Joe R. Lansdale – „Das abenteuerliche Leben des Deadwood Dick“

Montag, 9. Mai 2016

(Tropen, 477 S., HC)
Willie Jackson ist nicht mal zwanzig Jahre alt, als er sich mit dem Plan befasst, sich auf den Weg nach Westen zu machen, um sich den schwarzen Soldaten anzuschließen, dreizehn Yankee-Dollar im Monat zu verdienen und Kleidung, Essen und ein Pferd zum Reiten zu bekommen. Doch sein Spaziergang zu Wilkes Gemischtwarenladen macht ihm einen Strich durch die Rechnung. Als Sam Ruggert mitbekommt, dass Willie seiner Frau auf den Hintern schaut, muss Willie um sein Leben laufen, um nicht als Ehrengast bei einem Lynchmord zu enden.
Von seinem Pa bekommt er noch eine Pistole Kaliber 44 und seine alte Taschenuhr, wenig später töten Ruggerts Leute Willies Pa und das Schwein, brennen das Haus ab und schießen auf das altersschwache Pferd Jesse. Willie und Jesse kommen bis nach East Texas und kommen bei dem ehemaligen Soldaten Tate Loving unter, der den Jungen auf seiner Farm gegen Kost und Logis arbeiten lässt und ihn zudem in Lesen und Schießen unterrichtet.
Unter dem Namen Nat Love schließt sich Willie im Norden der Armee an und überlebt mit knapper Not einem Apachenüberfall. Zusammen mit Cullen, dem einzig anderen Überlebenden des Hinterhalts, desertiert Nat und lässt sich in Deadwood nieder, wo er sich in die wunderschöne Win verliebt. Doch Ruggert hat seine Suche nach dem lüsternen jungen Mann nicht aufgegeben und ist Nat dicht auf den Fersen. Nichtsdestotrotz hat Nat Zukunftspläne mit Win.
„Wir hatten Träume und waren uns einig darüber, dass sie so groß waren wie die der Weißen. Auch waren wir beide der Ansicht, dass wir hier draußen in der Wildnis eher wie alle anderen waren als irgendwo sonst. Dennoch hing weder ihr Herz noch meines an Deadwood.“ (S. 199) 
Doch bevor er sich ein neues Leben leisten kann, will er noch einen Schießwettbewerb gewinnen, an dem auch der legendäre Wild Bill Hickok teilnimmt …
Joe R. Lansdale hat bereits in seinen Kurzgeschichten „Soldierin‘“ und „Hide and Horns“ über den legendären Nat Love (1854 - 1921) geschrieben und nun für seine umfassende Western-Biographie über den als Sklaven geborenen Soldaten, Cowboy und Autor vor allem die Jahre zwischen seiner erzwungenen Flucht von zuhause bis zum finalen Duell mit seinem unbarmherzigen Verfolger Ruggert abgedeckt.
Wie schon in seinen Südstaaten-Thrillern zuvor macht Lansdale in „Das abenteuerliche Leben des Deadwood Dick“ auf die Probleme der Schwarzen aufmerksam, die auch nach offizieller Abschaffung der Sklaverei in den seltensten Fällen Gleichberechtigung erfahren. In gewohnt humorvoller, lockerer Sprache lässt der Autor seinen Protagonisten als Ich-Erzähler auftreten und sorgt so für die beabsichtigte Authentizität einer ebenso spannenden wie tragischen Geschichte. Und überhaupt geht es in diesem gewalttätigen, zuweilen blutig-brutalen Roman ums Geschichtenerzählen, denn so wie Nat Love seine Geschichte wiedergibt, wird die von Deadwood Dick wiederum von Wild Bill schon zu Lebzeiten in Groschenromanen veröffentlicht, wobei die Wahrheit oft keine wirkliche Rolle spielt und nur als grobe Inspiration für die Geschichten dient.
Und so kann sich auch der Leser von Lansdales Roman nicht sicher kann, wie nah an der Wahrheit Nats Schilderungen seines Lebens wohl sind. Abgesehen von dieser metaphorischen Spielerei ist Lansdale ein atmosphärisch dichter Western-Thriller gelungen, der von stark gezeichneten Figuren lebt, die der Leser kaum so schnell vergessen werden, und der mit einem furiosen Showdown endet.
Leseprobe Joe R. Lansdale - "Das abenteuerliche Leben des Deadwood Dick"

J. Paul Henderson – „Letzter Bus nach Coffeeville“

Mittwoch, 4. Mai 2016

(Diogenes, 521 S., HC)
An seinem zweiundsiebzigsten Geburtstag lässt Eugene Chaney wie jedes Jahr seit seinem Renteneintritt vor sieben Jahren sein Leben Revue passieren und fragt sich, warum er mittlerweile die Einsamkeit der Gesellschaft anderer Menschen bevorzugt. Er denkt aber auch über den Sinn des Lebens, den Tod und den Verlust von geliebten Menschen nach. Doc, wie Gene liebevoll von seinen Patienten und Freunden genannt wurde, trauert noch immer seiner Frau Beth und seiner Tochter Esther nach, die von einem riesigen Donut getötet wurden, erinnert sich an seine verstorbenen Eltern und die beiden Bürgerrechtler Bob und Nancy, die seine besten Freunde werden sollte.
Nancy hatte ihm ganz zu Beginn ihrer Beziehung Gene davon erzählt, dass ihre Mutter und auch schon ihre Grandma an Alzheimer erkrankt waren und sie selbst keine Kinder haben wolle, damit sie die Krankheit nicht weitervererben kann. Schwerer wiegt allerdings das Versprechen, das sie Gene in ihrer ersten Liebesnacht in North Carolina abnimmt: Wenn sie auch die „Krankheit des Vergessens“ bekommen sollte, bringt Doc sie zurück nach Mississippi und leistet ihr Sterbehilfe.
Nachdem Nancy am Morgen darauf spurlos verschwunden war, hört Gene erst über vierzig Jahre später wieder von ihr. Es sei an der Zeit, das Versprechen einzulösen.
„Doc war der Meinung, jeder unheilbar kranke Mensch, dessen Lebensqualität auf dem Nullpunkt angekommen war, habe das Recht, die Umstände seines eigenen Todes selbst zu bestimmen – wann und wie es passieren sollte. Er sah keinerlei Sinn darin, dass Menschen gegen ihren Willen weiterleben mussten. Dazu kam, dass Doc kein gläubiger Mensch und somit auch nicht davon überzeugt war, es würde allein Gott obliegen, wie lange ein Mensch lebte und wie er sein Ende fand.“ (S. 94) 
Nancy will in Coffeeville sterben und ihr Vermögen zu gleichen Teilen an die Schule, an der sie Lehrerin gewesen ist, und an die Alzheimerforschung gehen. Zusammen mit ihrem gemeinsamen Freund Bob machen sich Doc und Nancy in einem alten Bus auf eine abenteuerliche Reise, die das Trio von Hershey über Nashville, Waltons Mountain und Memphis bis nach Coffeeville führt, wobei noch einige Verwandte und Anhalter der Reise abenteuerliche Momente bescheren.
Der in Amerikanistik promovierte Amerikaner J. Paul Henderson hat sich in seinem Debütroman eines Themas angenommen, von dem er selbst betroffen gewesen ist, da seine eigene Mutter an Alzheimer erkrankt und gestorben war. Doch statt Trübsal zu blasen und über den bedauernswerten geistigen Verfall und den zunehmenden Verlust der eigenen Identität im Verlauf der unheilbaren Krankheit zu lamentieren, nimmt Henderson die Krankheit als Ausgangspunkt für einen Road Trip der besonderen Art.
Hier werden nicht nur die Lebensgeschichten der drei Protagonisten erzählt, sondern viele weitere nahe und entfernte Verwandte und Waisen sorgen für interessante Zwischenstationen und Zwischentöne, die dem ernsten Zweck der Reise meist ganz humorvolle Anekdoten verleihen. So liest sich „Letzter Bus nach Coffeeville“ nicht wie die Heimreise einer Todgeweihten, sondern in leicht fließender Sprache eher wie ein Loblied auf das Leben, auf die Liebe und die Freundschaft.
Leseprobe J. Paul Henderson - "Letzter Bus nach Coffeeville"

Michael Chabon – „Telegraph Avenue“

Sonntag, 1. Mai 2016

(Rowohlt, 670 S., Tb.)
Anno 2004 leben der ehemalige Elektriker und Golfkriegsveteran Archy Stallings und der weiße Jude Nat Jaffe in ihrer eigenen Welt namens Brokeland Records. Dabei handelt es sich um einen Second-Hand-Jazzplattenladen in titelgebender Telegraph Avenue in Oakland, eingebettet zwischen einem Donut-Laden und dem „King of Bling“. So unterschiedlich die beiden Freunde auch sind, so leben sie doch für den Jazz und freuen sich, dass der Musiker Cochise Jones zu ihren besten Kunden zählt. Ungemach naht allerdings in Gestalt des ehemaligen Football-Stars Gibson Goode, der als fünftreichster Schwarzer Amerikas einen Megastore seiner Kette "Dogpile" direkt neben Brokeland eröffnen will, wobei er auch den Stadtrat und Brokeland-Stammkunden Chandler Flowers auf seine Seite ziehen kann.
Noch machen den beiden Freunden die um sich greifende Digitalisierung und der Online-Handel mit Musik keine allzu großen Sorgen, doch da Dogpile auch Platten in seinem Sortiment haben wird, sehen sich Archy und Nat vor in ihrer Existenzgrundlage bedroht.
Davon abgesehen müssen sich ihre Frauen, Gwen und Aviva, die als Hebammen zusammen arbeiten, mit einer Klage auseinandersetzen, nachdem es bei einer ihrer präferierten Hausgeburten zu Komplikationen gekommen ist und der zuständige Arzt im Krankenhaus die Meinung vertreten hat, die Hebammen würden Voodoo praktizieren. Als wären das nicht schon genug Probleme, findet die hochschwangere Gwen heraus, das Archy sie betrügt, und setzt ihn kurzerhand vor die Tür, während Archys Vater Luther versucht, nach zwei erfolgreichen „Stratter“-Filmen Geld für einen weiteren Film der Reihe aufzutreiben, die ihn einst zu einem Blaxploitation-Action-Helden gemacht hatte.
 Und schließlich finden Nats Sohn Julius, der aufgrund seiner weiblichen Ausstrahlung Julie genannt wird, und Archys verlorener Sohn Titus zueinander. Archy bekommt von Gibson „G Bad“ Goode das Angebot, ein Jobangebot bei Dogpile, damit er seine junge Familie auch weiterhin ernähren kann.
„Er wusste, dass Nat und er sich finanziell in einem immer engeren Kreis drehten. Und da kam dieser Typ daher, der sich selbst in Zeiten, da die Plattenketten dicht machten und unzählige Gratis-Downloads in die Hosentasche passten, der es sich selbst jetzt leisten konnte, einen hammermäßigen Plattenladen zu eröffnen, fünfmal so groß wie Brokeland und zehnmal so umfangreich, der es sich nur des Ruhms und der Tugend zuliebe leisten konnte, Archy für alle Zeiten pleitegehen zu lassen, unerschöpflich finanziert durch sein Medienimperium, sein lizenziertes Abbild, sein alchemistisches Händchen mit Ghetto-Immobilien. Wehte an einem Samstagnachmittag bei Brokeland herein, ein König in Zivil, um seinen Stiefel in den Nacken der Eroberten zu setzen.“ (S. 333) 
Vordergründig thematisiert der neue Roman von Pulitzer-Preisträger Michael Chabon exemplarisch an einem altehrwürdigen, Traditionen bewahrenden Second-Hand-Plattenladen den Untergang eines ganzen Industriezweigs, wie ihn kürzlich auch Schauspieler und Regisseur Colin Hanks in seinem Film „All Things Must Pass – The Rise and Fall of Tower Records“ dokumentierte. Aber vielmehr als zum Beispiel Nick Hornbys „High Fidelity“ präsentiert Michael Chabon auch eine Musikgeschichte des Jazz, wie sie vor allem in der bewegenden Trauerrede von Archy Stallings zum Ausdruck kommt.
Darin kommt gleichsam ein anderer Schwerpunkt in dem Roman zum Tragen, nämlich die Vermischung der Kulturen. Was der verstorbene Jazz-Musiker Cochise Jones zu seinen Lebzeiten als „kalifornisches Kreol“ bezeichnete, nämlich die Symbiose aus Afrika und Europa, Chopin, Kirchenmusik, Irish Folk, Polyrhythmik, das Gefühl vom Bayou, macht auch „Telegraph Avenue“ aus. Es zeichnet nicht nur vielschichtige Charaktere unterschiedlicher Jahrgänge, Hautfarben, Bildungsschichten und Kulturen, sondern ein soziokulturelles Gesamtbild Amerikas jener gar nicht so lang verjährter Tage, in denen jeder mit seinen eigenen gewichtigen Problemen zu kämpfen hat, in denen es um das Bewahren familiärer Werte und kultureller Errungenschaften geht.
Das ist wie beim großen Fabulierer Chabon gewohnt wort- und bildgewaltig beschrieben, anekdotenreich und mit allerlei Zitaten gespickt filmreif präsentiert, wenn auch gelegentlich etwas zu ausufernd manieristisch übertrieben, wie das aus nur einem, 18 Seiten (!) umfassenden Satz bestehende Kapitel „Ein Vogel von großer Erfahrung“.
Auch von einigen anderen Längen im Mittelteil abgesehen bietet „Telegraph Avenue“ ein intellektuell anspruchsvolles Lesevergnügen, in der die Jazz-Musikgeschichte fast akribisch und von rezensierender Intensität den Mittelpunkt einer komplexen Sozialgeschichte bildet.
Leseprobe Michael Chabon - "Telegraph Avenue"

Heinz Strunk – „Der goldene Handschuh“

Samstag, 23. April 2016

(Rowohlt, 256 S., HC)
Um drei Uhr morgens trifft man im Februar 1974 in der St.-Pauli-Kneipe „Zum goldenen Handschuh“ allerlei verwahrloste Gestalten, die ihre wenig erbaulichen Spitznamen - Leiche (dessen Körer sich im unaufhörlichen Verfall zu befinden scheint und dreizehn Jahre wegen „heimtückischen“ Mordes gesessen hat), der Schiefe, Soldaten-Norbert oder Fanta-Rolf – wie Adelstitel vor sich hertragen. Herbert Nürnberg hat das Lokal 1962 eröffnet und 365 Tage im Jahr und 24 Stunden am Tag geöffnet.
Hier treibt sich auch Fritz „Fiete“ Honka herum, der als Kind von seinem Vater halbtot geschlagen wurde, in Kinderheimen aufgewachsen ist und seit einem Fahrradunfall im Gesicht entstellt ist. Da er zu schlecht in der Schule war, konnte er seinen Traum, Autoschlosser zu werden, nicht realisieren. Seitdem schlägt er sich mit Gelegenheitsjobs durch und ertrinkt seine Wut in Alkohol und lässt sie an den heruntergekommenen Frauen aus, die er in der Kneipe an der Reeperbahn kennenlernt und schließlich versklavt, umbringt und zerstückelt teilweise auf dem Dachboden in Mülltüten entsorgt. Den entsetzlichen Gestank, auf den er von seinen gelegentlichen Besuchern angesprochen wird, schiebt er auf die Griechen, die den ganzen Tag kochen.
Als er überraschenderweise einen Job als Nachtwächter bei Shell bekommt, hofft Honka auf eine Wende zum Normalen in seinem Leben, mit regelmäßigem Einkommen und einer hübschen Frau an seiner Seite, wahlweise die attraktive Putzfrau Helga, deren Ehemann Erich aber noch im Wege steht.
„Fiete kann sich das nicht länger tatenlos anschauen, es geht längst nicht mehr um ihn, er muss Helga da rausholen, aus eigener Kraft wird sie es nie schaffen. Wenn er, Fiete, nicht sehr bald was unternimmt, ist sie auf immer und ewig mit dem nutzlosen Krüppel zusammengepfercht, lebendig begraben im Tonndorf’schen Mausoleum, unfähig, den Sargdeckel zu heben.“ (S. 162) 
Seit der Hamburger Heinz Strunk im Jahr 2004 mit seinem Debütroman „Fleisch ist mein Gemüse“ seine von Akne, Wichsfantasien und Schützenfesten geprägte Jugendzeit in Winsen/Luhe verarbeitet hat, zählt der sonst mit Studio Braun auf den Theaterbühnen aktive Strunk zu den festen Größen in Deutschlands Comedy-Szene. Sein neues Buch „Der goldene Handschuh“ ist zwar erstmals frei von autobiografischen Zügen, ist aber auch in seiner Hamburger Heimat angesiedelt und trotz der tragischen Geschichte voller Strunk-Humor.
Der Autor bekam im Hamburger Staatsarchiv Zugang zu bislang verschlossenen Akten zum Fall Honka, dessen Morde an vier Frauen erst entdeckt worden sind, als die Feuerwahr im Juli 1975 nach dem Löschen eines Brands in Hamburg-Ottensen auf mumifizierte Leichenteile in der Wohnung des 39-jährigen Mieters Fritz Honka gestoßen war.
„Der goldene Handschuh“ liest sich allerdings nicht wie ein reißerischer Thriller, der auf effektvolle Weise die bestialischen Morde und die Jagd auf einen gerissenen Täter schildert. Da sich Honka nur Frauen als Opfer wählte, die sich am Rande der Gesellschaft bewegt haben, sich für Alkohol und Unterkunft prostituierten und von niemandem vermisst worden sind, konnte er sich wie die meisten Kunden im „Goldenen Handschuh“ unbemerkt seinem Treiben widmen.
Strunk verlegt seinen Roman eher auf die ganz persönliche Geschichte eines Mannes, der unter schwierigen Verhältnissen aufgewachsen ist und dem später im Gerichtsprozess eine schwere „seelische Abnormität“ attestiert wird.
„Der goldene Handschuh“ ist vor allem eine treffende Milieustudie, die sich überhaupt nicht abwertend über die Figuren am Randbereich der Gesellschaft äußert. Indem Strunk auch einen Abkömmling einer wohlhabenden Reederei-Familie in der verrufenen Kneipe verkehren lässt, macht er deutlich, wie schmal der Grat zwischen Normalität und Wahnsinn, zwischen Anerkennung und Wut, Tugendhaftigkeit und Verkommenheit ist. Dabei bedient sich Strunk einer entwaffnend offenen Sprache, die zugleich brüllendkomische und tieftraurige Momente heraufbeschwört.
Leseprobe Heinz Strunk - "Der goldene Handschuh"

Stewart O’Nan – „Westlich des Sunset“

Dienstag, 19. April 2016

(Rowohlt, 416 S., HC)
Nachdem sein früherer literarischer Ruhm längst verblasst ist, kämpft der amerikanische 41-jährige Schriftsteller F. Scott Fitzgerald im Jahr 1937 nicht nur gegen seine Alkoholsucht, sondern auch gegen den finanziellen Ruin. Seine Frau Zelda, die an einer offensichtlich unheilbaren bipolaren Störung leidet, musste er kürzlich aus der Einrichtung in Pratt in das Highland Hospital bringen lassen, das er sich eigentlich ebenso wenig leisten kann wie das Schulgeld seiner Tochter Scottie. Fitzgerald zieht in die Villenanlage Garden of Allah, wo er sich im Kreis von Hollywood-Stars wie Humphrey Bogart, Valentino, Joan Crawford und Gloria Swanson bewegt und darauf hofft, bei Metro Goldwyn Meyer als Drehbuchautor so viel zu verdienen, dass er sich in Ruhe seinem nächsten Roman widmen kann.
Er arbeitet an Filmen wie „Three Comrades“ und „A Yank In America“, doch nur selten werden die Projekte, in denen Fitzgerald involviert ist, auch verwirklicht, eine Namensnennung im Vorspann gelingt ihm nur einmal. Weitaus öfter muss sich der verdiente Autor damit herumplagen, dass seine Entwürfe von anderen Autoren wieder zerpflückt werden und er selbst irgendwann gefeuert wird. Als Fitzgerald sich in die äußerst quirlige Klatschreporterin Sheilah Graham verliebt, keimt wieder Hoffnung in seinem komplizierten, von Misserfolgen und Alkoholsucht gezeichneten Leben auf.
„Er hatte mal ein Talent zum Glücklichsein gehabt, aber damals war er noch jung und erfolgreich gewesen. Doch war er jetzt nicht wieder erfolgreich? Wenn er so mit ihr zusammen war, konnte er die Vergangenheit vergessen. Das konnte niemand anders bei ihm erreichen, und doch befürchtete er, sie letztlich zu enttäuschen.“ (S. 236) 
Francis Scott Fitzgerald zählt mit Romanen wie „Der große Gatsby“ (1925) und „Zärtlich ist die Nacht“ (1934) neben Kollegen wie Ernest Hemingway und William Faulkner zu den Hauptvertretern der Prosa der amerikanischen Moderne und hat in seinen Werken viel Autobiographisches verarbeitet und viele seiner Figuren sich selbst, seiner Frau Zelda und seinen Freunden nachgebildet. In Stewart O’Nans („Emily, allein“, „Die Chance“) neuen Roman „Westlich des Sunset“ wird Fitzgerald selbst zu einem biographischen Objekt, wobei der Roman nur die letzten drei Jahre des Schriftstellers abdeckt. Dabei gelingt O’Nan nicht nur ein eindringliches Portrait des gequälten Mannes, der in Hollywood verzweifelt versucht, so viele Aufträge an Land ziehen zu können, dass er seine Rechnungen bezahlen kann, sondern zeichnet damit gleichermaßen ein Bild des verlogenen und kurzlebigen Hollywood-Spektakels, das sich Tag für Tag hinter den Kulissen der Studios ereignet und alle Beteiligten immer wieder zur Verzweiflung bringt.
O’Nan selbst bildet sich dabei kein Urteil, sondern bleibt immer bei seiner Figur, über die er auch nie richtet. Stattdessen zeichnet er Fitzgerald als Künstler, der ums nackte Überleben und seine künstlerische Integrität kämpft, der nicht mehr mit seiner psychisch gestörten Frau zusammen sein, aber ebenso wenig seine Liebe zu Sheilah öffentlich machen kann.
So stellt „Westlich des Sunset“ sowohl eine spannende Künstler-Biographie als auch ein vielschichtiges Hollywood-Portrait dar, das O’Nan auf gewohnt farbenprächtige, bildreiche Weise zu beschreiben versteht.
Leseprobe Stewart O'Nan - "Westlich des Sunset"

John Irving – „Straße der Wunder“

Sonntag, 10. April 2016

(Diogenes, 776 S., HC)
Juan Diego hat zwei gänzlich voneinander getrennte und völlig unterschiedliche Leben geführt, wie er sagt - eines als Müllkippenkind in Mexiko, das andere nach seinem Umzug nach Iowa in der amerikanischen Erfahrungswelt. Man könnte auch sagen, ein Leben sei real gewesen, das andere erfunden, eines in der Erinnerung, das andere in seinen Träumen …
Juan wächst mit seiner unverständlich sprechenden Schwester Lupe auf einer Mülldeponie im mexikanischen Oaxaca auf. Die als Prostituierte arbeitende Mutter hat die beiden Kinder früh im Stich gelassen und sie in die Obhut des von jesuitischen Priestern und Nonnen geführten Waisenhauses gegeben. Sie sind eine von nur zehn Familien, die in der Siedlung Guerrero leben und auf der Deponie das Sammeln und Sortieren von Glas, Aluminium und Kupfer übernehmen. Da Juan sich aber auch das Lesen selbst beigebracht hat, wird er von den beiden alten Jesuitenpriestern Alfonso und Octavio auch der „Müllkippenleser“ genannt, und Bruder Pepe fühlt sich als Lehrer an der Jesuitenschule dafür zuständig, Juan mit geeignetem Lesestoff zu versorgen.
Aber auch seine Schwester Lupe ist mit einer besonderen Gabe gesegnet. Sie kann in den Gedanken anderer Menschen lesen und – etwas weniger zuverlässig – die Zukunft vorhersagen. Ihr gemeinsames Leben nimmt eine schicksalhafte Wende, als sie eine Anstellung im Zirkus Circo las Maravillas finden, Juan, der seit einem Unfall im Alter von vierzehn Jahren hinkt, als Hochseilartist und Lupe als Wahrsagerin.

Vierzig Jahre später ist aus Juan Diego ein bekannter Schriftsteller geworden. Er unternimmt eine Reise auf die Philippinen, die sein ehemaliger Student und in Manila mit seinen erbaulichen Romanen recht bekannte Autor Clark French organisiert hat, und erinnert sich an seine Kindheit auf der Deponie, die Zeit im Zirkus und seine Begegnung mit Miriam und ihrer Tochter Dorothy, die ihn noch immer in seinen Träumen heimsuchen.

„Miriam und Dorothy waren so sehr mit seinen Träumen verwoben, dass er sich sogar fragte, ob die beiden Frauen etwa nur in seinen Träumen existierten. Nur – existieren mussten sie, denn schließlich hatten andere sie ja auch gesehen!“ (S. 484) 

Der amerikanische Bestseller-Autor John Irving, dessen Romane „Garp und wie er die Welt sah“, „Das Hotel New Hampshire“ und „Gottes Werk und Teufels Beitrag“ auch erfolgreich verfilmt worden sind, hat schon immer ein feines Gespür dafür gehabt, außergewöhnliche Figuren zu kreieren, die in ihrem ganz eigenen Universum leben und fast schon berauschend magische Geschichten erleben. Im Mittelpunkt seines neuen Romans steht vor allem der auf einer Müllkippe aufgewachsene Schriftsteller Juan Diego Guerrero, der sich während seiner Philippinen-Reise an die Geschichte seines Lebens erinnert, das untrennbar mit seiner außergewöhnlichen Schwester, dem Deponiechef el jefe, den Jesuitenpriestern und einigen Frauen verbunden ist.

Da Juan Diego aber ein geborener Geschichtenerzähler ist, wird gerade im späteren Verlauf des Romans nicht ganz klar, was er tatsächlich erlebt oder vielleicht nur erfunden oder geträumt hat, zumal er unter dem wechselnden Einfluss von Betablockern und Viagra steht. Interessant herausgearbeitet ist dabei vor allem das Verhältnis von Juan und seiner Schwester Lupe. Dadurch, dass nur er versteht, was Lupe für die meisten anderen unverständlich von sich gibt, entsteht zwischen den beiden Waisen eine so innige Bindung, dass Lupe eine folgenschwere Entscheidung trifft, um ihrem Bruder ein besseres Leben zu ermöglichen.

Aber auch die Beziehung zwischen dem autodidaktisch gebildeten Juan und seinen jesuitischen Lehrern bietet viel Raum für die Auseinandersetzung mit dem Glauben an sich, dem Glauben an Wunder, dem Tod und der Literatur. In letzter Hinsicht wird auch die Beziehung zwischen Juan und Clark, zwischen Lehrer und ehemaligem Studenten interessant, wenn es um die Qualität und die Wurzeln der Literatur geht. Kann gute Literatur nur aus dem eigenen Erfahrungsschatz des Schriftstellers gedeihen, oder ist es eher die Phantasie, die Autoren zu großen Werken inspiriert?

Und schließlich thematisiert Irving in seinem umfangreichen Roman auch den Umgang mit der eigenen Biografie. Was macht das Individuum aus? Sind es seine Taten, seine Erinnerungen, seine Träume, seine Erfahrungen? All diese Fragen und Themen verwebt Irving zu einem schillernden, in jeder Hinsicht Grenzen sprengenden Roman, dessen einzige Schwäche darin besteht, dass er seine sympathischen Hauptfiguren nie wirklich zur Ruhe kommen lässt und die Geschichte(n) stellenweise unnötig ausschweifend erzählt, so dass hin und wieder der Faden verloren geht. Zum Ende hin bekommt Irving wieder die Kurve und zu alter Stärke zurück, führt die losen Enden gekonnt zusammen. „Straße der Wunder“ ist ein Roman über das Wunder des Lebens und die grenzenlosen Möglichkeiten der Fantasie, wie sie im Glauben und in der Literatur, in Träumen und Erzählungen zum Ausdruck kommen. Es geht aber auch um Liebe und Tod, Sex, Opfer und Verlust, die Heimat und das Fremde.  Irving erweist sich einmal mehr als Meister, all diese großen Themen in einem bunten Fabulierkunstwerk zu vereinen und den Leser mit Figuren bekannt zu machen, die man so schnell nicht vergisst.


Benedict Wells – „Spinner“

Freitag, 1. April 2016

(Diogenes, 309 S., HC)
Mit seinen zwanzig Jahren fühlt sich Jesper Lier nicht wirklich wohl in seiner Haut. Als er von München nach Berlin gezogen ist, hatte er erst zweihundert Seiten seines ambitionierten Romans „Der Leidensgenosse“ geschrieben, im vergangenen Jahr ist das Werk unter dem Einfluss von Schwindelanfällen, Alkohol und jeder Menge Schlaftabletten zu einem Monstrum von über tausend Seiten mutiert. Er verdient kein Geld, bekommt bei Frauen nichts geregelt und verlässt seine abgeranzte Wohnung am Prenzlauer Berg mit der Dusche, die exakt anderthalb Minuten lang warmes Wasser von sich gibt, nur für sein Praktikum beim „Berliner Boten“ und um sich etwas zu essen zu kaufen.
Auf dem Weg zur Uni, wo er sich regelmäßig pro forma immatrikuliert, um weiterhin Kindergeld beziehen und den öffentlichen Nahverkehr nutzen zu können, trifft er die Philosophiestudentin Miriam Schmidt und verliebt sich in sie. Während er auf der einen Seite versucht, ihr seine Liebe zu gestehen, bemühen sich seine Freunde Gustav und Frank massiv darum, Jesper die Bundeshauptstadt schmackhaft zu machen. Inmitten von beruflicher Desorientierung, Versagensängsten als Schriftsteller und unglücklicher Verliebtheit bekommt es Jesper auch noch mit zwei russischen Ganoven zu tun, die aus seinem eigenen Roman entsprungen zu sein scheinen und ihm das Leben noch schwerer machen, als es ohnehin schon ist …
„Wie einfach war alles mal gewesen, und was hatte ich nur daraus gemacht. Ich kam nicht mehr raus aus diesem Alptraum. Schon seit Jahren kam ich nicht mehr raus. Ich wollte dieses Leben hier doch gar nicht, ich wollte, dass alles wieder so fehlerlos und neu war wie früher.“ (S. 236) 
Seit seinem erfolgreich bei Diogenes im Jahre 2008 veröffentlichten und im vergangenen Jahr mit Christian Ulmen in der Hauptrolle verfilmten Debütroman „Becks letzter Sommer“ zählt der 1984 in München geborene Schriftsteller Benedict Wells zu den interessanten jungen Autoren hierzulande, so dass der Züricher Verlag Wells‘ eigentliches Debüt, „Spinner“, 2009 nachfolgen ließ.
Der Romantitel ist dabei sympathisches Programm. Mit dem Ich-Erzähler Jesper Lier hat Wells mit heftigem Augenzwinkern ein gleichaltriges Alter Ego geschaffen, das etwas überfordert scheint, sein neues Leben in einer anderen Großstadt auf die Reihe zu kriegen, worunter nicht nur die Arbeit an seinem großen Roman zählt, sondern auch zwischenmenschliche Beziehungen jeglicher Art und die zu Frauen im ganz Besonderen.
Herausgekommen ist eine luftig-leicht geschriebene Großstadt-Odyssee, in der die Angst vor dem Scheitern auf verschiedenen Ebenen den jungerwachsenen Lebensmut zu erdrücken droht und den Protagonisten aber nur von einer misslichen Lage in die nächsten katapultiert. Wells beschreibt diese durchaus verständlichen Ängste meist mit einem so erfrischenden und warmherzigen Humor, dass der Leser stets mit Jesper mitfühlt, leidet und hofft. Allerdings fällt der Ton manchmal auch etwas zu lakonisch und salopp aus, was zu dem ambitionierten Schriftsteller Jesper so gar nicht passt.
Leseprobe Benedict Wells - "Spinner"