in East Texas, wo er fortan das Autokino Dew Drop Drive-in betreibt. Als der junge Stanley eines Samstagmorgens mit seinem Hund durch die Wälder streift, stößt er in der Nähe einer abgebrannten Ruine auf ein Kästchen mit alten Briefen. Vierzehn Jahre zuvor war hier die Villa der Stilwinds in Flammen aufgegangen und hat die Tochter Juwel Ellen in den Tod gerissen. In derselben Nacht wurde Jewel Ellens Freundin Margret Woods vergewaltigt und kopflos auf den Bahngleisen gefunden. Seitdem geht das Gerücht, dass Margrets Geist in der Ruine umgeht.
Zusammen mit dem schwarzen Filmvorführer Buster, der früher als Polizist gearbeitet hat und dessen Alkoholsucht seine Stimmungen und Arbeitsmoral stark schwanken lassen, versucht Stanley, den geheimnisvollen Inhalt der Briefe in dem Kästchen zu entschlüsseln und so den Tod der beiden Mädchen aufzuklären. Wie die beiden ungleichen Ermittler bald feststellen müssen, scheinen sich die Stilwinds, denen unter anderem das richtige Kino in Dewmont gehört, bislang von all ihren Fehltritten freigekauft zu haben, und auch als Stilwinds Junior sich an Callie vergreift, will Irving Stilwind die Angelegenheit mit einem Batzen Geld regeln.
Doch Stanley muss auch an anderen Fronten auf schmerzliche Weise erfahren, dass das Leben zu Beginn der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kein Zuckerschlecken ist. Die schwarze Küchenhilfe Rosy wird von ihrem Mann Bubba Joe dermaßen verprügelt, dass die Mitchels ihr eine Bleibe unter ihrem eigenen Dach anbieten. Und auch Stanleys Freund Richard wird regelmäßig von seinem Vater vertrimmt, bis dieser von zuhause ausreißt. Die bösen Geister, die die Jungen zu verfolgen scheinen, wirken eines Nachts lebensbedrohlich echt …
„In diesem einen Sommer war meiner Familie mehr widerfahren als zuvor in gesamten Leben meiner Eltern. Allerdings hatten sie das meiste davon gar nicht mitgekriegt. Mir drängte sich der Gedanke auf, ich hätte, indem ich diese Kiste gefunden und aufgebrochen hatte, irgendwelche dunklen Götter beleidigt, die jetzt über diesen feinen, dunklen Riss zwischen ihrer geheimnisvollen Finsternis und unserer Wirklichkeit krochen und krabbelten, wutschnaubend, bedrohlich und gefährlich.“ (S. 265f.) 
Lansdale erweist sich in dem 2003 erstmals veröffentlichten Roman „Ein feiner dunkler Riss“ erneut als eleganter Erzähler, der mit lakonischer Leichtigkeit einen faszinierenden Kriminalfall mit tiefgründiger Milieustudie und einem subtilen Coming-of-Age-Drama zu verbinden versteht. Atmosphärisch dicht beschreibt er das Leben in einer amerikanischen Kleinstadt Ende der 1950er Jahre, als die Bürgerrechtsbewegung und der Vietnamkrieg noch nicht die Grundfesten der amerikanischen Gesellschaft erschütterten.
Lansdale bevölkert seinen stimmungsvollen Roman mit ganz unterschiedlichen Figuren, unter denen die kecken Mädchen ihre Macht über die Männer zu entdecken beginnen und die Jungen die brutale Härte des Lebens zu spüren bekommen. Die reichen Weißen kaufen sich von allen Sünden frei, Schwarze werden auf der Suche nach Tätern einfach gelyncht. Dabei hat Lansdale mit den Mitchels eine in einfachen Verhältnissen lebende weiße Familie in den Mittelpunkt seiner Geschichte gestellt, für die Nächstenliebe nicht an der Hautfarbe festgemacht wird.
Bei allen dramatischen Entwicklungen und brutalen Zwischenfällen verliert der versierte Autor aber nie den Humor und vor allem seinen sympathischen Ich-Erzähler aus den Augen, der als Erwachsener auf die tragischen Ereignisse in seiner Jugend zurückblickt. Und dem Leser bleibt „Ein feiner dunkler Riss“ als vielschichtiges Meisterwerk in Erinnerung, dessen Kriminalgeschichte nur der Ausgangspunkt für ein mitreißendes Coming-of-Age-Drama dient.
Leseprobe Joe R. Lansdale - "Ein feiner dunkler Riss"

Christopher Morley – „Eine Buchhandlung auf Reisen“

Donnerstag, 27. August 2015

(Atlantik, 191 S., HC)
Als Andrew McGill des Lebens als Geschäftsmann in New York müde wurde, zog er mit seiner zehn Jahre jüngeren Schwester Helen an den „Busen der Natur“, wo sie sich eine Farm kauften und das einfache Landleben genossen. Bis Andrew seine Liebe zur Literatur entdeckte und darunter die Bewirtschaftung der Farm vernachlässigte. Als er sogar seinen Traum wahrmachte und mit „Das wiedergewonnene Paradies“ sein eigenes Buch veröffentlichte, nutzte Andrew zunehmend die Freiheiten, die ihm das Leben als Schriftsteller gewährte, während Helen am heimischen Herd zu versauern drohte.
Doch gerade als ihr Bruder auf dem Weg in die Stadt ist, taucht der fahrende Buchhändler Roger Mifflin auf der McGill-Farm in Redfield, New England, auf und will dem Schriftsteller seinen „reisenden Parnassus“ verkaufen.
Die 39-jährige Helen versucht zunächst vergeblich, den kleinen Mann mit seinem Bücherwagen abzuwimmeln, doch als dieser beharrlich auf ihren Bruder wartet, sieht Helen auf einmal die Chance, selbst ein Abenteuer zu erleben. Sie schreibt Mifflin einen Scheck über 400 Dollar aus und begibt sich mit ihm auf die Reise, das Handwerk des Bücherhandels zu erlernen. Die bis dato eher unbelesene Helen erlebt in wenigen Tagen der Wanderschaft mehr Abenteuer als in ihrem bisherigen Leben und lässt sich schnell von Mifflins Begeisterung für die Welt der Bücher anstecken:
„,Herrgott!‘, sagte er. ‚Wenn Sie einem Menschen ein Buch verkaufen, dann verkaufen Sie ihm nicht nur so und so viel Papier, Druckerschwärze und Leim – nein, Sie verkaufen ihm ein ganzes, neues Leben. Liebe und Freundschaft und Humor und Schiffe bei Nacht auf hoher See – Himmel und Erde, ich finde, das alles steckt in einem Buch – in einem wirklichen Buch!‘“ (S. 44f.) 
Mit seinem 1919 geschriebenen und 2014 in Deutschland veröffentlichten Roman „Das Haus der vergessenen Bücher“ hat der amerikanische Autor Christopher Morley (1890-1957) eine allseits gefeierte „Liebeserklärung an die Literatur“ präsentiert, der jetzt mit „Eine Buchhandlung auf Reisen“ die dazugehörige Vorgeschichte folgt, die auf gewohnt souveräne, humorvolle und poetische Weise beschreibt, wie die fast schon zur alten Jungfer verdammte Helen McGill mutig ihrem heimischen Gefängnis aus Herd und Farm entflieht, ihren zunehmend freiheitsliebenden Bruder zurücklässt und sich auf abenteuerliche Weise in die Welt der großen Literatur und der Bücher begibt.
Auf knapp 200 Seiten bekommt der Leser nicht nur einen amüsanten Reisebericht durch das ländliche New England zu Beginn des 20. Jahrhunderts präsentiert, sondern auch eine romantische Liebesgeschichte und philosophische Diskurse über den Wert der Literatur.
Leseprobe Christopher Morley - „Eine Buchhandlung auf Reisen“

Kat Kaufmann – „Superposition“

(Hoffmann und Campe, 271 S., HC)
Fernab ihrer russischen Heimat findet sich die 26-jährige Jazzpianistin Izy Lewin in Berlin wieder, wo sie sich in einer kleinen 1-Zimmer-Wohnung mit Fernseher, Bett, Tisch, Klavier und vielleicht sechzig Büchern eingerichtet hat und ihr Leben zwischen erniedrigenden Gigs, Theaterengagements und nächtlichen Kneipenbesuchen mit zu viel Wodka verbringt.
Eine russische Wahrsagerin liest ihr aus dem Kaffeesatz, dass ihr großes Glück in der Liebe bevorsteht, was Izy nicht recht glauben mag. Seit Timur Hertz ihr vor fünfundzwanzig Monaten eine Freundschaftsanfrage geschickt hat, verbindet sie eine ebenso leidenschaftliche wie komplizierte Beziehung, die Izy als eine Freundschaft zwischen Hund und Wolf bezeichnet. Denn Timur liebt nicht nur Izy, sondern ist zunächst vor allem mit Astrid liiert.
Während sich Izy nach dem nächsten Treffen mit ihm sehnt, spielt Izy mit ihrer Band zum 20-järhigen Bestehen der Firma ExproDyn in der hintersten Ecke des großen Tagesraums, wo sie angehalten werden, nicht zu laut zu spielen, dann erwartet sie ein Engagement am Theater, wo Regisseur Marc aber von Izy mehr erhofft als eine reine Arbeitsbeziehung. Wie sich Izy so durchschlägt in der migrationserprobten Metropole, sich für ihre Babuschka Ella einen schönen Tod wünscht und sich zermürbende Gedanken macht über ihre Wurzeln und ihr Leben in Berlin, sehnt sie sich nur nach Timur.
„An jeder Haltestelle versuche ich so viel frische Luft wie möglich aus der sich öffnenden Tür hinter mir zu bekommen. Und egal ob verschwitzte Menschen an mir kleben oder Alkoholleichen – ich würde ganz Berlin für dich durchqueren, sei es auch nur für die verschissen kurze Zeit, die Länge eines Kaffees, den wir dann schweigend nebeneinander sitzend trinken, bevor unsere Realität zerplatzt und die Wirklichkeit alles verpestet. Mein Stück Heimat. Und ich deins. Wenn wir Russisch miteinander reden, wie eine Geheimsprache. Und die anderen fragen ‚Was?‘, und wir sagen ‚Nichts, nichts …‘“ (S. 68) 
Die 1981 in St. Petersburg geborene und in Berlin als Schriftstellerin, Komponistin und Fotografin lebende Kat Kaufmann beschreibt in ihrem Roman „Superposition“ eigentlich eine zeitlich sehr begrenzte Episode aus dem Leben ihrer fast gleichaltrigen Protagonistin. Ebenso interessant wie Izys turbulentes Künstler- und Liebesleben sind aber vor allem die Gedanken und Gefühle der jungen Frau, die sich noch sehr genau daran erinnert, wie sie als kleines Mädchen mit ihrer Familie nach Berlin gekommen ist und seither verzweifelt und taumelnd ihren Platz im Leben zu finden versucht.
Dieses Gefühl der Heimatlosigkeit wird in sentimentalen Kindheitserinnerungen und poetischen Träumen zum Ausdruck gebracht, mit den lakonischen, manchmal harten Schilderungen aus dem Alltag und den romantischen Sehnsüchten nach einer festen Bindung, die wirklich so etwas wie eine Heimat bedeuten könnte.
Leseprobe -Kat Kaufmann – „Superposition“

Don Winslow – „Kings of Cool“

Sonntag, 23. August 2015

(Suhrkamp, 351 S., Tb.)
Laguna Beach ist für die drei Freunde Ben, Chon und O (für Ophelia) das reinste Paradies. Hier beobachten sie das rege Treiben der Reichen und Schönen und gucken sich die geeigneten Kandidatinnen für ihr Spiel FZDT (Ficken, Zimmerservice, Dusche, tschüss) aus. Ihren Lebensstil finanzieren sie sich durch den Handel mit erstklassigem Marihuana, dessen Grundlage Chon bei einem seiner Auslandseinsätze in Afghanistan besorgt hat. Mittlerweile haben sie ihr Geschäft so ausgeweitet, dass die Konkurrenz sie einzuschüchtern versucht. Doch Ben und Chon lassen sich von niemandem einschüchtern, weder von Duane „Old Guys Rule“ Crowe noch von dem korrupten Cop Bill Boland oder dem karrieregeilen DEA-Beamten Dennis Cain.
Allerdings müssen sie sich einiges einfallen lassen, um in dem Krieg um Drogen und Geld nicht unter die Räder zu kommen, denn sie kennen nicht mal die Wurzeln ihrer eigenen Familien und deren Verstrickung in die Geschäfte, die 1967 ihren Anfang nahmen, als die Surfer auf die Hippies trafen. Damals sind die Hippies nach Laguna gezogen, um im mietgünstigen Canyon ihre Utopien zu verwirklichen und die Botschaft der Liebe und des Friedens zu verbreiten. Allerdings brauchten sie dazu Geld, das sie zunächst als Kuriere von Mexiko über die Grenze schmuggelten und schließlich selbst einen Handel aufzogen.
Seitdem hat sich viel getan. Nixon rief 1973 den „War on Drugs“ aus. Dabei hat sich das Anti-Drogenestablishment zu einem Milliardengeschäft entwickelt, an dem die DEA, der Zoll, der Grenzschutz, Tausende von Anti-Drogen-Einheiten und nicht zuletzt die Gefängnisse ordentlich verdienen.
„Es geht nämlich sehr persönlich zu in diesem endlosen, auf kurze Distanz ausgefochtenen Krieg. Diese Männer kennen sich alle. Nicht direkt kennen, aber kennen. Die Sánchez-Familie spioniert die DEA, die Drogenbehörde, mindestens so gründlich aus wie die DEA sie. Sie wissen, wo die jeweils anderen wohnen, wo sie essen, wen sie treffen, mit wem sie vögeln, wie sie arbeiten. Sie kennen ihre Familien, ihre Freunde, ihre Feinde, ihre Vorlieben, ihre Schrullen, ihre Träume, ihre Ängste. Eine Botschaft aus menschlichen Eingeweiden zu schreiben, ist daher beinahe so was wie ein grausamer Scherz zwischen Rivalen, aber auch die Manifestation eines Machtverhältnisses, nach dem Motto, seht mal, was wir uns in unserem Revier erlauben dürfen und ihr in eurem nicht.“ (S. 104) 
Während Ben und Chon damit beschäftigt sind, ihr Revier zu verteidigen, macht sich die schöne wie nutzlose O auf, ihren leiblichen Vater zu finden, was ihre verkorkste Mutter, die sie nur Paku nennt (für passiv aggressive Königin des Universums) ihr eigentlich verboten hat …
Nachdem Don Winslow in seinem von Oliver Stone verfilmten Bestseller „Zeit des Zorns“ den brutalen Kampf von Ben, Chon und O mit den mexikanischen Drogenkartellen erzählt hatte, gibt er in „Kings of Cool“ nun die Vorgeschichte der drei unterschiedlichen Freunde zum Besten, wie sie überhaupt darauf kamen, als ungeliebte Kinder der Hippie-Generation ins Drogengeschäft einzusteigen.
Winslow, der in seinem früheren Leben immer wieder als Privatdetektiv tätig gewesen und mittlerweile zu einem der renommiertesten Krimi-Autoren avanciert ist, erweist sich in diesem Prequel erneut als brillanter Geschichtenerzähler, der seinen rasanten Plot mal mit Dialogen in konzentrierter Drehbuch-Form, mal mit bissigen Kommentaren zum politischen Umfeld würzt.
Dabei lässt er nie Zweifel daran aufkommen, dass der Drogenkrieg vor allem ein amerikanischer ist, unter dem die mexikanische Bevölkerung zu leiden hat.
Interessant ist „Kings of Cool“ vor allem wegen der Rückblicke, die bis ins Jahr 1967 zurückreichen und skizzenhaft illustrieren, wie es überhaupt zu dem Boom im Drogengeschäft kam, aber auch wegen der ganz persönlichen Familiengeschichte der drei jungen Protagonisten. Von der exzessiven Gewalt in „Zeit des Zorns“ ist „Kings of Cool“ weit entfernt, aber die wenigen Szenen, die die brutale Mentalität im Geschäft veranschaulichen, geben schon einen Vorgeschmack auf die kriegsähnlichen Auseinandersetzungen zwischen den Kartellen, wie sie Winslow in „Zeit des Zorns“ und vor allem in seinem meisterhaften Epos „Tage der Toten“ beschrieben hat.
Leseprobe Don Winslow - "Kings of Cool"

Joe R. Lansdale – „Blutiges Echo“

Samstag, 22. August 2015

(Suhrkamp, 392 S., Tb.)
Seit Harry Wilkes als Kind an Mumps erkrankt war und eine Zeitlang nicht mehr auf seinem rechten Ohr hören konnte, sorgen bestimmte Geräusche, die er an Orten wahrnimmt, an denen in der Vergangenheit Verbrechen begangen worden sind, dafür, dass Harry die Verbrechen wie im Traum nachempfindet. Mit seinen Jugendfreunden Joey und Kayla suchte er eines Abends das dunkle und verlassene Honkytonk auf, eine Bar, in der einst die Inhaberin Evelyn Gibson brutal ermordet wurde. Als Joey gegen die Jukebox stieß, konnte Harry sehen, wie die Frau damals umgekommen ist. Wenig später zog Kayla mit ihrer Mutter fort.
Mittlerweile hat sich Harry irgendwie mit seiner merkwürdigen Gabe arrangiert. Um diesen plötzlich auftretenden schmerzhaften Erfahrungen aus dem Weg zu gehen, betäubt er sich regelmäßig mit Alkohol. Er besucht die Universität und jobbt in einer Buchhandlung. Sein Leben nimmt zunächst eine positive Wendung, als er Tad kennenlernt, der sein eigenes Trauma ebenfalls mit Alkohol betäubt, mit Harry zusammen aber einen neuen Weg einschlagen will. Und er lernt die ebenso attraktive wie selbstbewusste und stinkreiche Talia McGuire kennen.
Doch als er auf die Party ihres Vaters eingeladen wird und sich mit ihr in einem Bunker auf dem Grundstück vergnügen will, sieht Harry, wie ein Mann, der wie Talias Vater aussieht, einen Jungen umbringt. Bei diesem Erlebnis würgt Harry seine Freundin, die daraufhin nichts mehr mit ihm zu tun haben will.
„Ich bin eins mit dem Universum. Abgesehen von diesem kleinen Zwischenfall natürlich. Schließlich wird man nicht jeden Abend seine Freundin los, bezichtigt ihren Vater aufgrund einer Vision aus der Vergangenheit des Mordes, wird verhaftet, freigelassen und kriegt die Nummer der Polizistin, die einen nach Hause bringt. Das jedenfalls war gar nicht so schlecht.“ (S. 246) 
Kayla ist tatsächlich als Polizistin in ihre Heimatstadt zurückgekehrt und bittet Harry, mit seiner speziellen Gabe den als Selbstmord eingestuften Tod ihres Vaters aufklären zu helfen. Doch was Kayla, Harry und Tad herausfinden, führt in die höchsten Polizeikreise.
Wie in Lansdales Krimis üblich, wird auch „Blutiges Echo“ von einer zutiefst menschlichen Hauptfigur getragen, die mit einer seltenen Gabe ausgestattet ist, die sie allerdings eher als Fluch betrachtet und mit Alkohol zu betäuben versucht.
Alkohol spielt auch eine zentrale Rolle im Leben von Harrys ganz unterschiedlichen Freunden Joey und Tad. Während Joey nur sein allgemeines Versagen im Alkohol ertränkt, hat Tad eine wirkliche Tragödie zu verarbeiten, und Lansdale beschreibt einfach absolut glaubwürdig, wie Harry und Tad ihren jeweils eigenen Dämonen gegenübertreten und ihr Leben wieder in die eigene Hand nehmen. Dass dabei ungeklärte Morde in der Vergangenheit und eine zurückgekehrte Jugendliebe eine treibende Kraft darstellen, verleiht der Geschichte die nötige Dramatik, aber vor allem übertrifft sich Lansdale einmal mehr darin, ganz normale Menschen mit ihren Fehlern und Stärken vielschichtig zu zeichnen und sie in einer bildreichen Sprache zu sich selbst finden zu lassen.
Leseprobe Joe R. Lansdale - "Blutiges Echo"

Joe R. Lansdale – „Kahlschlag“

(Suhrkamp, 460 S., Tb.)
An einem Nachmittag, als ein Zyklon Frösche, Flussbarsche und Elritzen in dem osttexanischen Kaff Camp Rapture vom Himmel regnen lässt, verabreicht der nicht nur leicht angetrunkene Pete Jones seiner Frau Sunset wieder eine ordentliche Tracht Prügel und hat ihr schon fast alle Kleider vom Leib gerissen, als Sunset den .38er Revolver aus dem Holster des Sheriffs holt und ihn mit einem Schuss in den Schädel ins Jenseits schickt. Sie sucht Zuflucht bei ihrer Schwiegermutter Marilyn, die Verständnis für Tat aufbringt, weil ihr eigener Mann auch gewalttätig ist und den sie daraufhin aus dem Haus wirft.
Als Hauptanteilseignerin der örtlichen Sägemühle setzt sie sich dafür ein, dass Sunset (die ihren Namen der Farbe ihres Haars verdankt, das rot wie ein Sonnenuntergang leuchtet) den Job ihres verstorbenen Mannes übernimmt. Sie setzt den gut aussehenden Durchreisenden Hillbilly und den etwas verwahrlosten Clyde als Deputys ein und bekommt es mit einem Fall zu tun, bei der ein Schwarzer die schwangere Geliebte ihres Mannes und den dazugehörigen Säugling in einem Tongefäß auf seinem Feld gefunden hatte.
Viele glauben, dass Sunset Jimmy Joe und das Baby aus Rache getötet hat, also setzt sie sich daran, den Fall selbst aufzuklären. Bei ihren Recherchen stößt Sunset im Nachbardorf auf den skrupellosen McBride mit seinem irren Schläger Two Schläger, die das Leben der Schwarzen zur Hölle machen und ihnen ihr Land wegnehmen, auf dem auch Öl zu finden ist.
„Jede Wette, dass ich mit allen im Einklang bin, die sich hier auf dieser Kugel aus Erde drehen. Im Einklang mit allen, außer mit den Arschlöchern, die Farbige hassen und am liebsten lynchen, auch wenn ihnen eigentlich eine gerechte Verhandlung zusteht. Im Einklang mit allen außer meiner Tochter, von der ich nicht weiß, wie ich mit ihr zurechtkommen soll.“ (S. 331) 
Sunset hat alle Hände voll zu tun, ihr fast erwachsene Tochter Karen, ihre taffe Schwiegermutter und sich selbst in einer gewalttätigen Männerwelt zu behaupten, in der die Schwarzen und Frauen in Angst vor Mord, Prügel und Vergewaltigung leben, in der uneingeschränkt das Gesetz des Stärkeren zählt und Männer für ihre Taten nicht gradestehen müssen.
Mit diesen Zuständen räumt die unerschrockene Sunset gnadenlos auf, auch wenn sie dabei immer wieder Rückschläge und Enttäuschungen einstecken muss, weitere Morde und Gewalttäten nicht verhindern kann, aber zuverlässige Freunde auf ihrer Seite weiß.
Der mit dem American Mystery Award, dem British Fantasy Award und fünfmal mit dem Bram Stoker Horror Award ausgezeichnete Autor Joe R. Lansdale zählt vor allem mit seinen Krimis, die in seiner texanischen Heimat angesiedelt sind, zu den wichtigsten Vertretern seines Genres. Durch die Veröffentlichung seiner Werke bei Suhrkamp und Heyne findet Lansdale endlich auch in Deutschland die verdiente Anerkennung.
Mit „Kahlschlag“ hat er einen faszinierenden Plot mit einer außergewöhnlichen Ausgangslage kreiert, aus der eine gut aussehende Frau in einer von skrupellosen Männern regierten Welt ihren Weg macht. Die Figuren, die Lansdale dabei ins Spiel bringt, sind dabei selten in klaren Gut- und Böse-Kategorien einzuordnen. Stattdessen muss Sunset erst selbst auf schmerzvolle Weise erfahren, auf wen sie sich verlassen kann, während ihre Gefühle dabei oft widersprüchliche Signale aussenden. Der in den 1930er Jahren angesiedelte Roman strotzt vor Gewalt und sexuellen Anspielungen und beschreibt anschaulich, wie Frauen und Schwarze unterdrückt werden, aber auch ihre Bestimmung finden können. Das ist alles in allem so packend und unterhaltsam geschrieben, als würde dieser Mix aus bewährten Rachemotiven des Westerngenres mit bilderreichen Horrorakzenten und gesellschaftskritischen Tönen das Normalste der Welt sein.
Lansdale entpuppt sich in „Kahlschlag“ einmal mehr als Meister des psychologisch tiefgründigen Thrillers, in dem starke Figuren auch mal Fehler machen dürfen.
Leseprobe Joe R. Lansdale - "Kahlschlag"

Gerhard Henschel – (Martin Schlosser: 6) „Künstlerroman“

Sonntag, 16. August 2015

(Hoffmann und Campe, 573 S., HC)
Nach viereinhalb Monaten Fernbeziehung plant der 23-jährige Germanistik-Student Martin Schlosser, von Berlin zu seiner Freundin Andrea nach Aachen zu ziehen, denn im Gegensatz zu ihm, der sein Studium zum Wintersemester ´85/86 in Köln fortsetzen könne, bleibt Andrea diese Flexibilität bei ihrem Sozialpädagogik-Studium vorenthalten. Martin erhofft sich von diesem Coup vor allem, seine Freundin vor ihrer Neigung zu anderen Männern kurieren zu können, obwohl sie vereinbart haben, eine offene Beziehung zu führen. Martin findet ein günstiges WG-Zimmer und wird von Andrea erst einmal zu einem Bioenergetik-Seminar geschleift, jobbt bei Tetra Pak und verfolgt zwischen seinen ermüdenden Schichten in der Getränkeverpackungsindustrie und dem ähnlich aufreibenden Beziehungsgeplänkel auch die deutsche Kulturlandschaft zu erkunden, bis er nach Oldenburg zieht und seinen Traum zu verwirklichen sucht, Schriftsteller zu werden.
Dass er dafür sein Studium hinschmeißt, stößt bei seinen Eltern in Meppen auf wenig Verständnis. Und kompliziert bleibt auch die Beziehung zu Andrea. So wie sich Martin immer wieder in andere, leider unerreichbare Frauen verguckt, findet auch Andrea andere Männer attraktiv. Es folgen Streitereien, Trennungs- und Versöhnungsbriefe und Tarot-Sitzungen.
„Nach einer wonnevollen Nacht holte Andrea wieder zum Angriff aus: Ihr sei nicht daran gelegen, ‚die inneren Widersprüche unserer Beziehung mit einer verklärenden Soße zuzukleistern‘, fuhr sie mich an, nachdem ich den Fauxpas begangen hatte, das Thema Birgit zu streifen.
Schon wieder stand alles auf der Kippe. Obwohl’s gerade noch so schön gewesen war.
But every day of he year’s like playin‘ Russian roulette … 
Mußten bei uns denn immer die Stühle fliegen? Und das vor den Ohren der beiden Mitbewohnerinnen?
Sie ging dann ohne mich spazieren, und ich nahm ein Beruhigungsbad mit allem, was die Hausapotheke hergab: Lavendel, Baldrian, Melisse und Calendula.“ (S. 279)
„Künstlerroman“ stellt nach „Kindheitsroman“ (2004), „Jugendroman“ (2009), „Liebesroman“ (2010), „Abenteuerroman“ (2012) und „Bildungsroman“ (2014) bereits den sechsten Band der Chronik um den Ich-Erzähler Martin Schlosser dar und verbindet auf höchst vergnügliche Weise einen weiteren turbulenten Lebensabschnitt des jungen Studenten mit Momentaufnahmen aus der deutschen Medien-, Kultur- und Politikgeschichte der 80er Jahre.
Henschel verzichtet dabei auf eine Einteilung seiner Geschichte in Kapitel, sondern fügt die Episoden aus Schlossers Leben und Betrachtungen über den Zustand der deutschen Kultur in lose zusammenhängenden Absätzen aneinander. Dabei ist die Beziehungsakrobatik, in die sich Schlosser und seine Freundin Andrea verheddern, ebenso unterhaltsam wie Schlossers Ausflüge in die Provinz von Meppen oder Walter Kempowskis Ferienlager in Nartum. Und wenn der sympathische Ich-Erzähler bei seinen umständlichen Bemühungen, seinen Lebensweg und –sinn zu finden, über die Ereignisse in Politik und Medien nachsinnt, wird dem Leser genüsslich vor Augen geführt, was die Welt Mitte der 80er bewegte und schockierte, von Kohls Erinnerungslücken in der Flick-Affäre über Mike Krügers Familienshow „Vier gegen Willi“, Jörg Drews Verriss von Isabel Allendes „Von Liebe und Schatten“ im „Merkur“, Gorbatschows Abrüstungsbestrebungen, Geißlers Stellungnahme zu den Risiken der Atomkraftnutzung, Henscheids Kolumne „Sudelblätter“ im „Zeitmagazin“, die Fußball-WM und der Umgang mit der radioaktiven Katastrophe von Tschernobyl, um nur einige zu nennen.
Henschel präsentiert sich damit als Polaroid-Chronist der deutschen Geschichte, wobei er die einzelnen Ereignisse nur kurz anreißt, hier und da einen Kommentar zitiert, um dann selbst kurz und prägnant mit Schlossers Ein-Satz-Fazit abzuschließen. Zusammengehalten wird diese amüsant zusammengestellte Chronik durch eine faszinierend vielschichtige und vergnügliche Lebens- und Liebesgeschichte, in die sich wunderbar nachfühlend die Lebenswirklichkeit der 80er Jahre wiederfindet, das Trampen zwischen den Autobahnanschlussstellen, die Suche nach günstigen WG-Zimmern ohne Badezimmer, die Abenteuer mit Mietwagenfirmen, die Lotterie bei den Studentenjobs und die Faszination für Tarot und alternative Medizin.
Wir sind gespannt, wie es wohl weitergeht im Leben von Martin Schlosser!

Joe R. Lansdale – „Drive-In“

Samstag, 15. August 2015

(Heyne, 736 S., Pb.)
Viertausend Autos fasst das „Orbit“, das größte, an der letzten Ausfahrt der Interstate-45 liegende Autokino in Texas. Nachdem Jack die obligatorische All-Night-Horror-Show am Freitag besucht hat, trifft er sich mit seinen Jungs in Dans Schuppen, wo sie beim Billardspielen den coolen Willard kennenlernen. Randy, Bob und Jack verabreden sich mit Willard für den nächsten Freitag, um mit ihm ins Drive-In zu fahren. Als sie dort eintreffen, ist die Party schon voll in Gange. Bevor die angekündigten Filme „I Dismember Mama“, „Evil Dead“, „Die Nacht der lebenden Toten“, „Toolbox Murders“ und „Texas Chainsaw Massacre“ anlaufen, haben es sich die Cowboys und Cowgirls, Punks, Alt-Hippies und Familien mit ihren Holzkohlengrills und Bierdosen auf Gartenstühlen, Motorhauben und Decken gemütlich gemacht.
Kaum hat der Trash-Klassiker „I Dismember Mama“ angefangen, taucht ein gewaltiger roter Komet am Himmel auf und löscht den Nachthimmel mit seinen Sternen aus. Doch nicht nur der Mond und die Sterne sind verschwunden, als der Komet erloschen ist – alles außerhalb des Autokinos liegt in völliger Schwärze. Mehr noch: Als ein Cowboy seinen Arm in die Schwärze außerhalb der Umzäunung ausstreckt, löst sich nicht nur sein Arm auf, sondern sein Körper verflüssigt sich zu einer ekligen Brühe. Was folgt, ist ein Ausnahmezustand der besonderen Art.
Während die „Orbit“-Besucher über den Ursprung der Katastrophe die wildesten Vermutungen anstellen, versorgt der Manager die Menschen mit kostenlosem Popcorn und Softdrinks, doch als nach Tagen der Vorrat aufgebraucht ist, steht bald auch Menschenfleisch auf der Speisekarte. Randy und Willard vereinen sich zu einem Wesen namens Popcorn King, der seine Jünger mit außergewöhnlichem Popcorn beglückt.
„Bob und ich dösten die meiste Zeit vor uns hin, und wenn wir so hungrig waren, dass wir’s nicht mehr aushielten, gingen wir zum Camper, legten uns auf den Boden und aßen, kauten ganz langsam, redeten hin und wieder, als ob es was zu sagen gäbe, hörten uns einen Film an, dessen Ton gedämpft über den Lautsprecher in den Camper drang. Es fiel mir schließlich schwer, mich an das Leben vor dem Drive-In zu entsinnen. Ich konnte mich an Mom und Dad erinnern, aber ich sah ihre Gesichter nicht vor mir und hätte nicht sagen können, wie sie sich bewegt oder wie sie geredet hatten. Ich konnte mich an keine Freunde erinnern, nicht mal an Freundinnen, deren Gesichter häufig durch meine Träume gespukt hatten. Meine Vergangenheit verflüchtigte sich wie Feuchtigkeit auf einem beschlagenen Spiegel.
Und die Filme liefen weiter.“ (S. 133) 
Doch Jacks eigentliche Odyssee geht erst ab dem zweiten Band („Keins dieser üblichen Sequels“, so der programmatische Untertitel) so richtig los. Dann erwarten ihn und seine Wegbegleiter Cryer und Bob ein urzeitlicher Dschungel mit Dinosauriern und Popalong, ein Fernsehgesicht, das seinen Anhängern Popcorn und Candy und Softdrinks vom Himmel fallen lässt. So richtig abgefahren wird es allerdings im dritten Teil, wenn Jack mit seinen Gefährten erst eine abenteuerliche Bustour unternimmt und nach wochenlangem Treiben auf dem Meer dann wie Noah in einem Wal landet, in dem das nächste Grauen wartet …
Der Texaner Joe R. Lansdale ist zwar vor allem durch seine Krimi-Reihe um Hap Collins und Leonard Pine bekannt geworden, doch seinen literarischen Einstand feierte er mit der 1997 begonnenen „Drive-In“-Trilogie, die aus der Einladung des „Twilight Zone“-Herausgebers T.E.D. Klein resultierte, einen Artikel für das Magazin zu schreiben. Lansdale wollte „eine liebevolle Satire auf Horrorfilme und die menschliche Dummheit schreiben. Über unser ureigenes Bedürfnis, so gut wie alles für bare Münze zu nehmen, wenn man sich dabei nur besser fühlt. Religion, Astrologie, Numerologie, was man sich nur vorstellen kann“, so der Autor in seinem Vorwort zur jetzt erstmals komplett auf Deutsch erschienen „Drive-In“-Trilogie (S. 9).
Tatsächlich lässt Lansdale in seiner aberwitzigen Tour de Force so einige selbsternannte Prediger und Anführer auffahren, die ihre Anhänger mit den absurdesten Versprechen verführen. Dem Autor gelingt dabei eine höchst unterhaltsame, mit beißendem Humor versehene Hommage an die längst vergessene Autokino-Kultur und den trashigen Filmen, die dort immer wieder zu sehen waren. Zu den Vorführungen von „Die Nacht der lebenden Toten“ und „The Texas Chainsaw Massacre“ bildet „Drive-In“ das literarische Pendant. Mit sichtlicher Freude an den geschilderten menschlichen Gelüsten und den oft abseitigen Wegen zu ihrer Befriedigung seziert Lansdale die bizarre Landschaft der menschlichen Spezies. Das liest sich stellenweise wie bitterböser Horror und ätzende Science-Fiction, aber „Drive-In“ stellt vor allem eine blutgetränkte, nach Scheiße und Sperma stinkende Gesellschaftssatire dar, die einen ganz anderen Autor präsentiert, als wir ihn durch starke, ganz und gar realistisch gezeichnete Psycho-Thriller wie „Die Kälte im Juli“ und „Dunkle Gewässer“ kennen. „Ihre heftige ästhetische Wirkung rührt daher, dass sie etwas mit obsessiver Detailbesessenheit ausgestalten, was im Horror-Genre sonst eher nur einzelne Schockszenen ergibt, hier eine Vignette, da einen Höhepunkt: den Abgrund“, resümiert Dietmar Dath, einer der Übersetzer, in seinem Nachwort (S. 733).
Wer also keine Berührungsängste mit einem zutiefst verstörenden Subtext kennt, den uns Lansdale mit seiner ebenso unterhaltsamen wie perfiden Genre-Mixtur präsentiert, wird bei der Lektüre von „Drive-In“ viel zu lachen und einiges nachzudenken haben, wenn der höchste Grad an Vorstellungskraft erst einmal aktiviert ist.
Leseprobe Joe R. Lansdale - "Drive-In"

F. Paul Wilson (Handyman Jack 10) – „Der Erbe“

Sonntag, 9. August 2015

(Festa, 469 S., Tb.)
Jack sitzt gerade vor seinem Kaffee in seiner Stammkneipe Julio’s an der Upper West Side von New York, als er von dem einst erfolgreichen Werbefuzzi Timmy O’Brien darum gebeten wird, bei der Suche nach seiner am Vormittag verschwundenen 14-jährigen Nichte Caitlin zu helfen. Jack tätigt einige Anrufe und bekommt nach einiger Zeit tatsächlich einen Hinweis durch einen Obdachlosen, der etwas gesehen haben will. Tatsächlich kann Jack im letzten Augenblick verhindern, dass das Mädchen Opfer einer offensichtlich rituellen Zeremonie geworden ist.
Jack heftet sich an die Fersen der Männer, die in ihren schwarzen Anzügen mit Hüten und Sonnenbrillen einen merkwürdigen Eindruck hinterlassen, und sieht sich unversehens mitten in der seit ewigen Zeiten währenden Auseinandersetzung zwischen den „Verbündeten“ und der „Andersheit“.
„Die Pointe war die, dass die Menschheit und ihre Nische der Realität nicht einmal der Hauptgewinn, sondern nur ein ganz kleiner Jeton in einem Spiel mit sehr hohen Einsätzen waren, das sich über das ganze Multiversum erstreckte. Und offenbar wechselten die Jetons auch schon mal den Besitzer. Keine Seite konnte sich zum Sieger erklären, solange sie nicht über alle Jetons verfügte. Vielleicht würde es nie einen Gesamtsieger geben, aber das Spiel ging weiter. Und weiter.
Und auch wenn die Erde kein besonders wertvoller Spielstein war, war der Einsatz hier doch sehr hoch. Es ging um alles.“ (S. 105) 
Ehe sich Jack versieht, wird er von einem der Oculi, die sich als Netzwerk von Männern und Frauen verstehen, die als Agenten des Verbündeten den Besitzstand der Menschheit wahren sollen, zum Erbe des Verbündeten erklärt. Mit dieser Offenbarung kann Jack ebenso wenig anfangen wie die Yeniceri im unmittelbaren Umfeld des Oculus, denn vor allem Miller hat damit gerechnet, dass der Erbe aus ihren eigenen Reihen käme.
Wie Jack bald am eigenen Leib erfahren muss, ist die Entführung von Caitlin nur der Auftakt zu einer Operation gewesen, in deren Verlauf Jack um seine Allerliebsten bangen muss, um seine Frau Gia, seine Stieftochter Vicky und das noch ungeborene gemeinsame Kind von Gia und Jack …
Mit dem 1984 veröffentlichten Roman „The Tomb“ (dt. „Die Gruft“) hat der amerikanische Mediziner und Autor F. Paul Wilson die Reihe um Repairman Jack eröffnet, der in der deutschen Übersetzung kurioserweise als Handyman Jack eingeführt wurde und sich mittlerweile in einer eigenen Serie als Problemlöser der besonderen Art etabliert hat. In der Handyman-Jack-Reihe verknüpft Wilson Elemente aus Krimi, Horror und Science-Fiction, wobei der kosmische Krieg zwischen den Verbündeten und der Andersheit auch in „Der Erbe“, dem mittlerweile 10. Band im Handyman-Jack-Zyklus, eine wesentliche Rolle spielt. Dabei werden Ereignisse aus Jacks jüngerer Vergangenheit wieder an die Oberfläche gespült, vor allem der dem Zorn Allahs zugeschriebene Anschlag auf dem La-Guardia-Flughafen, bei dem auch Jacks Vater ums Leben kam.
Das übernatürliche Element spielt in „Der Erbe“ zwar eine handlungstreibende Rolle, wird aber von Wilson recht diffus dargestellt. Weitaus lebendiger und überzeugender ist der Plot ausgefallen, in dem Jack ganz programmatisch mit der Herausforderung umgeht, das Leben seiner jungen Familie zu schützen und sich endlich eine offizielle Identität zu verschaffen, damit er die Rolle des Vaters auch legitim ausfüllen kann.
„Der Erbe“ zählt zwar nicht zu den besten Werken der Reihe, zeigt Handyman Jack aber von einer sehr menschlichen Seite und ist ebenso spannend wie unterhaltsam geschrieben, auch wenn der Plot gerade an den Stellen an Glaubwürdigkeit einbüßt, wenn kosmische Kräfte Dinge in Gang bringen, die der menschlichen Erfahrung zuwiderlaufen.
Leseprobe F. Paul Wilson - "Der Erbe"

Don Winslow (Neal Carey 1) – „London Undercover“

Dienstag, 4. August 2015

(Suhrkamp, 370 S., Tb.)
Seit Neal Carey als elfjähriger Junge, dessen Vater sich nie hatte blicken lassen und dessen Mutter mit ihrer Sucht mehr Geld verprasste, als sie nach Hause brachte, beim Taschendiebstahl von Joe Graham erwischt worden ist, nahm dieser den talentierten Jungen unter seine Fittiche und brachte ihm alles bei, bis Neal zu einem echten Überwachungsgenie herangewachsen war. Neal begann für die Bank der Familie Kitteredge zu arbeiten, deren Kunden größten Wert auf Diskretion legen, und so wurde seit 1913 eine bankinterne Agentur aufgebaut, die sich um das Glück und die Sicherheit der prominenten Bankkunden kümmert.
Nachdem Neal acht Monate lang nichts von Graham gehört hat, bekommt er von ihm den Auftrag, die 17-jährige Tochter von Senator Chase ausfindig zu machen, die seit drei Monaten verschwunden ist und zuletzt in London gesehen wurde. Die Polizei wurde bislang nicht involviert. Bis zum August, wenn John Chase seinen Wahlkampf beginnt, soll seine Tochter Allie wieder aufgetaucht sein. Bevor Neal nach London reist, erfährt er bei seinen Recherchen, dass John Chase gar nicht der Vater von Allie ist, sie aber jahrelang missbraucht hat.
„Also läuft es wie immer. John Chase ist ein Vertreter des US-Senats, vielleicht wird er eines Tages Vizepräsident, und er hat Geld auf der Bank. Er vergewaltigt seine Stieftochter und kommt ungeschoren davon, weil einer wie ich alles unter den Teppich kehrt. Neal Carey, Hausmeister der Reichen und Mächtigen.
Und dieses Arschloch verlässt sich darauf, dass Allie vor lauter Scham die Klappe hält, während sie mit der Familie für Pressefotos posiert und auf eine weit entfernte Schule geschickt wird, möglicherweise in der Schweiz. Und ich werde ihm dabei helfen. Weil das besser ist, als dass ein Mädchen da draußen rumläuft und zugrunde geht, weil sie glaubt, mit dem eigenen Vater Sex gehabt zu haben. Und weil ich irgendwann auch mal mit dem College fertig werden will.“ (S. 64f.) 
Doch die Suche nach Allie in London gestaltet sich für Neal erwartungsgemäß schwierig, weil es nicht den kleinsten Anhaltspunkt für ihren Aufenthaltsort gibt. Doch sobald Neal dann doch eine Spur aufgenommen hat, bewegt sich der junge Mann in einem Strudel aus Drogen, Betrug und Gewalt …
Der amerikanische Schriftsteller Don Winslow zählt seit seinen Bestsellern „Tage der Toten“ (2010) und „Zeit des Zorns“ (2011) zu den international angesagtesten Krimi-Autoren. Seine Karriere begann er 1991 mit „A Cool Breeze on the Underground“, dem ersten Roman um den raffinierten Privatermittler Neal Carey, dem bis heute vier weiter folgen sollten. Der in der Neuübersetzung von Conny Lösch 2015 unter dem Titel „London Undercover“ veröffentlichte Debütroman von Winslow fasziniert durch einen vielschichtigen Plot und sympathische Protagonisten, wobei vor allem das Vater-Sohn-ähnliche Verhältnis zwischen Graham und seinem Schüler Neal durch Rückblenden großartig herausgearbeitet wird.
Dabei wird schnell deutlich, dass Neal nicht nur ein Schüler mit glänzender Auffassungsgabe ist, sondern seine Aufträge ebenso gewissenhaft wie raffiniert ausführt. Neal geht es eben nicht nur darum, ein vermisstes Mädchen zu seiner Familie zurückzubringen, sondern auch jene Leute auszutricksen, mit denen Neal bei seinem Einsatz offene Rechnungen zu begleichen hat.
Das ist nicht nur spannend und unterhaltsam geschrieben, sondern ist auch für die eine oder andere witzige Überraschung, literarische Anspielung und subkulturelle Akzente gut.
Leseprobe Don Winslow - "London Undercover"

Richard Laymon – „In den finsteren Wäldern“

Sonntag, 26. Juli 2015

(Festa, 256 S., Tb.)
Neala O’Hare ist gerade mit ihrer Freundin Sherri in ihrem MG zu einem Wanderurlaub in die Wälder von Kalifornien unterwegs, als ein beinloses Wesen mit kraftvollen und stark behaarten Armen ihren Weg kreuzt. Um diesen Schrecken zu verdauen, kehren sie abends in einen Imbiss ein, der sich als entsetzliche Falle entpuppt. Die beiden jungen Frauen werden von vier Männern verschleppt, die ihre Habseligkeiten einsammeln und ihre Opfer in den Wald verschleppen, wo sie an Bäume gefesselt und ihrem Schicksal überlassen werden. Zur gleichen Zeit ist der Highschool-Lehrer Lander Dills mit seiner Frau Ruth, der volljährigen Tochter Cordelia und ihrem Freund Ben ebenfalls in den Urlaub unterwegs. Da sie es nicht wie geplant bis zum Mule Ear Lake schaffen, wollen sie in Barlow übernachten, doch das angesteuerte Motel erweist sich ebenfalls als eine Falle.
Als sich Ben und Cordie abseits der Motelanlage miteinander vergnügen, werden sie ebenfalls verschleppt, dann gerät auch seine Frau in die Fänge von unheimlichen Kreaturen. Wie die beiden Mädchen bald herausfinden, haben die Einwohner von Barlow vor Generationen einen Handel mit den sogenannten Krulls in den Wäldern geschlossen, die sich durch jahrzehntelange Unzucht vermehrt haben. Junge Frauen sollen dafür sorgen, dass ihr Genpool mit frischem Blut versorgt wird. Als Lander sich aufmacht, seine Familie zu retten, wird er von einem ebenso starken Rachedurst wie von der erotisch geprägten Faszination für die im Wald lebenden Kreaturen getrieben.
„Er sollte von diesem Dorf voller Wahnsinniger verschwinden, so weit ihn die Füße trugen. Und versuchen, Cordelia zu finden.
Und Ruth?
O Gott, was war mit Ruth?
Vielleicht befand sie sich in diesem Augenblick irgendwo in diesem Dorf. Noch am Leben. Darauf wartend, bis sie damit an der Reihe wäre, Futter für diese Dämonen zu werden.
Die Chancen dafür, dass sie noch lebte, standen tatsächlich nicht schlecht. Wenn diese Monster auch nur einen Hauch Vernunft besaßen, würden sie Ruth noch eine Weile am Leben lassen. Und zuerst die Leichen verzehren, bevor sie ihre lebenden Gefangenen schlachteten.“ (S. 96) 
Es ist vor allem dem Heyne-Verlag zu verdanken, den Großteil des hierzulande unbekannten Werkes des 2001 verstorbenen Horror-Schriftstellers Richard Laymon posthum veröffentlicht zu haben, doch auch der Festa-Verlag bringt immer wieder mal den einen oder anderen Band aus Laymons umfangreichen Schaffen heraus.
„In den finsteren Wäldern“ zählt sicher nicht zu den besten Arbeiten von Laymon, aber sicher zu seinen kompromisslosesten. Interessant ist vor allem die Entstehungsgeschichte von Laymons erst zweiten Roman nach „Haus des Schreckens“ (1980), den der Heyne-Verlag 2008 zusammen mit den Folgebänden „Das Horrorhaus“ und „Mitternachtstour“ in „Der Keller“ publizierte.
Wie Laymons Tochter Kelly im Vorwort rekapituliert, hat Warner Books nicht nur die Umschlagillustration versaut, sondern auch rigide Änderungen am Manuskript vorgenommen, so dass Laymon später meinte, „The Woods Are Dark“ (1981) sei das Buch gewesen, das seine Karriere ruinierte. Kelly ist es irgendwann gelungen, die überall verstreuten Seiten des Originalmanuskripts zu finden, so dass es 2008 endlich in der ursprünglich angedachten Fassung erscheinen konnte. Laymon hält sich dabei nicht mit auch nur irgendwie gearteten Einleitung auf, sondern konfrontiert den Leser ebenso wie seine beiden hübschen Protagonistinnen Neala und Sherri mit einem furchterregenden Wesen, das stellvertretend für die später so degeneriert dargestellten Krulls eingeführt wird. Der Autor hält sich auch nicht mit den persönlichen Hintergründen seiner Figuren auf. Außer den vagen Ferienzielen und den Namen erfährt der Leser eigentlich nichts über sie. Dass Lander Dills immer wieder literarische Zitate von sich gibt, wird mit seiner Highschool-Lehrtätigkeit erklärt.
Was Laymon an Figurenzeichnung und psychologischer Tiefe hier vermissen lässt, macht er aber durch Tempo, Spannung und blutigen Horror wieder locker wett. Dabei dürfen erotische Eskapaden und Wunschträume natürlich ebenso wenig fehlen wie sein ausgesprochen bizarrer Humor, bei dem einem das Lachen im Halse stecken bleibt. Allerdings ist der Leser auch aufgefordert, den holprigen Plot mit seiner Fantasie zu füllen. Selten bekommt man das Gefühl, dass hier tatsächlich das vollständige Manuskript vorliegt und Laymon eine zusammenhängende Geschichte erzählt.
Aber wie Schriftsteller-Kollege Brett McBean im Nachwort richtig bemerkt, kommt auch in „In den finsteren Wäldern“ der filmnahe Schreibstil des Autors voll zur Geltung.
„Es ist der beste Low-Budget-Exploitation-Horrorstreifen, der nie gedreht wurde“, schreibt er und kommt zu dem Schluss: „Das Buch gleicht einer raschen, vor Blut strotzenden Geisterbahnfahrt. Es ist wie Menschenfleisch, das von jeglichem Fett befreit in einer wahnsinnigen literarischen Orgie verschlungen wird.“ (S. 255f.)
Leseprobe Richard Laymon - "In den finsteren Wäldern"

Jilliane Hoffman – „Samariter“

Samstag, 25. Juli 2015

(Wunderlich, 479 S., HC)
Die Überraschungsparty, die Nick „Big Mitts“ Lavecki für seine Frau Charity zu ihrem dreißigsten Geburtstag veranstaltet hat, wird Charitys Schwester Faith Saunders lange in Erinnerung bleiben. Obwohl Nick sie erst am Sonntagmorgen eingeladen hatte, hat sich Faith mit ihrer vierjährigen Tochter Maggie von Parkland aus die 250 Kilometer auf den Weg nach Sebring gemacht, wo sie am Abend wieder einmal feststellen durfte, dass Nick ein ausgemachtes Arschloch ist, der sich vor aller Augen an andere Frauen heranmacht. Allerdings hält Charity nach wie vor zu ihrem Mann, so dass es nicht nur zu einem Streit zwischen den Schwestern kam, sondern Faith mit Maggie trotz der Orkanwarnung überstürzt aufgebrochen ist.
Faith spielt das Drama auf dem Rückweg noch einmal in ihrem Kopf ab, als sie merkt, dass sie etwas angefahren hat, doch als sie aussteigt, kann sie nichts entdecken. Offensichtlich hat sie sich aber verfahren. Als Faith bei starkem Regen in der Ferne eine Leuchtreklame und damit ein Zeichen von Zivilisation entdeckt, fällt ihr zunächst ein Stein vom Herzen, doch dann klopft plötzlich eine Frau um Hilfe bittend an ihr Fenster. Statt diesem Hilferuf nachzukommen, verschließt Faith die Türen und beobachtet nur noch, wie zwei Männer die junge Frau wegführen. Erst als Maggie den Vorfall ihrem Vater Jarrod schildert, meldet sich Faith bei der Polizei, die endlich einen Hinweis auf den Serienmörder bekommen, den die Polizei als Derrick Poole identifiziert. Doch als die 17-jährige Noelle Langtry verschwindet, kann Poole, der von der Detective Bryan Nill unter Beobachtung steht, nichts mit ihrer Entführung zu tun haben. Faith ist von den Vorgängen so traumatisiert, dass sie sich niemandem anzuvertrauen vermag, weder ihrem Mann Jarrod, dem sie seine Affäre mit einer jungen Anwaltsgehilfin noch nicht verziehen hat, noch ihrer Geschäftspartnerin und Freundin Vivian oder Detective Nill.
„Es war Zeit, reinen Tisch zu machen und das schreckliche Chaos aufzuräumen, das sie zu ersticken drohte, das jeden Aspekt ihres Lebens vergiftete und mit all den Lügen jeden ihrer Gedanken verschlang. Sie musste das Richtige tun, egal mit welchen Konsequenzen sie zu rechnen hatte. Sie musste tun, was sie konnte, um Poole und seinen Partner/Freund von der Straße zu bekommen, nicht nur, damit sie nachts wieder schlafen konnte, sondern auch wegen der anderen Frauen, denen die beiden in Zukunft weh tun würden.“ (S. 241) 
Doch die Möglichkeit, der Polizei alles zu erzählen, was sie gesehen hat, lässt Faith verstreichen. Stattdessen flüchtet sie sich immer mehr in den Alkohol und muss dabei zusehen, wie Jarrod sich immer weiter von ihr entfernt und ausgerechnet Poole tiefer in ihr eigenes Leben eindringt …
Die amerikanische Schriftstellerin Jilliane Hoffman weiß, wovon sie schreibt. Immerhin war sie Staatsanwältin Florida und unterrichtete die verschiedensten Spezialeinheiten der Polizei in allen juristischen Belangen. Gleich mit ihrem Romandebüt „Cupido“ eroberte Hoffman weltweit die Bestsellerlisten und ließ mit „Morpheus“, „Vater unser“, „Mädchenfänger“ und „Argus“ weitere Bestseller folgen. Dazu wird sich fraglos auch „Samariter“ gesellen.
Der Plot wirkt nicht immer unbedingt glaubwürdig, aber einer alkoholkranken Protagonistin, die weder mit ansehen kann, wie sich ihre geliebte Schwester an der Seite ihres widerwärtigen Ehemanns zugrunde richtet, noch die Affäre ihres Mannes zu verzeihen vermag, nimmt man einige merkwürdige Entscheidungen und Gedanken schon mal ab.
„Samariter“ – so der wenig schlüssige deutsche Titel der amerikanischen Originalausgabe von „All the little pieces“ – überzeugt ohnehin weniger auf der psychologischen Seite, sondern in dem rasant entwickelten Plot, der sich dank einer einfachen Sprache flüssig lesen lässt. Gerade die persönlichen Hintergründe der beiden Täter bleiben leider im Dunkeln, und Hoffman konzentriert sich so sehr auf ihre verkorkste Anti-Heldin, dass wenig Raum für die Nebenschauplätze und –figuren bleibt. Was an psychologischer Tiefe und Logik fehlt, macht die Autorin allerdings durch den temporeichen, durchweg spannenden Plot wieder wett. Das ist nicht die hohe Thriller-Kunst eines Don Winslow, Lee Child, Jeffery Deaver oder einer Patricia Cornwell und Kathy Reichs, aber durchaus kurzweilige Krimi-Unterhaltung.
Leseprobe Jilliane Hoffman - "Samariter"

Lee Child - (Jack Reacher: 15) "Wespennest"

Sonntag, 19. Juli 2015

(Blanvalet, 446 S., HC)
Auf seinem Weg nach Virginia wird der ehemalige Militärpolizist Jack Reacher von einem Anhalter vor einem einsam gelegenen, aber futuristisch aussehenden Motel in Nebraska abgesetzt. An der Bar des Apollo Inn bekommt er mit, wie der Barkeeper von einer Mrs. Duncan angerufen wird, die über Nasenbluten klagt, das nicht aufhören will. Doch der Arzt, der neben Reacher an der Theke sitzt und dem der Anruf gilt, ist zu betrunken, um seinen Pflichten nachzukommen. Als Reacher den Arzt zum Haus der Duncans fährt, bemerkt er, dass die Frau offensichtlich nicht zum ersten Mal von ihrem Mann Seth verprügelt worden ist.
Reacher schnappt sich den Subaru des Doktors und stattet Seth einen Besuch im einzigen Steakhaus der Stadt einen Besuch ab, der mit der gebrochenen Nase des Ehemanns endet. Doch Seth, sein Vater Jacob und dessen Brüder Jonas und Jasper lassen es nicht dabei bewenden. Schließlich haben sie mit ihrem Transportunternehmen nicht nur das ganze County in ihrer Hand, sondern warten auf eine dringende Lieferung, die wiederum an ihren Geschäftspartner Mr. Rossi in Las Vegas weitervermittelt werden muss.
Aber Mr. Rossi ist nicht das Ende der Nahrungskette, und so geraten die Duncans enorm unter Druck, Reacher auszuschalten und die delikate Lieferung zu sichern. Reacher muss feststellen, dass er nicht länger in der Gegend erwünscht ist, dass jeder hier vor den Duncans Angst hat. Als er zu recherchieren beginnt, woher diese Angst rührt, stößt er auf den Fall eines vor 25 Jahren verschwundenen Mädchens, den weder die State Police noch das FBI lösen konnte. Während Reacher herauszufinden versucht, woran die Ermittlungen gescheitert sind, machen die Duncans sowohl mit den Italienern als auch den Iranern zunächst gemeinsame Sache, um den riesigen Fremden auszuschalten, der ihre Geschäfte sabotiert. Aber eigentlich nutzt jede Partei die Möglichkeit, die gegenwärtigen Geschäftspartner auszuschalten, um noch mehr vom Kuchen einzubehalten.
„Es gab keinen riesigen Fremden, der hier Amok lief. Keiner hatte ihn gesehen, und niemand konnte ihn beschreiben, weil er nicht existierte. Er war erfunden. Er war imaginär. Er war ein Köder. Er war eine List. Die ganze angebliche Verzögerung war Bockmist. Sie war von A bis Z erfunden. Sie hatte nur dazu gedient, um alle nach Nebraska zu locken, damit sie ausgeschaltet, liquidiert, umgelegt werden konnten. Die Duncans beseitigten ein Kettenglied nach dem anderen und wollten die ganze Kette eliminieren, um direkt mit den Saudis ganz oben verhandeln und den eigenen Gewinn vervielfachen zu können.“ (S. 330) 
Allerdings müssen sowohl die Duncans als auch die Italiener und Iraner sukzessive feststellen, dass Reacher durchaus eine reale Bedrohung darstellt, der seine ganze Cleverness und Erfahrung seiner Militärzeit in die Waagschale wirft, um die verängstigten Bewohner des Countys wieder ihr eigenes Leben führen zu lassen und einen kalten Fall zu lösen.
Nach „61 Stunden“ ist „Wespennest“ nicht nur der 15. Roman in Lee Childs gefeierter Jack-Reacher-Reihe, sondern gleichzeitig der zweite Band der sogenannten Susan-Turner-Tetralogie. Susan Turner ist das Ziel in Virginia, zu dem sich Reacher als Anhalter auf den Weg macht, und unterwegs hat er vertrackte Abenteuer zu bestehen, in die nur Typen wie Reacher gelangen und einigermaßen heil wieder rauskommen können.
Wie gewohnt erfährt der Leser nicht viel über Reachers Privatleben oder Gefühle. Reacher macht sich ohne Gepäck einfach auf den Weg und packt die Probleme, die sich ihm in den Weg stellen, mit gnadenloser Effizienz an. Wie er die brenzligsten Situationen nüchtern analysiert und seine Vorgehensweise darauf abstimmt, beschreibt der in England geborene Lee Child entsprechend schnörkellos, in kurzen, prägnanten Sätzen, nur die harten Fakten betrachtend, aus denen sich Reachers Handlungsspielraum wie von selbst definiert. Geschickt enthüllt Child im Laufe der Geschichte immer weitere Teile des ominösen Unternehmens, das die Duncans da betreiben und in dem auch die Lösung für den Fall des verschwundenen Mädchens liegt.
Meisterhaft verbindet der Autor dabei filmreife Action mit geschickter Ermittlungsarbeit, so dass der Leser es gar nicht abwarten kann, den nächsten Jack-Reacher-Roman in den Händen zu halten.
Leseprobe Lee Child - "Wespennest"

Clive Barker – „Das scharlachrote Evangelium“

Sonntag, 12. Juli 2015

(Festa, 460 S., Tb.)
Nachdem eine Handvoll von Magiern mit dem N’guize-Ritual ihren Anführer Joseph Ragowski von den Toten wiedererweckt hat, muss dieser erfahren, dass ein Dämon den einst beachtlichen Kreis ihresgleichen auf die sechs Anwesenden reduziert hat. Kaum wird Ragowski über die tragische Entwicklung in Kenntnis gesetzt, taucht auch schon der besagte Dämon – Pinhead – auf, die letzten Bestandteile des Magischen Orders auszumerzen, der über Jahrhunderte hinweg im Schatten der Zivilisation agiert hatte. Doch damit ist sein Werk längst nicht beendet. Der Anführer der Zenobiten hat es sich zur Aufgabe gemacht, den Lichtbringer Luzifer selbst herauszufordern und sich damit selbst auf den Thron der Hölle zu setzen.
Allerdings hat er es dabei mit Harry D’Amour zu tun, dem ehemaligen Polizisten, der sich nun in New York als Detektiv durchschlägt. Als seine gute Freundin Norma Paine, die einen engen Draht zu den Toten unterhält, mit dem Tod des Anwalts Carston Goode konfrontiert wird, ist es an Harry, dessen geheimes Haus in New Orleans aufzusuchen, von dem Goodes Frau keine Kenntnis haben darf. Goodes Haus entpuppt sich nicht nur als Ort der Magie und abartiger sexueller Praktiken, sondern er stößt auch auf Lemarchands geheimnisvollen Würfel, durch den der Dämon Felixson Eintritt in D’Amours Welt erhält. Der Detektiv entkommt der Auseinandersetzung mit Pinheads Gefolgsmann nur mit knapper Not, doch zum Ausruhen hat der Detektiv, der mit allerlei Schutzzaubern tätowiert ist, keine Zeit.
Pinhead, der wegen seiner geheimen Beschäftigung mit menschlicher Magie durch den Unverzehrten aus dem Orden verbannt wurde, hat sich Norma geschnappt und verlangt von D’Amour, die Dinge zu bezeugen, die Pinhead in Gang zu bringen versucht. Zusammen mit seinen Freunden Dale, Caz und Lana folgt D’Amour dem Zenobitenpriester in die Hölle, wo Luzifer und Pinhead eine epische Schlacht entfachen.
„Der Höllenpriester sah über die linke Schulter und flüsterte etwas in die Dunkelheit, die ihn umgab. Sie schien sich noch mehr zu verdichten, wie ein eifriger Komplize, der begierig jeden Befehl aufnahm. Harry war der stumme Beobachter der Geschehnisse, sein Kopf schwirrte von unbeantworteten Fragen. War diese seltsame Gestalt – die immer tiefer in ihren Selbstmordstuhl sackte, je mehr Klingen aus ihrem Körper gezogen wurden – wirklich der Gegenspieler, das leibhaftige Böse, der Gefallene, Satan? Er sah einfach zu bedauernswert aus, zu menschlich, wie er da auf seinem Todesthron saß. Die Vorstellung, dass dieses Geschöpf einst Gottes Liebling gewesen sein sollte, schien lächerlich.“ (S. 330) 
1995 hat der in Liverpool geborene und seit Jahren in Los Angeles lebende Autor, Illustrator, Maler und Filmemacher Clive Barker mit „Lord of Illusions“ seine aus den „Büchern des Blutes“ stammende Kurzgeschichte „Die letzte Illusion“ verfilmt und damit seine bis dato dritte und letzte Regiearbeit vorgelegt, nachdem der Film bei der Kritik und auch beim Publikum nicht allzu überschwänglich aufgenommen worden war. Barkers Versuch, mit Harry D’Amour eine Film-noir-Figur im Horror-Genre zu etablieren, wirkte wenig logisch und allzu holperig in der Inszenierung. Dabei hatte Barker mit „Hellraiser“, seiner ersten eigenen Adaption einer seiner Kurzgeschichten – „The Hellbound Heart“ – , einen modernen Klassiker des Horrorkinos geschaffen und mit den Zenobiten unvergessene Ikonen des Genres kreiert, die in unzähligen Sequels weiterhin auf der Leinwand ihr dämonisches Treiben zelebrierten.
Mit „Das scharlachrote Evangelium“ lässt Barker nun seine zwei wohl bekanntesten Figuren aufeinandertreffen und kreiert dabei ein Szenario, das ein wenig an Stephen Kings epische Schlacht in „The Stand – Das letzte Gefecht“ erinnert. Barker nimmt sich zunächst Zeit, die Geschichte von Harry D’Amour und seiner blinden Freundin Norma zu erzählen. Parallel dazu treibt Pinhead seine dämonische Vernichtungsarbeit, indem er zunächst die letzten verbliebenen menschlichen Magier tötet und ihren Leichen die Geheimnisse entnimmt, die ihn selbst noch mächtiger werden lassen, bevor er in der imponierenden Kathedrale der Hölle Luzifer selbst gegenübertritt.
Wie üblich bedeint sich Barker dabei der christlichen Mythologie und beweist eine enorme Vorstellungskraft, wenn er die Landschaft der Hölle in bildgewaltigen Szenarien beschreibt. Es ist wohl niemandem außer Clive Barker bislang gelungen, die Hölle in ebenso faszinierenden wie erschreckenden Bilder zu zeichnen und diese mit Dämonen zu bevölkern, deren Treiben jegliche menschliche Vorstellungskraft übersteigt. Während das Hollywood-Franchise „Hellraiser“ längst zu einer Karikatur des ursprünglichen Konzepts verkommen ist, lässt „Das scharlachrote Evangelium“ darauf hoffen, dass die Zenobiten zumindest in Barkers literarischen Ambitionen weiterhin eine so beeindruckende Rolle spielen.
Leseprobe Clive Barker - "Das scharlachrote Evangelium"

Jim Thompson – „Südlich vom Himmel“

Dienstag, 7. Juli 2015

(Heyne, 297 S., Tb.)

Der junge Tommy Burwell arbeitet in den 20er Jahren in der westlichen Prärie von Texas an einer Pipeline, die bis nach Port Arthur am Golf von Mexiko reichen soll. Mit von der Partie sind ein Haufen von Knackis, Saufbrüdern und Landstreichern mit zerfetzten Kleidern am Leid und leeren Mägen, ebenso sein Kumpel Four Trey. Statt sich entspannt wie gewohnt um die Arbeitszeiterfassung zu kümmern, sind die beiden Männer diesmal für das Sprengen mit Dynamit eingeteilt, woran Tommy unschöne Erinnerungen hat.
Allein die gut ausgestattete Carol, die dem Camp nachreist, sorgt für angenehme Ablenkung vom harten Arbeitsalltag, und schon schmiedet das Liebespaar Pläne für die Zukunft. Allerdings ist mit den Jungs im Camp nicht zu spaßen, vor allem nicht mit Bud Lassen, der als Deputy Sheriff sichtlich Spaß daran hat, den Leuten das Leben schwerzumachen und dabei vor allem Tommy auf dem Kieker hat. Als Lassens zerteilte Leiche an einer Baggerschaufel gefunden wird, wird Tommy sogleich als Mörder verdächtigt und eingesperrt. Doch das ist der Anfang eines perfiden Plans, der von einer Gauner-Bande erdacht worden ist, um an die Lohngelder zu kommen, die alle zwei Wochen an die Arbeiter ausgezahlt werden.
„Was die Malocher anging …
Sie stiegen von den Ladeflächen, und alles an ihnen schrie vor Müdigkeit und Hunger; von diesem Tag und von all den bitteren Tagen zuvor. All die Leere dieser Tage und jener, die noch vor ihnen lagen. Das Schlimmste daran war, dass es ihnen nichts auszumachen schien. Sie hatten einen Tag geschafft. Den Tag zu schaffen, ganz gleich wie, war die Summe ihres Lebens. Und so erledigt, wie sie waren, rissen sie Witze und lachten. Warum auch nicht? Sie lachten über die Dinge, über die sie nicht hätten lachen sollen. Über ihre allgemeine Wertlosigkeit, über den Schmutz an Kleidung und Körper – alles klebte vor Schlamm aus Staub und Schweiß.“ (S. 92) 
„Südlich vom Himmel“, 1967 und damit zehn Jahre vor Thompsons Tod veröffentlicht, zählt zu den Spätwerken eines Autors, der bereits mit fünfzehn Jahren seine erste Kriminalgeschichte verkaufen konnte, aber seinen Lebensunterhalt als Glücksspieler, Sprengstoffexperte, Ölarbeiter und Alkoholschmuggler verdienen musste, bevor er Drehbücher für Filmemacher wie Stanley Kubrick verfassen durfte. 
Als zentraler Vertreter des Noir-Genres wird er nicht nur von Stephen King verehrt, sondern wird sukzessive auch in der Heyne-Hardcore-Reihe wieder dem deutschen Publikum zugänglich gemacht. „Südlich vom Himmel“ ist zwar auch ein Krimi, stellt sich aber vor allem als gut beobachtete Milieustudie dar, die kaum einer so authentisch präsentieren kann wie Thompson, der sich lange Zeit selbst mit Knochenjobs über Wasser halten musste. In seiner gewohnt schnörkellosen, direkten Art bringt er das einfache wie harte Leben von Wanderarbeitern auf den Punkt und beschreibt schonungslos, wie Träume zu sprichwörtlichem Staub zermahlen werden. 

Lee Child – (Jack Reacher: 17) „Der Anhalter“

Samstag, 4. Juli 2015

(Blanvalet, 446 S., HC)
Mit seinen ein Meter fünfundneunzig Körpergröße, der ohnehin kräftigen Statur und nun noch einer frisch gebrochenen Nase ist Jack Reacher nicht gerade in der besten Ausgangslage, um als Anhalter mitgenommen zu werden. Als er auf dem Weg nach Osten bis Virginia nach anderthalb Stunden Wartezeit endlich mitgenommen wird, ist der ehemalige und vielfach dekorierte Militärpolizist erst einmal froh, aber als er hinter den beiden Männern neben der Frau hinten im Wagen Platz nimmt, analysiert er sofort die Situation: Aus der einheitlichen Kleidung schließt Reacher, dass hier Kollegen unterwegs sind.
Alan King, Don McQueen und Karen Delfuenso sind im Vertrieb einer Software-Firma tätig und gerade von Kansas nach Chicago unterwegs, erfährt Reacher, doch nach einigen Meilen kommt ihm die Situation merkwürdig vor. Die Frau neben ihm ist auffällig ruhig, die Angaben der Männer nicht ganz schlüssig. Schließlich gibt die Frau Reacher durch einen Blinzel-Code zu verstehen, dass sie eine Geisel ist, dass die Männer mit ihrem Auto unterwegs sind und dass sie selbst eine Tochter hat. Er weiß nicht, dass die Männer in der Nähe von Kansas an einem Mord beteiligt gewesen sind, an dem neben dem County Sheriff Victor Goodman auch die FBI-Agentin Julia Sorenson ermittelte. Bevor Reacher die Frau befreien kann, gelingt es den Männern, mit ihr allein die Flucht fortzusetzen. Nachdem sie mit Reacher zusammen die Straßensperren passiert hatten, war er nicht mehr nützlich für sie. Nun setzt Reacher mit Sorenson alles daran, die Geisel zu befreien. Doch dann wird auch noch die zehnjährige Tochter der Geisel entführt.
„Sie war ein Mädchen vom Land. Zehn Jahre alt. Bestimmt kein Wunderkind. Sie würde jedem Erwachsenen mit einer halbwegs überzeugenden Story geglaubt haben. Jegliche Autorität würde sie überzeugt haben. Sie würde jede Art Versprechen bereitwillig hingenommen haben. Komm mit, Kleine. Wir haben deine Mama gefunden. Wir bringen dich zu ihr.
Aber wer?
Wer hatte überhaupt gewusst, dass Delfuenso verschwunden war? Natürlich sein ganzes Department, dazu die Nachbarn, und vermutlich einige Leute, mit denen sie seither telefoniert hatten. Und die beiden Kerle. Aber weshalb würden sie erst die Mutter ermorden und sich dann das Kind holen?“ (S. 238) 
Lee Child weiß, wie man packende Thriller schreibt. Nachdem der in England geborene Autor beim Fernsehen so gefeierte Thrillerserien wie „Heißer Verdacht“ und „Für alle Fitz“ betreut hatte, zog er in die USA und landete gleich mit seinem ersten Jack-Reacher-Roman „Größenwahn“ einen internationalen, preisgekrönten Bestseller. Seither zählen Lee Childs Jack-Reacher-Thriller zum Besten, was das Genre zu bieten hat, und mit Tom Cruise als „Jack Reacher“ (basierend auf dem 9. Band „Sniper“) hat die charismatische Figur mittlerweile auch den Weg auf die Leinwand gefunden. „Der Anhalter“ stellt bereits den 17. Roman um den ehemaligen Militärpolizisten dar, der nach dreizehn Jahren bei der Army mittlerweile fast ebenso lang auf eigenen Beinen steht und sich ohne familiäre Bindungen, einem Zuhause und Arbeitgeber eher ziellos durchs Leben treiben lässt. Indem Jack Reacher als Anhalter durch die USA reist, wird diese Lebensweise schon zu Beginn auf den Punkt gebracht. Auch wenn er etwas abgerissen erscheint, sind die Lektionen, die er beim Militär gelernt hat, in Fleisch und Blut übergegangen.
Aus einer zunächst unverfänglich erscheinenden Situation entwickelt „Der Anhalter“ einen raffinierten Plot, in dem Reachers nach wie vor geschulten Instinkte nicht nur sein eigenes Überleben sichern, sondern auch der Personen, die ihm am Herzen liegen. „Der Anhalter“ ist clever konstruiert, schnörkellos geschrieben, mit sympathischen Protagonisten gespickt, über die der Leser gern mehr erfahren würde, und schließlich so temporeich auf der Zielgeraden, dass es einem den Atem raubt. Mehr davon!
Leseprobe Lee Child - "Der Anhalter"