Terry Gilliam – „Gilliamesque“

Dienstag, 19. Januar 2016

(Heyne, 300 S., HC)
Als Mitbegründer von Monty Python‘s Flying Circus und Regisseur von Meisterwerken wie „Brazil“, „König der Fischer“, „12 Monkeys“ und „Fear and Loathing in Las Vegas“ ist Terry Gilliam eine echte Ausnahmeerscheinung jenseits der glamourösen Hollywood-Filmwelt. Nun legt er mit „Gilliamesque“ eine Autobiografie vor, die so kunterbunt und unterhaltsam ausgefallen ist wie sein außergewöhnliches Leben und Wirken als Künstler.
Zwar betont Gilliam im Vorwort, dass er nie Tagebuch geführt habe und seine Erinnerungen deshalb sehr selektiv seien, aber die Lebensgeschichte, die er in diesem Buch entfaltet, steckt voller Details, Begegnungen mit illustren Personen und vor allem gesellschaftspolitischen und künstlerischen Referenzen, die deutlich machen, warum Terry Gilliam der Künstler geworden ist, der seit jeher abseits der Konventionen erfolgreich agiert hat.
Schon in der Kindheit, die er auf dem Land am Medicine Lake bei Minneapolis verbrachte, entwickelte Gilliam einen gesunden Respekt vor der Brutalität der Natur und fühlte sich von den Furcht einflößenden Wäldern und dem Sumpf inspiriert. Dazu gesellten sich Alexander Kordas und Michael Powells Film „Der Dieb von Bagdad“, die Geschichten der Bibel, Schneewittchen, Robin Hood und Cowboys und Indianer. Gilliam lernte mit Preston Blairs Leitfaden „Animation – Learn How to Draw Animated Cartoons“ das Zeichnen und bezeichnet die „Mad“-Comics als wichtigsten kulturellen Einfluss seiner Teenagerjahre.
Mit ein paar Freunden begann Gilliam, mit „Fang“ in die Fußstapfen von „Mad“ und „Help!“ zu treten, kam schließlich selbst bei „Help!“ unter und machte die Bekanntschaft von Robert Crumb und Richard Lester, der die Beatles-Filme „A Hard Day’s Night“ und „Help!“ inszeniert hat. Besonders interessant lesen sich Gilliams Erinnerungen an seine Bekanntschaft mit Terry Jones, Michael Palin und Eric Idle, als diese an einer subversiven Kindersendung namens „Do Not Adjust Your Set“ arbeiteten. Als Cartoonist begann Gilliam für Monty Python’s Flying Circus die Tricksequenzen zu kreieren. Ihr erster Kinofilm „Monty Pythons wunderbare Welt der Schwerkraft“ stellte zwar nur ein Remake von Sketchen aus den ersten beiden Staffeln dar und floppte in den USA, ebnete der Truppe aber in England den Weg für den nächsten Film „Die Ritter der Kokosnuss“, der für einige Differenzen in der Truppe sorgte, weil sich nun die beiden Terrys den Regiejob teilten und damit Ian MacNaughton ablösten.
„Wir waren die Typen aus der letzten Reihe, die sich über alles lustig machten, genau wie die Mönche im Mittelalter. Letztlich stellte sich heraus, dass es wesentlich einfacher war, eine Armee aus Fabelwesen zu erschaffen, als meinen Kollegen Anweisungen zu geben, die sie dann auch befolgten.“ (S. 158) 
Gilliam nimmt in der Folge seine interessierten Leser mit auf eine Zeitreise durch sein weiteres filmisches Schaffen, erzählt von den Schwierigkeiten bei der Entstehung von Großprojekten wie „Brazil“ und „Die Abenteuer des Baron Münchhausen“, von der Arbeit mit Schauspielern mit Heath Ledger, Johnny Depp, Brad Pitt und Bruce Willis, aber auch von seinem Scheitern mit Produktionen wie „Der Mann, der Don Quijote tötete“. Dabei präsentiert Gilliam keinen Gesamtüberblick, sondern gewährt durch intime Anekdoten jeweils nur kurze Momentaufnahmen und Inneneinsichten, die stets deutlich machen, wie sehr sein Herz an jedem seiner Projekte hing
und dass er sein amerikanisches Heimatland so verabscheute, dass er sogar die Staatsbürgerschaft ablegen wollte.
Da Gilliam auch ein begnadeter Illustrator ist, bietet der prachtvoll gestaltete Hardcoverband im Großformat „Gilliamesque“ nicht nur viele Fotos von den Dreharbeiten zu den verschiedenen Filmen, sondern auch Dokumente seiner Kindheit und College-Zeit, vor allem aber die durch seine Arbeit bei Monty Python bekannten Collagen.
Leseprobe Terry Gilliam - "Gilliamesque"

Joe R. Lansdale – (Hap & Leonard: 4) „Schlechtes Chili“

Samstag, 16. Januar 2016

(DuMont, 319 S., Tb.)
Als Hap Collins Mitte April von seinem Job auf der Bohrinsel nach Hause kommt, hat auch sein schwarzer, schwuler Freund Leonard Pine seinen Job als Rausschmeißer im Hot Cat Club verloren. Um sich die Zeit zu vertreiben, machen die beiden Freunde eine Spritztour und wollen im Wald ein paar Schießübungen machen, als Hap von einem tollwütigen Eichhörnchen angegriffen und gebissen wird. Doch die Behandlung im Krankenhaus muss Hap verkürzen, denn als er Besuch vom frisch zum Lieutenant beförderten Charlie Bank bekommt, erfährt er vom Tod eines Bikers, der gerade mit Leonards Ex-Freund Raul zusammengekommen war. Wenig später wird auch Rauls Leiche in der Nähe des toten Bikers gefunden.
Da Leonard unvermittelt zum Mordverdächtigen wird, bleibt den beiden Freunden nicht viel Zeit, Leonards Unschuld zu beweisen. Da Leonards Hütte auf den Kopf gestellt worden ist und dabei vor allem seine Videosammlung zu leiden hatte, scheint Raul in krumme Geschäfte verwickelt gewesen zu sein.
Bei ihrer Spurensuche stoßen Hap und Leonard auf Videos, die nicht nur zeigen, wie Schwule im berüchtigten LaBorde Park vertrimmt werden, sondern auch welche, auf denen Männer aus dem Umfeld des Unternehmers King Arthur bei Fettdiebstählen zu beobachten sind. Offensichtlich hat jemand versucht, den Chili-King mit den Videos zu erpressen und dabei gegen Kings mächtigen Handlanger Big Man Mountain den Kürzeren gezogen. Zum Glück erhalten Leonard und Hap Unterstützung durch den Detektiv Jim Bob Luke, der ebenso mit seinem Mundwerk wie mit seinen Waffen umzugehen versteht.
Derweil beginnt sich Hap in die Krankenschwester Brett zu verlieben …
„In meinem Leben war also nicht alles schlecht, aber Leonard war wie ein Kessel auf dem Herd. Man wusste einfach nicht, wann er zu kochen anfangen würde. (…) Er war einfach griesgrämig, genau das war er. Es wurde so schlimm, dass ich Rauls Mörder finden wollte, nur um mir Leonards Nörgeleien nicht mehr anhören zu müssen.“ (S. 179) 
In dem breit gefächerten literarischen Universum, in dem sich der texanische Autor Joe R. Lansdale bewegt, nimmt die „Hap & Leonard“-Reihe eine besondere Stellung ein. Zwar greift Lansdale allein schon durch die Konstellation der beiden Freunde – Hap ist ein weißer Hetero-Kriegsdienstverweigerer, Leonard ein schwarzer homosexueller Vietnamveteran – seine vertrauten Themen wie Rassismus und Diskriminierung jeglicher Art auf, doch bildet ihr eigenwilliger Gerechtigkeitssinn eine weitere Säule der Erfolgsgeschichte um das ungewöhnliche Ermittler-Duo. Auch im vierten Band der populären Reihe haben die beiden Männer mit den Tücken des Alltags, der schwierigen Jobsuche und vergangenen/neuen Beziehungen zu kämpfen, aber auch mit den starren Buchtstaben des Gesetzes, über die sich der ortsansässige Cop Charlie auch nicht hinwegsetzen kann.
Es geht wieder deftig-rustikal zu in dem kurzweiligen Roman „Schlechtes Chili“. Diesmal bekommen die losen Münder von Hap und Leonard durch den auswärtigen Detektiv Jim Bob noch wortreiche Verstärkung, so dass die Krimi-Handlung sowohl von – oft schmerzhafter – Action als auch von schrill-amüsanten Wortgefechten vorangetrieben wird. Das ist einfach großartige Unterhaltung!
Leseprobe Joe R. Lansdale – „Schlechtes Chili“

Joe R. Lansdale – „Die Wälder am Fluss“

Montag, 11. Januar 2016

(DuMont, 366 S., Tb.)
Während Jacob Crane im östlichen Texas des Jahres 1933 als Farmer, Friseur und Constable für den Unterhalt der Familie sorgt, ist sein elfjähriger Sohn Harry vom geheimnisvollen Ziegenmann fasziniert, dem nachgesagt wird, in den dichten Wäldern am Sabine River Kinder und Tiere zu stehlen. Mit seiner jüngeren Schwester Thomasia – kurz: Tom – ist er gerade in der Abenddämmerung unterwegs, um die Jagdhund-Terrier-Mischung Toby von ihren Leiden zu erlösen, da stoßen sie auf eine schrecklich zugerichtete Frauenleiche. Am nächsten Morgen führt Harry seinen Vater zur Fundstelle, wobei sie an dem Haus des alten Mose vorbeikommen, den die Dorfbewohner bald als Täter ausmachen. Schließlich hat er die Geldbörse der toten Frau gefunden.
Und es werden weitere Frauen gefunden, meist schwarze Prostituierte, die furchtbar zerschnitten und auf einzigartige Weise geknebelt sind, aber erst als auch ein weißes leichtes Mädchen tot aufgefunden wird, reagieren der Ku-Klux-Klan. Bevor die Männer in den weißen Gewändern den alten schwarzen Mann lynchen können, versteckt Harrys Vater den Verdächtigen. Das Versteck bleibt allerdings nicht lange geheim, und weder Harry noch sein Vater können verhindern, dass Mose an einem Baum aufgeknüpft wird. Danach ist Harrys Vater nicht mehr derselbe.
„Daddy suchte eine Zeit lang nach dem Mörder, aber abgesehen von ein paar Spuren am Ufer, die davon zeugten, dass dort jemand nach Essbarem gesucht hatte, fand er nichts. Ich hörte, wie er Mama erzählte, er habe in den Wäldern am Fluss das Gefühl gehabt, jemand beobachte ihn – als gäbe es da draußen jemanden, der die Wälder und den Fluss genauso gut kannte wie die Tiere dort; und dass dieser Jemand ein Auge auf ihn habe.“ (S. 119) 
Die Morde hören nach Moses Tod zwar auf, doch die meisten Menschen mit gesundem Verstand glauben nicht daran, dass Mose die Taten begangen hat. Während sich die Aufregung nach den Morden legt, taucht ein alter Verehrer von Harrys Mutter wieder auf und verschwindet auf mysteriöse Weise. Und Harry glaubt immer wieder, den Ziegenmann in seiner Nähe zu sehen …
Dass der mehrfach preisgekrönte Horror- und Krimi-Autor Joe R. Lansdale gern als Autor in der Tradition von Südstaaten-Größen wie William Faulkner und Mark Twain gesehen wird, lässt sich an seinem 2000 in den USA, in Deutschland durch den DuMont Buchverlag veröffentlichten Roman „Die Wälder am Fluss“ wunderbar illustrieren.
Schließlich steht im Mittelpunkt des Geschehens ein elfjähriger Junge, der in den 1930er Jahren die Schrecken der Depression und die nach wie vor anhaltende Rassendiskriminierung nicht nur bezeugen muss, sondern auch am eigenen Leib erlebt. Lansdale erweist sich wieder einmal als brillanter Erzähler, der anhand einiger Morde an kaum geachteten Frauen darlegt, wie vergiftet die gesellschaftliche Atmosphäre in dieser Zeit gewesen ist, als die kleinsten Indizien ausgereicht haben, um das Leben eines schwarzen Mannes auszulöschen.
Dem Autor gelingt es, in „Die Wälder am Fluss“ eine klassische Coming-of-Geschichte mit einer packenden Thriller-Handlung, einer Portion Washington-Irving-Horrors und einem Gesellschaftsroman zu verbinden, wobei die düsteren Verbrechen die besten und die schlechtesten Eigenschaften der Einwohner von Marvel Creek hervorkehren.
Neben der packenden Handlung sind es aber vor allem wieder die stark gezeichneten Figuren und die schwül-intensive Atmosphäre, die „Die Wälder am Fluss“ so lesenswert machen.
Leseprobe: Joe R. Lansdale – „Die Wälder am Fluss“

Shane Kuhn – „Töte deinen Chef“

Sonntag, 3. Januar 2016

(DuMont, 319 S., Tb.)
Nachdem Vollwaise John Lago bereits im zarten Alter von acht Jahren seine mit Drogen handelnden Pflegeeltern Mickey und Mallory mit Plastiktüten über dem Kopf erstickt hatte und in den Jugendknast gewandert war, wurde Bob, Geschäftsführer von Human Ressources Inc., auf den Jungen aufmerksam und bildete ihn zum Auftragskiller aus. Mittlerweile ist John 25 und damit für seine Branche im besten Rentenalter. Bevor er seine siebenstellige Rentenprämie kassiert und all das seit der Pubertät angesparte Geld ausgeben kann, hat Bob noch einen letzten, allerdings ungewöhnlich kniffligen Auftrag für ihn: Während die Dossiers zu seinen Aufträgen normalerweise das Profil der Zielperson, ihre Feinde und Schwäche sowie Lagepläne beinhalten, muss John die Zielperson erst einmal selbst ausfindig machen, nämlich einen der drei Geschäftsführer der berühmten New Yorker Anwaltskanzlei Bendini, Lambert & Locke.
Um denjenigen zu identifizieren, der die Liste der im Zeugenschutzprogramm des FBI befindlichen Personen meistbietend verkauft hat, wird John wie üblich als Praktikant in die Kanzlei eingeschleust. Da Praktikanten bei guter Eignung Zugang zu wichtigen Bereichen und Informationen bekommen, sich aber niemand an sie erinnert, stellt es die perfekte Tarnung für Johns Profession dar.
Tatsächlich gelingt es John, mit Fleiß und perfekter Kaffeezubereitung, in den inneren Zirkel der Kanzlei vorzustoßen und erhält dabei Unterstützung von der routinierten Praktikantin Alice, die kurz davor steht, eine der begehrten Festanstellungen zu erhalten.
Doch als John erfährt, dass Alice eine FBI-Agentin ist, in die er sich auch noch zu verlieben beginnt, gestaltet sich die Ausübung seines Auftrags zunehmend schwieriger …
„Wenn ihr diesen Beruf ergreift, dann versucht erst gar nicht, euch zu rechtfertigen. Ihr seid die Bösen, das ist eure Rolle. Ohne euch gäbe es keine Bezugsgröße für die Beurteilung der Guten. Wir sind das Yin. Die Zivilisten das Yang. Wenn ihr euch auf eure Rolle konzentriert und nicht von der Lebenswirklichkeit anderer beeinflussen lasst, werdet ihr bis ins Rentenalter von fünfundzwanzig Jahren überleben. Vielleicht bleibt euch eine Kugel im Kopf erspart, aber eure Seele werdet ihr nicht retten können.“ (S. 78) 
Mit „Töte deinen Chef“ legt der ehemalige Werbetexter und Creative Director Shane Kuhn seinen ersten Roman vor, der als „Leitfaden für Praktikanten“ aus der Perspektive des Hitmans John Lago aufgezogen ist. Der Plot ist zwar an konventionelle Auftragskiller-Geschichten angelehnt (bevor der Killer aus dem Geschäft aussteigen kann, muss er noch einen letzten Job erledigen, der natürlich viel komplizierter ist als alle anderen davor), stellt sich mit seiner durchgängigen humorvollen Sprache aber weniger als Thriller denn als Thriller-Komödie dar.
Die Ich-Erzählung wird dabei immer wieder von Abhörprotokollen des FBI aufgelockert, das offensichtlich auch ein Auge auf John Lagos Aktivitäten geworfen hat.
Shane Kuhn, der mittlerweile aus Drehbuchautor („The Scorpion King 3 - Kampf um den Thron“, „Dead In Tombstone“) und Regisseur tätig ist, gelingt es, seine wendungsreiche Story mit makabren Humor, rasanten Tempo und einer Portion unorthodoxer Romantik zu würzen und somit für ein kurzweiliges, durchaus filmreifes Lesevergnügen zu sorgen.
Leseprobe Shane Kuhn - "Töte deinen Chef"

Jim Thompson – „Fürchte den Donner“

Freitag, 1. Januar 2016

(Heyne, 460 S., Tb.)
Nachdem Lincoln Fargo in die Armee der Union nur deshalb eingetreten war, weil er dafür bezahlt wurde, ist er nach seiner Entlassung als Full Sergeant zu der Überzeugung gelangt, dass ein Mann nicht mehr Freiheit bekam, als er sich selbst erarbeitete. Er zog zurück nach Ohio, lernte bei einem seiner Maurerjobs die Dienstmagd auf der Farm kennen, heiratete sie und machte mit ihren Ersparnissen sein erstes eigenes Geschäft auf. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist er der Patriarch des Fargo-Clans im ländlichen Verdon, der es durch zwielichtige Geschäfte zu tausend Morgen besten Nebraska-Tieflands gebracht hat. Doch seine Herrschaft beginnt zu bröckeln, als seine Frau Pearl das Fargo-Vermögen einem Vertreter Gottes auf Erden vermacht, sein jüngster Sohn Grant sich mit seiner Cousine Bella vergnügt und seine Tochter Edie als Lehrerin mitansehen muss, wie einer ihrer polnischen Schüler von dem Bankangestellten Alfred Courtland fast zu Tode gepeitscht wird.
Währenddessen muss Sherman Fargo die Nachricht verarbeiten, dass er für seine hundertsechzig Morgen Land, auf der nur eine kleine Hypothek liegt, keinen neuen Kredit bekommt, um sich einen Mähdrescher kaufen zu können. Schließlich überschatten Verrat, Diebstahl, Krankheit und Tod das Schicksal des Fargo-Clans. Nach einer erschütternden ärztlichen Diagnose und Bellas Tod ist Lincoln am Ende seiner Kräfte.
„Er wünschte, es gäbe einen Weg, Grant zu hängen, ohne dass der Name Fargo beschmutzt würde. Hinter dem Schatten eines Zweifels wusste er, dass sein Sohn des Mordes schuldig war. Damit war auch sein letztes bisschen Stolz gestorben, und es gab nichts, womit er sich vormachen konnte, es wäre anders. Und jetzt war nur noch sehr wenig übrig, so furchtbar wenig von dieser überbordenden Handvoll Energie, mit der sein Leben einst begonnen hatte.“ (S. 339) 
Nur der allseits beliebte Rechtsanwalt Jeff Parker scheint seinen Weg zu gehen. Aus ärmlichen Verhältnissen kommend, wurde er von Rechtsanwalt Amos Ritten in seine Praxis aufgenommen und übernahm diese, als Ritten zum Richter des County gewählt worden war. Parker lässt sich zum Senator wählen und sich – bei großzügiger Anerkennung – für die Belange der Eisenbahn einspannen …
Vier Jahre nach seinem Debütroman „Jetzt und auf Erden“ erschien 1946 mit „Fürchte den Donner“ der zweite Roman von Jim Thompson, der zehn Jahre später mit Stanley Kubrick zusammenarbeiten sollte und dessen Werke anschließend von Filmemachern wie Sam Peckinpah („The Getaway“), Burt Kennedy („The Killer Inside Me“), Bertrand Tavernier („Coup de Torchon“) und Stephen Frears („The Grifters“) adaptiert worden sind.
„Fürchte den Donner“ liest sich wie ein klassischer Depressionsroman. Er schildert die Nöte der Farmer, die Ernten und das Vieh durchzubringen, ihre Abhängigkeit von den Banken, die kläglichen Versuche der Fargo-Söhne, jenseits der Arbeit auf der Farm in den Städten zu Geld zu kommen, wo sie aber ebenso schnell ersetzt wie schlecht bezahlt werden. Thompson thematisiert aber auch die Konflikte zwischen den Amerikanern und den Siedlern. Während die Deutschen und Skandinavier hoch geachtet waren, hatten die Amerikaner nur Spott und Abscheu für die sogenannten Hunkies und Rooshans, die Polen, Böhmischen und Russen, übrig.
Er schreibt von den Verlockungen des Geldes, der Verbreitung der Eisenbahn und dem beginnenden Straßenbau, von schmutzigen Körpern, verbotenen Gelüsten, Alkoholsucht und Geschlechtskrankheiten. Seine Figuren hoffen vergeblich auf Erlösung, sterben an Krankheiten, die sie ihrer Sünden zu verdanken haben, oder für Verbrechen, die andere begangen haben.  
Thompson beschreibt die Szenen der Gewalt, des Gestanks und des Drecks so plastisch, als wolle er die Leser an dem Leid, an den Wunden und den schmutzigen Umständen seiner Figuren teilhaben lassen. In seinem klugen Nachwort beschreibt Thomas Wörtche Thompson als „Vertreter einer Fundamentalopposition zu optimistischen Menschenbildern“. James Ellroy, einer seiner glühendsten Bewunderer, der auch für das Vorwort der deutschen Erstausgabe verantwortlich ist, beschreibt „Fürchte den Donner“ als Hybrid von Ma und Pa Kettle, Dostojewski und Steinbeck.
Es ist vor allem aber eins: ein grollendes Meisterwerk durch das dunkle Kapitel der amerikanischen Modernisierungs- und Siedlungsgeschichte, das niemanden unberührt lässt.
Leseprobe Jim Thompson - "Fürchte den Donner"

Karin Slaughter – „Cop Town – Stadt der Angst“

Donnerstag, 31. Dezember 2015

(Blanvalet, 544 S., Pb.)
Als die aus wohlhabenden niederländischen Verhältnissen stammende Kate Murphy im November 1974 ihren Dienst beim Police Department in Atlanta antritt, wird sie der erfahrenen Polizistin Maggie Lawson als Partnerin zugeteilt. Dabei lernt sie gleich die überaus rauen Sitten gerade unter den männlichen Kollegen kennen, die keinen Hehl aus ihrem Hass gegen Schwule, Juden und Schwarze machen und ihre weiblichen Kolleginnen mit ätzender Herablassung strafen. Doch momentan geht die Angst auch bei den männlichen Cops um, denn vor drei Monaten hat ein Killer angefangen, Streifenpolizisten in den frühen Morgenstunden im Innenstadtbezirk von Five Points regelrecht zu exekutieren.
Was den Ermittlern besondere Kopfschmerzen bereitet, ist die Tatsache, dass kaum Spuren zu finden waren, keine Zeugen, keine Patronenhülsen, keine Fingerabdrücke, schon mal gar keine Verdächtigen. Das jüngste Cop-Opfer ist ausgerechnet Don Wesley, der Partner von Maggies Bruder Jimmy. Jimmy selbst blieb von dem scheinbar überraschten Killer verschont, weil dessen Waffe eine Ladehemmung hatte. Als Kate und Maggie herausfinden, dass der Mord an Don wohl nicht so passiert sein kann, wie Jimmy es geschildert hat, machen sie sich mit Hilfe der Zivilbeamtin Gail auf die Suche nach Zeugen in dem als Hurenviertel bekannten Five Points und stoßen tatsächlich auf eine Zeugin.
Kate und Maggie finden heraus, dass der Atlanta Shooter, wie der Cop-Killer genannt wird, mit den Codes und Verhaltensweisen der Polizisten vertraut sein muss, doch mit der Weitergabe ihrer Informationen müssen die Frauen vorsichtig sein, denn Maggies Onkel Terry konnte in seinem Hass auf alle Minderheiten und die Verräter, die diese seiner Meinung nach zur Macht verholfen haben, alles Mögliche tun …
„Maggie musste wieder an Gails Vorschlag denken, den Fall gemeinsam zu bearbeiten. Es wäre für sie eine verdammte Herausforderung. Gail wusste genau, welche Knöpfe sie bei Maggie drücken musste. So schrecklich es auch klang – aber der Gedanke, bei der Aufklärung des Mordes an Don Wesley mitzuwirken, war durchaus aufregend. Doch dann war da noch eine andere Komponente … nämlich dass Maggie den Namen an Terry würde weitergeben müssen. Und damit würde sie Terry nicht nur einen Namen verraten. Sie würde das Schicksal des Verdächtigen besiegeln.“ (S. 89) 
Tatsächlich überschlagen sich die Ereignisse, als der Shooter für weitere Opfer verantwortlich ist und Maggie, Kate und Gail in lebensbedrohliche Situationen bringt. Doch die taffen Frauen denken gar nicht daran, ihren Teil der Jagd auf den Cop-Killer aufzugeben …
Abgesehen von der Novelle „Unverstanden“ (2009) ist „Cop Town“ erst der zweite Einzeltitel, den die amerikanische Thriller-Bestseller-Autorin Karin Slaughter jenseits ihrer überaus populären Reihen um die Rechtsmedizinerin Sara Linton, Polizeichef Jeffrey Tolliver und Ermittler Will Trent jetzt veröffentlicht. Dabei gelingt es ihr, den Leser bereits im Prolog zu fesseln, als Jimmy Lawson seinen schwer verletzten Kollegen ins Grady Hospital schleppt. Slaughter schafft es in der Folge ganz hervorragend, die Stimmung in der Cop Town Atlanta zu beschreiben, den abgrundtiefen Hass, den vor allem die Männer gegen jedwede Minderheiten hegen, die angespannten Beziehungen zwischen männlichen und weiblichen, weißen und schwarzen Kollegen im Police Department, das geheime Doppelleben, das die Männer führen, aber auch den starken Willen der Protagonistinnen, sich in dieser harten Männerwelt behaupten zu wollen.
Diese explosive Mischung aus Angst, Wut und Hass wird noch aufgeheizt durch einen Killer, der es ausgerechnet auf jene Männer abgesehen hat, die eigentlich dafür eingetreten sind, die Ordnung in diesem multikulturellen Chaos aufrechtzuerhalten.
Doch nach den präzisen Milieubeschreibungen und den emotionalen Wechselbädern, in denen vor allem Kate und Maggie baden, verliert Slaughter im letzten Drittel etwas den Schwung, der Plot verliert sich schon mal auf dem einen oder anderen Nebengleis. Zum Glück bekommt die Thriller-Queen zum Finale hin wieder die Kurve und schließt ein außergewöhnliches Werk ab, das fast mehr als gesellschaftspolitisches Dokument überzeugt denn als spannungsreicher Thriller. Leseprobe Karin Slaughter - "Cop Town"

Joe R. Lansdale – „Gluthitze“

Samstag, 26. Dezember 2015

(Suhrkamp, 390 S., Tb.)
Cason Statler hat den Irakkrieg zwar überstanden, trägt aber mittlerweile so viele Wunden mit sich herum, dass er in Selbstmitleid und Alkohol zu ertrinken droht. Da spendet auch eine Pulitzer-Nominierung wenig Trost, noch weniger die Tatsache, dass er erst die Frau seines Chefs, dann auch noch seine Stieftochter gebumst hat. Ohne Job und echte Perspektive kehrt Statler Houston den Rücken und zieht in seine Heimatstadt Camp Rapture zurück, wo er ein Vorstellungsgespräch beim Camp Rapture Report hat. Die charismatische Chefredakteurin Margot Timpson bietet ihm an, die Kolumne der ehemaligen Redakteurin Francine zu übernehmen.
Als er ihre Notizen durchstöbert, stößt Statler auf den Fall der dreiundzwanzigjährigen Geschichtsstudentin Caroline Allison, die vor sechs Monaten während einer Fahrt spät in der Nacht zu einem Taco Bell verschwunden ist. Ihr Wagen wurde zwar eine Woche später etwas außerhalb der Stadt in Bahnhofsnähe gefunden, doch weitere Spuren gab es nicht.
Kaum beginnt Statler den in Francines Computer hinterlegten Hinweisen zu folgen, erhält er von einem anonymen Absender einen Umschlag mit einer DVD, auf der sein Bruder Jimmy beim Verkehr mit Caroline zu sehen ist. Jimmy, der als verheirateter Geschichtsdozent an der High School lehrt, an der Caroline studiert hat, wird um 10.000 Dollar erpresst. Zwar können Cason und Jimmy die jungen Erpresser stellen, müssen aber feststellen, dass sie in einem viel komplexeren Spiel gefangen sind, in dem es um Sex, Intrigen, Mord und Rassenfragen geht.
„Die Fassade meiner Heimatstadt, die ich für real gehalten hatte, bekam Risse, und ich kam mir vor wie damals im Irak, als mir klar geworden war, dass ich allmählich den Verstand verlor. Ich hatte den Finger am Abzug eines Gewehrs und zielte auf einen Menschen, war kurz davor, ihn mit einer Patrone Kaliber .50 in zwei Hälften zu teilen. In diesen klaren Momenten, unmittelbar bevor ich das Projektil auf Reisen schickte, konnte ich all die Lügen durchschauen, die man mir von Würde und dem Streben nach Demokratie aufgetischt hatte, und dann erkannte ich, dass ich nichts war als eine lebende Schachfigur …“ (S. 215) 
Tatsächlich muss Cason seinen Bruder samt Familie in Sicherheit bringen, um zusammen mit seinem skrupellosen Kriegskumpel Booger auf die Jagd zu gehen. Denn natürlich befinden sich noch weitere DVDs im Umlauf, die die ebenso kluge wie bildschöne, aber auch extrem durchtriebene Caroline versteckt hält und die das gesellschaftliche Gefüge in Camp Rapture ordentlich durchrütteln würden …
Im ursprünglich 2008 veröffentlichten, dann unter dem Titel „Gauklersommer“ im Berliner Golkonda Verlag erstmals auf Deutsch erschienenen Roman „Gluthitze“ entwickelt der mehrfach ausgezeichnete Texaner Krimi-Star Joe R. Lansdale eine klassische Detektivgeschichte, in der ein einst gefeierter, mittlerweile recht heruntergekommener Reporter einem interessanten Vermisstenfall nachgeht.
Geschickt lässt Lansdale seinen angeschlagenen Protagonisten immer neue Informationen enthüllen, sei es mit Hilfe des schwarzen Zeitungsarchivars Oswald, der sich eigentlich Hoffnungen auf den Job gemacht hatte, den Cason nun eingenommen hat, sei es mit seiner Kollegin Belinda, mit der Cason schnell auch das Bett zu teilen beginnt.
Allmählich entfaltet sich das Psychogramm einer jungen Frau, die Edgar Allan Poe zu ihren Lieblingsautoren zählt, Spaß an Rätseln hat und keine Skrupel kennt, ihre Ziele auch mit Gewalt zu erreichen. Vor allem im Schlussdrittel nimmt der Roman deutlich an Fahrt auf und zeigt Lansdale einmal mehr in Topform, mit einem starken Gefühl für die richtige Atmosphäre und komplexe Figuren, mit einem ausgeprägten Sinn für einen zunehmend geheimnisvolleren Plot und eine pulsierende Spannung, die sich schließlich in einem echten Blutbad entlädt.
Leseprobe Joe R. Lansdale - "Gluthitze"

John Niven – „Gott bewahre“

Sonntag, 20. Dezember 2015

(Heyne, 400 S., HC)
Ein Tag im Himmel entspricht 57 Erdenjahren. Als Gott nach einem einwöchigen Angelurlaub an seinen Schreibtisch im Himmel zurückkehrt, bekommt er in seinem Büro eine endlos lange Trolley-Schlange mit einer Rückschau der letzten vierhundert Jahre auf Erden präsentiert. Bei der Durchsicht der Berge von Akten, CDs und DVDs muss er leider feststellen, dass es die Menschheit verbockt hat. Als Gott in den Urlaub ging, wurde in London gerade „King Lear“ uraufgeführt, El Greco malte an „Das fünfte Siegel der Apokalypse“, Galileo erblickte durch den Prototyp seines Teleskops erstmals die vier Mondtrabanten des Jupiter und Monteverdi hatte gerade die Komposition von „L’Orfeo“ vollendet. Nach seiner Rückkehr muss sich Gott durch Ordner wühlen, die mit Überschriften wie „18. Jahrhundert: Sklavenhandel“, „Katholische Kirche: Neuzeit“ und „Islamischer Fundamentalismus: Überzeugungen und Bräuche“ betitelt sind.
Also ruft er seinen aus Petrus, Matthäus, Andreas und Johannes bestehenden Krisenstab zusammen, lässt sich über die katastrophalen Entwicklungen der letzten vier Jahrhunderte Bericht erstatten und nimmt mit seinem Sohn Jesus den Fahrstuhl zur Hölle, um Satan zu besuchen. Der ist ganz zufrieden, dass es „da oben“ gar nicht besser für ihn laufen könnte, mit all den Reality-Shows im Fernsehen, mit den aufgeblasenen Egos, die nichts mehr lernen, sondern nur noch berühmt werden wollen. Gott sieht nur noch eine Möglichkeit, die Dinge wieder in den Griff zu bekommen: Er schickt seinen Sohn Jesus Christus wieder auf die Erde, wo er 1979 von einer ahnungslosen Jungfrau zur Welt gebracht wird und 31 Jahre später in New York City landet, wo er alles dafür tut, Obdachlosen und Bettlern zu helfen.
Allerdings muss er bald feststellen, dass das christliche Motto „Seid lieb“ hier unten nicht mehr viel zählt. Die einzige Möglichkeit, sich Gehör zu verschaffen, sehen JC und seine Mitstreiter in der Casting-Show „American Pop Star“. JC erweist sich als charismatischer Gitarrist und Sänger, schließlich hat er im Himmel lange genug mit Jimi Hendrix gejammt. Doch kaum hat JC die erste Casting-Hürde und damit auch die Auseinandersetzung mit Programm-Chef Steven Stelfox hinter sich, ist er sich überhaupt nicht mehr sicher, ob das so ein guter Plan ist, seine Botschaft auf diese Weise zu erneuern.
„Es sah ganz so aus, als ob sich Amerika zwar grundsätzlich für Talent interessierte, sich jedoch eigentlich viel mehr für sabbernde, total aus dem wahren Leben gegriffene, absolut durchgeknallte Oberirre der Kategorie Schließt-sie-weg-und-pumpt-sie-mit-Chlorpromazin-voll begeisterte. Je mehr davon, desto besser.“ (S. 116) 
JC und seine Truppe versetzen das Flugticket nach Los Angeles, kaufen einen alten Greyhound-Bus und machen sich auf einen abenteuerlichen Trip, der sie auch auf eine heruntergekommene Farm in Texas führt …
Der ehemalige schottische A&R-Manager John Niven hat seine Erfahrungen in der Musikindustrie auf bissige Weise in seinem Debütroman „Music from Big Pink“ verarbeitet. Auch in den nachfolgenden Werken „Kill Your Friends“ und „Coma“ hat es Niven verstanden, sowohl die Musikbranche als auch den Sport mit satirischer Würze zu thematisieren.
In „Gott bewahre“ kehrt Steven Stelfox aus „Kill Your Friends“ auf die Bühne zurück, diesmal nicht als A&R-Manager, sondern als Casting-Show-Produzent. Doch die Hauptfigur in Nivens 2011 veröffentlichten Roman ist kein Geringerer als Jesus Christus, der auf die Erde zurückgeschickt wird, um noch einmal das Leiden durchzumachen, das ihn schon einmal ans Kreuz gebracht hat.
Niven lässt in seiner bitterbösen Gesamtschau des menschlichen Versagens niemanden verschonen. Vor allem die religiösen Fanatiker bekommen ihr Fett weg, aber eben auch die Medienproduzenten, die amerikanischen Strafverfolgungsbehörden und diverse Prominente, die in der Hölle anal vergewaltigt werden (wie der Ku-Klux-Klan-Mitbegründer George Washington Gordon) oder Dienst als Satans Kellner (wie Ronald Reagan) verrichten müssen. Gottesfürchtige Christen (und andere Anhänger diverser Religionen) dürften an dem extrem blasphemischen Buch wenig Freude haben, aber bei aller schwarzhumoriger Bissigkeit trifft Niven natürlich auch den Kern der Sache, wenn er Jesus vermeintlich gutgläubigen Christen, die gegen Homosexuelle, Abtreibungsbefürworter und AIDS-Kranke wettern, ihre christliche Gesinnung abspricht. Ebenso amüsant ist Nivens Abrechnung mit dem kranken Zirkus, dem sich leider nicht nur in Amerika diverse Casting-Shows verschrieben haben. Auch hier bringt der Autor klar auf den Punkt, was er von diesem kurzlebigen, billig produzierten Massenspektakel hält. Wie „Gott bewahre“ endet, muss niemandem gesagt werden, der sich ein wenig in der Lebensgeschichte von Gottes Sohn auskennt.
Leseprobe John Niven "Gott bewahre"

John Grisham – (Theo Boone: 5) „Theo Boone und der entflohene Mörder“

Samstag, 19. Dezember 2015

(Heyne, 255 S., HC)
Vor der Middleschool in der 75.000-Einwohner-Stadt Strattenburg herrscht helle Aufregung. Schließlich steht die Klassenfahrt der Achten an. Mit vier langen Reisebussen werden die Schüler sechs Stunden lang nach Washington gefahren, wo sie sich dreieinhalb Tage lang die Sehenswürdigkeiten der Stadt ansehen. Für den dreizehnjährigen Theodore Boone bedeutet dieser Ausflug ein überraschendes Wiedersehen mit dem des Mordes an seiner Frau angeklagten Pete Duffy, der während seines Prozesses aber geflüchtet und untergetaucht ist.
Theo hat Duffy die Gerichtsverhandlung verfolgt und erkennt Duffy trotz seiner Verkleidung am seinem Gang wieder. Er lässt seinen Onkel Ike nach Washington kommen, der früher mit seinen Eltern als Rechtsanwalt praktizierte und sich nun weitaus weniger ambitioniert als Steuerberater durchs Leben schlägt, und findet mit ihm heraus, wo Duffy zurzeit wohnt.
Zurück in Strattenburg informiert Ike das FBI, das sich mit Theos Hilfe erneut auf die Suche nach Duffy macht, der offensichtlich mitbekommen hat, dass er aufgeflogen ist. Aber wenn Duffy erneut der Prozess gemacht werden soll, muss auch der 19-jährige illegale Einwanderer Bobby Escobar aussagen, der Duffy damals gesehen hat, als er vom Golfplatz zu seinem Haus fuhr, um seine Frau umzubringen.
Theo ist sich unsicher, inwieweit er seine Eltern informieren soll, die in Rechtsfragen grundsätzlich gegenteilige Meinungen vertreten.
„Wieder würde der Duffy-Zirkus die ganze Stadt beherrschen, und damit wuchs die Gefahr, dass zwielichtige Gestalten auf ihn aufmerksam wurden. Wenn irgendwie durchsickerte, dass Theo und Ike für Duffys Festnahme verantwortlich waren, konnte es brenzlig werden. Und Bobby Escobar konnte jederzeit untertauchen.“ (S. 102) 
Seit seinem erfolgreichen Debütroman „Die Jury“ ist der ehemalige Anwalt John Grisham zum Inbegriff des Justiz-Thrillers geworden, der mit packenden Geschichten um spektakuläre und außergewöhnliche Gerichtsfälle und einer einfachen Prosa weltweit Millionen von Lesern zu begeistert versteht. Mittlerweile hat Grisham auch das junge Publikum für sich entdeckt und mit dem Theo Boone einen charismatischen, aufgeweckten Teenager-Jungen kreiert, der ganz in die Fußstapfen seiner Eltern zu treten scheint.
Mit „Theo Boone und der entflohene Mörder“ greift Grisham die Geschichte auf, die er mit dem Theo-Boone-Debüt „Theo Boone und der unsichtbare Zeuge“ offensichtlich noch nicht zu Ende erzählt hat. Der Autor versteht es zwar souverän, seinem (nicht nur) jungen Publikum eine an sich interessante Story zu präsentieren und die juristischen Regeln und Prozesse anschaulich darzustellen. Aber der Plot wirkt wie am Reißbrett konstruiert und ist extrem vorhersehbar ausgefallen, so dass echte Spannung nie wirklich aufkommt.
Davon abgesehen könnte sich Grisham aber durchaus mehr Mühe bei der Charakterisierung seiner Figuren geben. Vor allem Theos Eltern bleiben im fünften Theo-Boone-Fall sehr blass. Bleibt zu hoffen, dass sich Grisham nach dem schwächsten seiner Theo-Boone-Bücher beim nächsten Band wieder mehr Mühe gibt.
Leseprobe John Grisham - "Theo Boone und der entflohene Mörder"

Karl Bruckmaier – „The Story Of Pop“

Donnerstag, 17. Dezember 2015

(Heyne, 318 S., Pb.)
Über das Phänomen Pop-Musik ist schon viel geredet, geschrieben und diskutiert worden. Bei Wikipedia heißt es dazu einleitend: „Popmusik bezeichnet eine Musikform, die vorwiegend seit 1955 aus dem Rock ’n’ Roll, der Beatmusik und dem Folk entstand und von Musikgruppen aus dem angloamerikanischen Raum wie den Beatles fortgeführt und popularisiert wurde. Sie gilt seit den 1960er Jahren als international etablierte Variante afroamerikanischer Musik, die im Kontext jugendlicher Subkulturen entstand, elektroakustisch aufbereitet und massenmedial verbreitet wird.“ Dieser Musikform nähert sich der Münchner Karl Bruckmaier in seiner Abhandlung „The Story Of Pop“ auf sehr persönliche Weise. Schließlich moderiert Bruckmaier seit Ende der 70er Jahre verschiedene musikjournalistische Sendungen im Bayrischen Rundfunk, schreibt seit 1981 Pop-Kritiken für die Süddeutsche Zeitung und hat 1999 im C.H. Beck Verlag mit „Soundcheck. Die 101 wichtigsten Platten der Popgeschichte“ bereits seine Meilensteine der Popmusik zusammengetragen.
Mit „The Story Of Pop“ – 2014 im Hamburger Murmann Verlag erstmals veröffentlicht – liegt nun die vollständige Taschenbuchausgabe einer Aneinanderreihung von Anekdoten und Biografien vor, die keinesfalls eine reine Faktensammlung darstellt, sondern einen sehr eigenwilligen Streifzug durch die Popgeschichte. Dass er seine Zeitreise im beginnenden 11. Jahrhundert im Mittleren Osten bei Ziryab, dem Herrn über zehntausend Lieder, der aus Bagdad neue Klänge nach Europa brachte, beginnt und über das Verhältnis von Sklavenhaltern und Sklaven bis zu den „work songs“ führt, sorgt für einen recht sperrigen Beginn, der aber deutlich macht, dass Bruckmaier nicht an einer kontinuierlichen Aufarbeitung von Geschichte geht, sondern an der Erzählung prägnanter Wegpunkte. Interessant wird die „Story Of Pop“, als der Autor das neunte Kapitel mit New Orleans aufschlägt, wo im Jahr 1800 der Pop seinen Anfang nimmt. In diesem Schmelztiegel afroamerikanischer Kulturen und Religionen werden die Wurzeln gelegt für die spätere Erfindung des Grammophons und der damit einhergehenden Popularisierung von Musik.
Die Reise führt den Leser weiter zum Country und zur Notwendigkeit, dass Pop die Maschine braucht.
„Pop gewinnt eine sozialpsychologische Dimension. Das Grammophon wird zum Dechiffriergerät der Moderne. Was für die ältere Generation ‚krank, vulgär und außer Kontrolle geraten‘ scheint, macht für die immer zahlreicher werdenden jungen Männer Sinn, die sich hier um den Schalltrichter scharen, und zwar nicht, um wie ein Flapper mit Identitäten zu spielen, sondern um in bester Jungs-Tradition den ewigen Fragen nachzulauschen: Wer bin ich und wie komme ich an Mädchen ran? Oder um eine Band zu gründen.“ (S. 159) 
Was folgt, sind vor allem Geschichten von zumeist interessanten Einzelschicksalen, die nur den wenigsten Musikliebhabern bekannt sein dürften, vor allem in ihrer jeweiligen Bedeutung für die Popgeschichte. So stellt „The Story Of Pop“ ein höchst unterhaltsames, oft humorvolles, aber stets informatives Sammelsurium von Zitaten, Biografien und Episoden dar, das in seiner Gesamtschau durchaus vermittelt, wie Pop aus seinen afroamerikanischen Wurzeln zu einem Phänomen heranwuchs, das sich jugendliche Subkulturen angeeignet haben, bis es als Massenbewegung zu einem Markenzeichen für eine ganze Generation wurde.
Bruckmaier erweist sich in seinem Buch als fundierter Kenner der Materie, der sich zum Glück nicht darauf einlässt, Schlüsselszenen der Popgeschichte herunterzuleiern. Stattdessen macht er die Entwicklung von wegweisenden Musikstilen immer an einzelnen Personen fest, so dass sich das Buch immer wieder wie eine Sammlung außergewöhnlicher Biografien liest, wobei aber auch immer die gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen und kulturellen Befindlichkeiten berücksichtigt werden. Darin finden zwar auch die Rolling Stones, die Beatles, Bob Dylan, Elvis und Hip-Hop ihren Platz, aber wohl anders, als viele Leser das erwarten.
So gibt es viel Neues und Ungewöhnliches in „The Story Of Pop“ auch für jene zu entdecken, die sich bereits gut auszukennen meinen im Pop.
Leseprobe Karl Bruckmaier - "The Story Of Pop"

John Niven – „Old School“

Sonntag, 13. Dezember 2015

(Heyne, 400 S., HC)
Als Frau eines gut verdienenden Wirtschaftsprüfers ist es der fast sechzigjährigen Susan Frobisher im südenglischen Dorf Dorset vergönnt, sich ganz ihrem Hobby zu widmen. Bei der Laien-Schauspieltruppe Wroxham Players ist sie seit drei Jahren mit Leidenschaft für die Kostüme und die Requisiten zuständig. Ihr Mann Barry, mit dem sie dieses Jahr ihren fünfunddreißigsten Hochzeitstag feiert, hat für die Experimente, die Susan in der Küche bei der Herstellung von Kunstblut anstellt, ebenso wenig Verständnis wie für ihre Leidenschaft für Horrorfilme.
Susans Schulfreundin Julie Wickham hat ihre besten Zeiten längst hinter sich. Nachdem sie in ihrer Jugend in Europa, Australien und Amerika gelebt hatte, nach ihrer Heimkehr erst einen Friseursalon und dann zwei Boutiquen eröffnete, verschwand ihr damaliger Liebhaber Tom mit dem Firmenscheckbuch. Steuerprobleme und Umsatzeinbrüche haben dazu geführt, dass Julie in einer Sozialwohnung lebt und als Aushilfe in einem Pflegeheim arbeitet, wo sie unter anderem die 87-jährige Ethel Merriman betreut, eine ehemalige Revue-Tänzerin, die jetzt zwar an den Rollstuhl gefesselt ist, aber nichts von ihrem derben Humor eingebüßt hat.
Ganz andere Probleme hat die 67-jährige Jill Worth. Ihr fünfjähriger Enkel Jamie leidet unter dem De-Havilland-Syndrom, das das Lungengewebe des Jungen rasend schnell zersetzt. Für eine lebensrettende Operation am St. Michael’s in Chicago müsste die Witwe 60.000 Pfund auftreiben. Der eintönige wie beschwerliche Alltag der vier Freundinnen wird auf den Kopf gestellt, als Susans Ehemann in einer unbekannten Wohnung tot aufgefunden wird. Offensichtlich erlitt er einen Herzinfarkt, als ihm ein übergroßer Dildo in den Hintern gerammt wurde. Auf einmal sieht sich Susan mit dem geheimen Doppelleben ihres Mannes und einem riesengroßen Schuldenberg konfrontiert. Die Lösung all ihrer Probleme sehen die Damen in einem Banküberfall.
Obwohl der Coup glückt und die Ladys einen Kontakt in Marseille haben, der ihnen gefälschte Pässe besorgen kann, sind den Neumillionärinnen der übereifrige Detective Sergeant Hugh Boscombe und sein junger Kollege Detective Constable Alan Wesley dicht auf den Fersen. Doch die Frauen genießen ihr neues Abenteuer zunächst in vollen Zügen.
„Es war etwas, was sie tun konnten. Etwas, das in ihrer Macht lag. Etwas, wozu mehr gehörte, als bloß auf seinem Altenteil zu hocken, während das Leben einen Kübel Gülle nach dem anderen über einen ausleerte. Weil Sechzig das neue Vierzig war und all dieser Mist. Denn wie Susan schon gesagt hatte: Ein halbwegs vernünftiger Rechtsanwalt, um zu belegen, dass sie unzurechnungsfähig waren, und sie würden höchstens ein paar Jahre im offenen Strafvollzug bekommen. Es wäre fast wie Urlaub.“ (S. 105) 
Als Musikmanager hat der schottische Autor John Niven bereits eine bewegte Vergangenheit hinter sich, die er 2005 in seinem Debütroman „Music from Big Pink“ verarbeitet hat. Seither stößt Niven mit Bestsellern wie „Coma“, „Gott bewahre“ und „Kill your Friends“ regelmäßig an die Grenzen des guten Geschmacks. Davon lebt auch „Old School“, in der Niven erstmals Frauen in den Mittelpunkt stellt, die sich gegen ein System auflehnen, das die Reichen und Korrupten schützt und unverschuldet in Not geratene Menschen in den Abgrund stürzen lässt. Wenn Niven Susans langweiligen, aber gut situierten Buchhalter Barry durch einen Dildo im Hintern hinrichtet und den eifrigen Detective Boscombe an extremen Durchfall leiden lässt, ist das nicht nur als derber Humor zu verstehen, sondern auch als zynischer Kommentar auf die Macht- und Geldgier von Managern und Politikern. Davon abgesehen ist „Old School“ ein herrlich überdrehtes und groteskes Road Movie mit sympathischen Frauen-Figuren, die auch jenseits der Sechzig das Leben in vollen Zügen zu genießen verstehen.
Leseprobe John Niven "Old School"

David Morrell – (Thomas De Quincey: 1) „Der Opiummörder“

Montag, 7. Dezember 2015

(Knaur, 524 S., Tb.)
Mit fast drei Millionen Einwohnern ist London im Jahr 1854 die größte Stadt der Welt. Entsprechend groß ist die Aufregung und Angst, als ein Mörder den Besitzer eines Ladens, dessen Frau und die beiden Töchter grausam abschlachtet. Der vierzigjährige Detective Inspector Sean Ryan und sein junger Constable Joseph Becker übernehmen die Ermittlungen und stellen anhand der Fußabdrücke und eines wenig später gefundenen Rasiermessers fest, dass der Täter aus gut betuchten Kreisen stammen muss.
Commissioner Mayne sieht sofort Parallelen zu den Morden von Ratcliffe Highway, die London im Dezember 1811 erschütterten. Der Klöpfel eines Schiffszimmermanns mit den Initialen J.P. ist nämlich auch bei den aktuellen Morden am Tatort aufgetaucht.
Als Täter wurde damals der junge Seemann John Williams ausgemacht, der sich allerdings im Gefängnis erhängt hat. Für die neuen Morde hat der einflussreiche Lord Palmerston auch schon einen Verdächtigen: den skandalumwitterten Sensationsautoren Thomas De Quincey, der nicht nur seine Opiumsucht öffentlich gemacht hat, sondern sich mit seinem Aufsatz „Der Mord als eine schöne Kunst betrachtet“ als Experte für diese Art von Mehrfachmorden ausgewiesen hat.
Während Palmerston De Quincey ins Gefängnis sperrt, um die Bevölkerung zu beruhigen, machen sich Ryan, Becker mit De Quinceys Hilfe auf die Suche nach dem wirklichen Täter …
„Die Nachricht von den Morden hatte sich unverkennbar selbst hier, am südlichen Ufer der Themse und weit entfernt vom Ratcliffe Highway, auf die Stimmung der Menschen ausgewirkt. Die Fußgänger bewegten sich nicht mehr gemächlich voran. Die Mienen waren nachdenklich und wachsam. Ein Mann, der Bratkartoffeln von einem Karren verkaufte, machte den Eindruck, als misstraute er jedem, der sich ihm näherte, aus Angst, von einem Kunden angegriffen zu werden. Becker hatte die Erlaubnis erhalten, seine Uniform gegen Zivilkleidung auszutauschen, damit er weniger Aufmerksamkeit erregte. Es war ein weiterer Schritt hin zu seinem Ziel, Polizeidetektiv zu werden, aber jetzt wünschte er sich, es sei unter anderen Umständen geschehen.“ (S. 159) 
Die Spuren führen schließlich nach Indien, wo das britische Königreich massiv seine Hände im Opiumschmuggel hat …
Der promovierte Literaturwissenschaftler David Morrell ist mit seinen „Rambo“-Romanen zu einem international anerkannten Spannungsautoren avanciert, der mit „Der Opiummörder“ für sich neues Terrain erobert. Inspiriert von Jon Amiels Darwin-Biopic „Creation“ hat sich Morrell zwei Jahre lang intensiv mit den historischen Fakten auseinandergesetzt, die das Leben in London in der Mitte des 19. Jahrhunderts geprägt haben – vor allem hat er sich intensiv die Schriften von Thomas De Quincey zu Gemüte geführt, die nicht nur Wegbereiter für Freuds Theorien des Unterbewussten waren, sondern auch zur Erfindung des Detektivromans geführt haben.
„Der Opiummörder“ ist nicht nur spannend geschrieben, sondern führt dem Leser das London jener Zeit ganz lebendig vor Augen. Morrell gelingt es, in der meisterhaft konstruierten Atmosphäre starke Figuren zusammenzuführen, wobei wechselnde Erzählperspektiven für zusätzliche Abwechslung in einem ohnehin sehr kurzweiligen und packenden historischen Thriller in bester Jack-the-Ripper-Tradition sorgen.
Leseprobe David Morrell - "Der Opiummörder"

Adam Davies – „Goodbye Lemon“

Sonntag, 29. November 2015

(Diogenes, 345 S., HC)
Dexter Tennant war gerade mal sechs Jahre alt, als er im Lake George ertrunken ist, wofür Jack, Dexters älterer Bruder, sein Leben lang ihren gemeinsamen Vater, Colonel Gil Tennant, verantwortlich gemacht hat, weil dieser statt auf Dex aufzupassen lieber seinem täglichen Whiskey-Konsum frönte. Folglich brach Jack vor fünfzehn Jahren mit seiner Familie und zog nach Georgia, wo er nach zwei Studienabschlüssen an einer drittklassigen Provinzuni als Dozent für Amerikanische Literatur arbeitet und eine glückliche Beziehung mit Hahva Finn unterhält.
Die Nachricht, dass Vater Tennant einen heftigen Schlaganfall erlitten hat und nun unter dem seltenen Locked-in-Syndrom leidet, was ihn quasi bewegungsunfähig macht, lässt Jack nach Hause zurückkehren, obwohl er einen tiefen Hass seinem Vater gegenüber empfindet. Schließlich hat dieser nicht verhindern können, dass der geliebte Dexter ertrunken ist, sondern – so Jack – auch das Leben seines älteren Bruders Pressman und Jacks Traum von der Karriere als Konzertpianist zerstört. Und nun soll ausgerechnet Jack seinen Vater pflegen …
„Alle anderen schlafen, und hier bin ich, allein mit meinem aufgezogenen Vater. Er sieht mich an. Ich sehe ihn an. Und mir wird etwas klar: Mein Vater ist nicht mehr der Herr des Schweigens in diesem Haus, sondern ihr Opfer. Er stürzt jetzt auf das Große Schweigen, das Ewige Schweigen zu, während ich hier so lange sitzen kann, wie ich will. Ich kann reden oder nicht. Ich kann die Wortlosigkeit verordnen. Er kann das Zimmer nicht verlassen. Er kann mich nicht ignorieren. Er kann nicht verweigern, widersprechen, fortschicken, verschmähen oder vorenthalten.“ (S. 136) 
Allerdings muss Jack nach seiner erzwungenen Rückkehr in sein Elternhaus auch feststellen, dass er seinen Vater nie richtig kennengelernt hat. Hahva hält es nicht mehr aus, wie sich Jack in seinem ehemaligen Zuhause aufführt, und reist wütend ab. Jack versucht derweil, über seinen Kumpel sein altes Auto zu verkaufen, um für Hahva einen kleinen Verlobungsring kaufen zu können. Und immer wieder hängt ihm sein Bruder Press in den Ohren, dass die Pflege ihres Vaters ihr Erbe auffrisst, dass es nur gerecht wäre, Vater von seinem Dasein zu erlösen, doch eher scheint sich Jack selbst in die ewigen Jagdgründe schicken zu wollen …
Der in Louisville, Kentucky geborene und als Dozent für Englische Literatur an der University of Georgia und am Savannah College of Art & Design tätige Adam Davies hat mit „Goodbye Lemon“ einen wunderbar leichtfüßigen wie humorvollen, dabei aber auch tief berührenden und vielschichtigen Roman über das Schweigen und die daraus resultierenden Missverständnisse geschrieben. Es ist aber auch eine Geschichte über das Erinnern und Vergessen, über Schuld und Vergebung, um die Sprach- und Verständnisbarrieren zwischen Eltern und Kindern, aber auch zwischen Liebenden, und schließlich ist es ein Roman über den Mut, das Leben in die eigene Hand zu nehmen.
Leseprobe Adam Davies - "Goodbye Lemon"

James Lee Burke – (Billy Bob Holland: 2) „Feuerregen“

Freitag, 27. November 2015

(Edel:eBooks, 355 S., eBook)
Billy Bob Holland, einst Cop bei den Texas Rangers und Staatsanwalt beim Justizministerium, hat sich in Deaf Smith, einer Stadt im Bergland von Texas, als Rechtsanwalt niedergelassen und nimmt sich in der Regel der Fälle der weniger Privilegierten an. Als er die Interessen von Earl Deitrich in einer Immobiliensache vertreten soll, lehnt Holland nicht nur deshalb ab, weil Deitrich ihm einst Peggy Jean Murphy, die Holland seine Unschuld genommen hatte, ausspannte, sondern weil die Art von Reichtum, die Deitrich repräsentierte, und die Art, wie er ihn den Leuten in seiner Umgebung wie einen Spiegel ihrer Unzulänglichkeit vorhielt, niemand wirklich mag.
Schließlich beschuldigt Deitrich seinen Angestellten Wilbur Pickett, seine Uhr gestohlen und zudem Wertpapiere im Wert von 300.000 Dollar aus seinem Safe entwendet zu haben.
Als Holland und die Privatdetektivin Temple Carrol ihre Ermittlungen aufnehmen, führen die Spuren unter anderem zu den Purple Hearts, einer Gang, die in den 60er Jahren in East L.A. beheimat war und nun unter Führung des Latinos Cholo Ramirez in San Antonio reiche Typen beim Kartenspiel ausnehmen. Aber es geht auch um eine Familienfehde zwischen den Deitrichs und Picketts, die auf einen Streit um ein Ölvorkommen auf dem Land der Picketts zurückreicht, sowie um Deitrichs Sohn Jerry, der meint, sich durch seine vornehme Herkunft alles erlauben zu können.
„Jeff Deitrich hatte gegen seinen Vater rebelliert, er hatte eine junge Mexikanerin geheiratet und auf einem Ölbohrturm seinen Mann stehen wollen. Aber er hatte schnell begriffen, dass ihm keine Strafe drohte, wenn er den Verlockungen nachgab, die ihm sein Vater bot, dass er vielmehr gefeiert wurde wie der verlorene Sohn und dass es Unsinn gewesen war, mit Leuten wetteifern zu wollen, die ihm insgeheim all den Reichtum neideten, der ihm von Rechts wegen zustand.“ (Pos. 2647) 
Mit Wilburs blinder Frau Kippy Jo, die dem Eindringling Bubba Grimes in jedes Auge gezielt eine Revolverkugel gejagt hat, und dem missgestalteten Kindermörder Skyler Doolittle, der behauptet, Deitrichs Uhr, die Wilbur gestohlen haben soll, gehöre eigentlich ihm, hat Holland bald weitere Klienten an der Hand, die in einem immer vielschichtigeren Fall münden, in dem es immer mehr Tote und Verdächtige zu geben scheint …
Auch in seinem zweiten Fall wird Billy Bob Holland immer wieder von den Dämonen seiner Vergangenheit heimgesucht, zu denen nicht nur sein alter Freund L.Q. Navarro zählt, für dessen Tod Holland sich nach wie vor verantwortlich macht und der ihm immer wieder wie ein Geist erscheint, um ihm vermeintlich gute Ratschläge zu erteilen, sondern auch Deitrichs Frau Peggy Jean, die nach wie vor Gefühle für Holland hegt.
Vor allem geht es aber auch die ewige Kluft zwischen Arm und Reich und die wie selbstverständliche Korruption und Macht, mit der die Reichen das Recht für sich beanspruchen.
„Feuerregen“ begeistert wie alle Werke von James Lee Burke durch die höchst ambivalent gezeichneten Figuren, die tiefgründige Auseinandersetzung mit moralischen Fragen der Gerechtigkeit und ewigen Themen wie Liebe, Schuld, Vergebung, Sünde und Tod. All dies vereint Burke in einem packenden Thriller, in dem Schlussfolgerungen durch neue Ereignisse, Zeugen und Informationen wieder und wieder über den Haufen geworfen werden und zu neuen Erkenntnissen führen.
Leseprobe James Lee Burke - "Feuerregen"

James Lee Burke – (Billy Bob Holland: 1) „Dunkler Strom“

Donnerstag, 26. November 2015

(Edel:eBooks, 349 S., eBook)
Vernon Smothers, der vierzig Hektar des Landes von Rechtsanwalt Billy Bob Holland außerhalb von Deaf Smith auf Pachtbasis bewirtschaftet, beauftragt Holland damit, seinen 19-jährigen Sohn Lucas aus dem Gefängnis zu holen. Er soll das Mädchen Roseanne Hazlitt geschlagen und vergewaltigt haben, doch der Junge behauptet, betrunken gewesen zu sein und sich an nichts erinnern zu können. Außerdem seien da noch andere Jungs gewesen, mit denen Roseanne zu tun hatte.
Das Mädchen erliegt wenig später ihren Verletzungen im Krankenhaus, und Lucas muss sich auch wegen Totschlags vor Gericht verantworten. Als Holland und Deputy Sheriff Mary Beth Sweeney die Ermittlungen aufnehmen, drängt die Zeit, denn der Gefängnisschließer Harley Sweet ist für seine schikanöse Art, mit den Gefangenen umzugehen, bekannt. Dieser wird allerdings eines Tages von dem Insassen Jimmy Cole erdrosselt, der unerkannt aus dem Gefängnis spazieren kann und die Zeugin ermordet, die seinen Zellennachbarn Garland T. Moon belastet hat.
Nun muss auch Lucas um sein Leben bangen, denn er kann mit seiner Aussage Moon ebenfalls schaden. Und Holland als Lucas‘ Anwalt kann sich seines Lebens auch nicht mehr sicher sein …
„Moon hatte gesagt, manche Menschen seien von Geburt an anders. Hatte er damit nur sich gemeint, oder bezog sich das auch auf Menschen wie mich und Urgroßpapa Sam? Oder Darl Vanzandt?“ (Pos. 2221) 
Billy Bob Holland muss feststellen, wie verzwickt sich der Fall gestaltet. Da spielen nicht nur die Differenzen zwischen Arm und Reich eine Rolle und die Angelegenheiten der DEA, sondern ganz persönliche Verwicklungen, die bis in die Geschichte von Billy Bob Hollands Vorfahren zurückreichen.
Nach seiner Kultfigur Dave Robicheaux hat der amerikanische Schriftsteller James Lee Burke mit Billy Bob Holland einen weiteren charismatischen Protagonisten kreiert, der wie Robicheaux als Polizist angefangen hat, aber nicht in Mississippi, sondern in Texas sein Amt ausführt und mittlerweile als Rechtsanwalt praktiziert. Und wie Robicheaux hat Holland eine bewegte Vergangenheit mit einem gewalttätigen Vater und Großvater im Stammbaum und seinem Kollegen L.Q. Navarro in der schmerzlichen Erinnerung, dass er für dessen Tod verantwortlich gewesen ist.
Außerdem hat er seinem Pächter Vernon in Houston die Frau ausgespannt, bis er sie zurückholte und Holland sie nie wieder zu Gesicht bekam. Aus diesem Gerüst hat Burke einen faszinierenden Thriller kreiert, der nur stellenweise einen Justiz-Thriller darstellt, vor allem aber eine differenzierte Milieustudie mit einem vielschichtigen Plot und undurchschaubaren wie faszinierenden Figuren.
Leseprobe James Lee Burke - "Dunkler Strom"

Graham Masterton – „Grauer Teufel“

Dienstag, 24. November 2015

(Festa, 414 S., Pb.)
Jerry Maitland ist gerade zum Teilhaber bei Shockoe Immobilien befördert worden und hat mit seiner schwangeren Frau Alison ein großes, schmales Haus im historischen Church-Hill-Viertel von Richmond bezogen, als das zunächst Jerry auf unerklärliche Weise schwer verletzt wird und Alison gerade, als sie den Notruf alarmiert, mit einer Art Schwert zerstückelt wird.
Als Lieutenant Decker Martin und sein junger Kollege Hicks die Ermittlungen aufnehmen, will niemand einen Täter gesehen haben. Auch lassen sich in dem Blutbad überhaupt keine Beweise finden, weder die Tatwaffe noch Fußspuren oder Fingerabdrücke.
Allein das unter dem Downsyndrom leidende Mädchen Sandra konnte mit ihrer besonderen Gabe einen ganz in Grau gekleideten Mann in einem schweren Mantel mit Flügeln und einem Schwert sehen, von dem sie einen Tag später eine erstaunlich akkurate Zeichnung abliefert.
Wenig später häufen sich die Todesfälle, die auf scheinbar unsichtbare Täter hinweisen. Davon abgesehen gibt es keine offensichtlichen Verbindungen zwischen den Morden.
Allerdings scheint die legendäre Teufelsbrigade, die im Bürgerkrieg eine Schlacht entschieden hat, im Stammbaum der Toten eine Rolle gespielt zu haben. Und als Decker seine vor zwei Jahren verstorbene Freundin Cathy immer wieder zu sehen beginnt und dabei der Name der heiligen Barbara auftaucht, beginnt der zunächst skeptische Lieutenant auch an den Einfluss der Santería-Religion zu glauben.
„Vor seinem geistigen Auge sah Decker Cathys Kopf wieder und wieder explodieren. Die Vorstellung, dass sie diese Szene in einer Endlosschleife ertragen musste, war mehr, als er ertragen konnte. Er hatte inzwischen genug gesehen und gehört, um daran zu glauben, dass es so etwas wie ein Leben nach dem Tod tatsächlich gab. Die Geister der Verstorbenen wandelten weiterhin über die Erde, auch wenn sie sich nur in bestimmten Momenten zu erkennen gaben.“ (S. 215) 
Decker bekommt von mehreren Seiten die Warnung zu hören, dass sich die heilige Barbara an ihm rächen will, und setzt den Santero Moses Adebolu darauf an, einen Gegenzauber zu erwirken. Mittlerweile häufen sich die Anzeichen, dass Decker selbst in höchster Lebensgefahr schwebt… Nachdem die Autoren-Karriere des Briten Graham Masterton bei „Penthouse“ und mit dem Verfassen von Sex-Ratgebern begonnen hatte, ist er mittlerweile neben Clive Barker, Ramsey Campbell und James Herbert einer der bekanntesten Horror-Schriftsteller von der Insel, dessen Werke früher bei Bastei Lübbe, Goldmann und Heyne erschienen sind und der seine deutsche Verlagsheimat nun bei Festa gefunden hat.
Mit „Grauer Teufel“ ist Masterton ein thematisch vielschichtiger, atmosphärisch stimmiger und spannender Horror-Thriller klassischer Ausprägung gelungen, der Besonderheiten des amerikanischen Bürgerkriegs, der katholischen Heiligen und der aus Afrika eingeführten Santería-Religion miteinander verbindet. Dabei hat er vor allem mit Decker Martin einen starken und empathischen Protagonisten kreiert, den der Leser gleich sympathisch findet, aber auch die Nebenfiguren sind Masterton glaubwürdig gelungen. Wer Freude an einem atmosphärisch dichten Voodoo-Thriller hat, ist mit „Grauer Teufel“ bestens bedient.
Leseprobe Graham Masterton - "Grauer Teufel"

David Baldacci – (John Puller: 3) „Escape“

Donnerstag, 19. November 2015

(Heyne, 606 S., HC)
Die United States Disciplinary Barracks in Fort Leavenworth galten bislang als das bestgesicherte militärische Hochsicherheitsgefängnis in den USA. Und doch gelingt dem wegen Hochverrats zu lebenslanger Haft verurteilten Robert „Bobby“ Puller nach dem Ausfall sowohl der Strom- als auch der Notstromversorgung eine spektakuläre Flucht. Kurz nach dem Vorfall wird ausgerechnet Pullers Bruder, Spezialagent der Criminal Investigation Division (CID), der Militärstrafverfolgungsbehörde derArmy, ins Pentagon geladen, wo er von Drei-Sterne-General Aaron Rinehart, Air-Force-General Timothy Daughtrey und James Schindler vom National Security Council damit beauftragt wird, seinen Bruder wiederzufinden und festzunehmen.
Für den Auftrag wird ihm die ebenso attraktive wie undurchsichtige Veronica Knox von Inscom zur Seite gestellt, der den militärischen Nachrichtendienst der US Army darstellt. Mit ihren Fragen wirbeln die beiden Ermittler viel Staub auf. Zunächst wird Daughtrey erschossen in Pullers Motelzimmer aufgefunden, dann verschwinden die Transformatoren, an denen man hätte feststellen können, ob ein Sprengstoffsatz für den Stromausfall verantwortlich gewesen war, und schließlich wird Puller entführt und kann sich nur mit Not befreien.
Je mehr Puller und Knox ihre Ermittlungen vorantreiben, desto deutlicher zeichnet sich ab, dass Bobby unschuldig ins Gefängnis gewandert ist und hochrangige Militärangehörige als Spione dafür gesorgt haben, Massenvernichtungswaffen in die falschen Hände gelangen zu lassen …
Und über allem hängt die Frage, wie sich Puller verhalten würde, wenn er seinen Bruder tatsächlich in seine Gewalt bringt.
Könnte ich auf Bobby schießen? Oder er auf mich? Nein. Nie und nimmer. Das war die Antwort, die ihm sofort in den Sinn kam. Andererseits hatte Bobby zwei Jahre im Gefängnis gesessen. Er hatte auf der Flucht höchstwahrscheinlich einen Menschen getötet. Falls man ihn wieder fasste, würde man ihn möglicherweise wegen Mordes zum Tode verurteilen, auch wenn es Hinweise darauf gab, dass er in Selbstverteidigung gehandelt hatte. Unter diesen Umständen würde Bobby vielleicht lieber kämpfend untergehen. Oder er würde zulassen, dass sein Bruder ihn tötete. Puller wusste nicht, welche Möglichkeit die schlimmere war.“ (S. 221) 
Mit „Zero Day“ und „Am Limit“ hat der amerikanische Bestseller-Autor David Baldacci eine neue Reihe ins Leben gerufen, in der der militärische CID-Agent John Puller heikle Ermittlungsaufträge innerhalb seiner eigenen Reihen zu erledigen hat. Dabei kamen sein hochdekorierter, aber an Demenz erkrankter Vater, Drei-Sterne-General John „Durchbruch“ Puller, und sein wegen Hochverrats verurteilter Bruder Bobby eher am Rande vor.
In seinem neuen Roman „Escape“ wird nicht nur die Familiengeschichte der Pullers etwas gelichtet, sondern bildet auch das Zentrum von John Pullers neuem Auftrag. Geschickt gewährt Baldacci nicht nur weitere Einblicke in die unüberschaubaren Strukturen der militärischen Behörden und Einheiten, sondern entwickelt ein ebenso undurchdringlich erscheinendes Geflecht aus militärischen Geheimnissen, Spionage-Verdächtigungen, Lügen und Morden, dass der Leser kaum Zeit zum Luftholen bekommt.
Das Finale überrascht mit etlichen Wendungen und bringt einen hochklassigen Thriller zum Abschluss, der Lust auf weitere Puller-Abenteuer macht.
 Leseprobe David Baldacci - "Escape"

Ross Macdonald – (Lew Archer: 17) „Der Untergrundmann“

Dienstag, 17. November 2015

(Diogenes, 363 S., Pb.)
An einem strahlenden Septembermorgen füttert Privatdetektiv Lew Archer gerade seine Buschhäher mit Erdnüssen, als er den Nachbarsjungen Ronny Broadhurst kennenlernt, der mit seiner Mutter vorübergehend in die Wohnung der Wallers eingezogen ist, nachdem sich Jean Broadhurst von ihrem Mann Stanley getrennt hat. Dieser holt Ronny gerade ab, um mit ihm zu Oma Nell nach Santa Teresa zu fahren, mit einer Blondine auf dem Beifahrersitz. Doch bei Ronnys Oma kommen sie nie an.
Als Jean und Lew sich auf die Suche nach Ronny machen, erfährt Archer, dass sich Stanleys Leben ganz um die Suche nach seinem Vater Leo dreht, der vor fünfzehn Jahren mit der Frau eines anderen durchgebrannt sein soll, aber die gebuchte Schiffspassage nach San Francisco nie angetreten hat.
Als auch Stanley ermordet aufgefunden wird, ermittelt Archer auf einmal nicht nur in der Entführung des Braodhurst-Jungen, für die ein halbwüchsiges Paar verantwortlich zu sein scheint, sondern auch in der Mordsache, deren Wurzeln in einem Verbrechen liegen, das bereits vor fünfzehn Jahren begangen worden ist. Je mehr sich Archer mit dieser Geschichte aus Leidenschaften, Lügen, Erpressung und Affären auseinandersetzt, desto verworrener präsentiert sich das Beziehungsgeflecht zwischen allen Beteiligten.
„Ich begann zu ahnen, wo das Problem lag. Ein gar nicht mal seltenes Problem, das entsteht, wenn Familien sich in eine so fade und erstickende Traumwelt einspinnen, dass die Kinder schließlich ausbrechen, um sich an den scharfen Kanten der erstbesten sich bietenden Realität zu wetzen. Oder sich mit Hilfe von Drogen ihre eigene Traumwelt schaffen.“ (S. 135) 
Neben Dashiell Hammett und Raymond Chandler zählt Ross Macdonald (1915 – 1983) zu den großen Autoren der amerikanischen Kriminalliteratur, und die Neuübersetzung von Karsten Singelmann des im Original 1971 erschienenen Klassikers „Der Untergrundmann“ bei Diogenes zeigt auch eindrucksvoll, warum Macdonald nicht nur ein begnadeter Krimiautor, sondern einfach ein grandioser Erzähler gewesen ist.
Bereits mit der Einführung der klassischen Dreieckskonstellation einer einsamen Frau, des eifersüchtigen Ehemanns und des gut beobachtenden Außenseiters, der unversehens zwischen die Fronten gerät, hat Macdonald einen Konflikt initialisiert, der sich im Verlauf der weiteren Geschichte immer weiter fein verästelt, bis alle Beteiligten irgendwie ihre Wunden zu lecken und lange verborgene Geheimnisse preiszugeben haben.
Mit Lew Archer schuf Macdonald dabei einen sympathischen Protagonisten, der ebenso wie die Menschen, mit denen er in dieser Geschichte zu tun hat, unter großer Einsamkeit leidet, der aber im Gegensatz zu den meisten von ihnen zu großer Empathie fähig ist und vor allem den Frauen stets mit Respekt und oft sogar großer Sympathie begegnet, was für die Kriminalliteratur jener Zeit absolut außergewöhnlich gewesen ist, wie auch Donna Leon in ihrem für die Neuübersetzung extra verfassten Nachwort bemerkt.
„Der Untergrundmann“ zeichnet sich bei allen vertrackten Wendungen, die die Geschichte im Verlauf von zwei ereignisreichen und durch einen verheerenden Waldbrand überschatteten Tagen nimmt, durch eine geschliffene Sprache und großartige Figurenzeichnung aus, wobei die Flammen des Waldbrands nicht nur das Zuhause der Menschen bedrohen, sondern gleichsam als Metapher für die Zerstörung menschlicher Schicksale stehen. Auf die weiteren Neuübersetzungen klassischer Lew-Archer-Romane darf der Krimi- und Literaturfreund deshalb mehr als gespannt sein.

Jussi Adler-Olsen – „Takeover – Und sie dankte den Göttern …“

Sonntag, 8. November 2015

(dtv, 592 S., HC)
Nach siebenundzwanzig Jahren, die die Halbindonesierin Nicky Landsaat auf der Schattenseite von Amsterdam verbracht hat, sind ihre Examensnoten von der Handelshochschule so gut, dass sie ihrem tyrannischen Vater und ihren bereits vom rechten Weg abgekommenen Geschwistern Bea und Henk entfliehen kann. Als sie im August 1996 die Einladung zu einem Traineekursus bei der Investmentfirma Christie N.V. erhält, gelingt es ihr tatsächlich, trotz der verspäteten Anmeldung einen der begehrten Trainee-Plätze zu ergattern und das Vertrauen des Geschäftsführers Peter de Boer zu gewinnen.
Der hat nicht nur mit einer Anklage durch die Eltern seiner Frau Kelly mit kämpfen, die ihm vorwerfen, Kelly in den Selbstmord getrieben zu haben, sondern bekommt es auch mit dem undurchsichtigen wie skrupellosen Marc de Vires zu tun. Dieser unterhält Kontakte zur CIA unterhält und beauftragt de Boer mit einem heiklen Auftrag im Irak, den er nicht ablehnen kann. Um herauszufinden, was de Vires vorhat, schleust sich Nicky als Kindermädchen für dessen Neffen Dennis ein …
„Als sie de Vires‘ Korrespondenz entdeckte, überlegte Nicky einen Augenblick lang, den Computer auszuschalten. In diesem sehr kurzen Moment beschlich sie nicht nur eine ungute Ahnung von Unglück, Blut und Gewalt. Ihr wurde plötzlich auch das Ausmaß ihrer Neugier bewusst, ihr Ehrgeiz und besonders die von Liebe kaum noch zu unterscheidende Hingabe, die sie für Peter de Boer empfand und für alles, was er repräsentierte. Nicky feuchtete ihre Fingerspitzen an, rieb sie aneinander und ließ sie dann über die Tastatur gleiten, als zöge eine übernatürliche Kraft sie an einen vom Schicksal bestimmten Ort.“ (S. 308) 
Seit der norwegische Thriller-Autor Jussi Adler-Olsen mit seiner Reihe um Carl Mørck vom Sonderdezernat Q die internationalen Bestsellerlisten gestürmt hat, erscheinen zwischenzeitlich auch Adler-Olsens ältere Werke, die bislang aber nicht an die Qualität seiner Erfolgsreihe anschließen konnten. Das trifft auch auf „Takeover“ zu. Dabei beginnt der Roman vielversprechend: Eine junge Frau bekommt die Chance, dem Elend, in dem ihre Familie lebt, mit ihrer hervorragenden Ausbildung zu entkommen, und lässt sich auf eine gefährliche Beziehung mit ihrem Gönner Peter de Boer ein, die weit über berufliches Engagement hinausgeht. Doch auch wenn Adler-Olsen die schwierigen Familienverhältnisse sowohl bei den Landsaats als auch bei den de Boers und den de Vires‘ herauszuarbeiten versucht, wirken die Charakterisierungen nur skizziert, so dass der Leser kaum Identifikationsmöglichkeiten mit den Figuren bekommt, am ehesten wohl mit der taffen Protagonistin Nicky Landsaat.
Was dem Roman allerdings fast zum Verhängnis wird, sind die irgendwann unüberschaubaren politischen, wirtschaftlichen und persönlichen Verwicklungen, die den Lauf der Geschichte immer wieder ins Stocken geraten lassen. Adler-Olsen macht in „Takeover“ viele Fässer auf. Es geht um wirtschaftlichen Konkurrenzkampf, bei dem jedes noch so unlautere Mittel recht ist, es geht um familiäre Tragödien und schließlich um den Krieg um Öl, in den nicht nur der Irak und Kuwait verwickelt sind, sondern natürlich auch die USA, so dass die CIA auch ihre Finger im Spiel hat.
So bietet der komplexe Plot viele Möglichkeiten für Verrat, Intrigen, Gewalt, Folter und Mord, aber auch für ebenso viele Wendungen, Nebenhandlungen und Ablenkungsmanöver.
Immerhin gelingt es dem Autor, bei der zerfaserten Dramaturgie dennoch Spannung aufzubauen. Mørck-Fans werden mit diesem hochpolitischen und komplexen Thriller nicht unbedingt was anfangen können, aber lesenswert ist dieses Frühwerk aus dem Jahr 2003 (und neu aufgelegt im Jahr 2008) allemal. Schließlich sind die hier angerissenen Themen nach wie vor hochaktuell.
Leseprobe Jussi Adler-Olsen - "Takeover"