Richard Laymon – „Das Ufer“

Freitag, 7. Oktober 2016

(Heyne, 576. S., Tb.)
Als sich das Teenagermädchen Leigh West 1969 am Lake Wahconda in den etwa gleichaltrigen Jungen Charlie verliebt, endet ihr erstes Mal tragisch: Charlie stürzt in dem verlassenen Haus, das er für das zärtliche Rendezvous ausgewählt hat, durch den morschen Holzboden und verunglückt dabei tödlich. Bei seiner Beerdigung beschimpfte seine Mutter Edith Payne sie als Hure, die ihren Sohn umgebracht habe.
Mittlerweile ist Leighs Tochter Deana im gleichen Alter wie sie damals und muss ein ganz ähnliches Schicksal erleiden: Bei einem gemeinsamen Ausflug wird ihr Freund Allan an einer Lichtung von einem Auto erfasst und an einem Baum zu Tode gequetscht.
Als sich Officer Mace Harrison des Falls annimmt, machen Leigh und Deana den Cop auf einen schwarzen Wagen in der Nähe ihres Hauses aufmerksam, den Deana für das Tatfahrzeug hält, und auf den temperamentvollen Koch Nelsen, den Leigh vor kurzem entlassen hat und der ein Rachemotiv haben könnte. Leigh lässt sich auf eine Affäre mit dem attraktiven Mace ein und beginnt bald zu ahnen, dass sich hinter der zuvorkommenden und leidenschaftlichen Art ihres Liebhabers mehr verbirgt.
Vor allem Deana kommt der Mann mehr als unheimlich vor.
„Er wirkte benommen, aber seine Augen hatten immer noch diesen wilden Blick, und sein Mund stand auch immer noch offen, als wäre er in Trance. Seine Augenbrauen und die Oberlippe glänzten vor Schweiß.
Mein Gott. Der Kerl sieht echt merkwürdig aus. Was ist mit ihm los?
Mit dem Reden scheint er auch Probleme zu haben. Er musste ewig herumsuchen, bevor er die richtigen Worte fand. Ganz anders als der Mace, den sie bisher kennengelernt hatte.“ (S. 388f.) 
In der Literaturkritik wird Laymons umfangreiches Werk zurecht in übernatürlichen Horror und natürlicher Horror eingeteilt, wobei der 2001 nach einem Herzinfarkt verstorbene Autor gerade in letzterer Kategorie seine eindrucksvollsten Arbeiten präsentierte. Die Zerstörung familiärer Werte und der Sicherheit, die amerikanische Bürger gerade in adretten Vorstadtsiedlungen empfinden, durch den vermeintlich netten Nachbarn thematisiert Laymon auf kompromisslos unbarmherzige Weise, schildert das Foltern und Morden bar jeder inneren Zensur.
Für diese Art von Horror bildet der 2009 posthum erschienene Roman „The Lake“, der durch Heyne Hardcore nun in deutscher Erstveröffentlichung unter dem Titel „Das Ufer“ veröffentlicht wurde, ein Paradebeispiel. Dabei wirkt ein Unfall, der sich vor gut zwei Jahrzehnten an einem idyllischen See ereignet hat, bis in die Gegenwart nach, wobei das weitere familiäre Umfeld zu den damaligen Geschehnissen erst nach und nach ans Tageslicht tritt.
Nach anfänglich etwas wirrer Einführung der beiden Zeitebenen, in denen sich die Romanabhandlung abspielt, gelingt es Laymon, zumindest die innige Mutter-Tochter-Beziehung in seiner gewohnt schlicht gehaltenen Sprache zu charakterisieren. Auch die Beteiligung weiterer Figuren an der nachfolgenden Handlung führt der Autor geschickt aus, wobei er bis zum Ende geschickt offenlässt, wer sich außer dem mutmaßlichen Täter eventuell noch auf der bösen Seite befinden könnte.
Allerdings sind – auch das typisch Laymon – die Charaktere erschreckend flach gezeichnet und zudem scheinbar nur von unerfüllt starkem Paarungstrieb gesteuert. Dabei muss der Leser immer mal über unlogische und auch etwas zähe Handlungsabläufe sowie unschlüssige Figurenkonstellationen hinwegsehen, wird aber für psychologisch geschickt konstruierten Psychohorror mit dem vertrauten Sex- und Gewalt-Mix belohnt, für den Laymon bei seinen Fans so beliebt ist. Dieses Spätwerk des amerikanischen Horror-Meisters zählt zwar nicht zu den besten seiner Arbeiten, bietet aber unterhaltsamen Genre-Stoff, der durch ein kommentiertes Werkverzeichnis von Richard Laymon der im Wilhelm Heyne veröffentlichten Titel ergänzt wird.
Leseprobe Richard Laymon - "Das Ufer"

Donal Ryan – „Die Gesichter der Wahrheit“

Dienstag, 4. Oktober 2016

(Diogenes, 245 S., HC)
Vor zwei Monaten hat der Bauunterunternehmer Pokey Burke in einer irischen Kleinstadt seine Angestellten entlassen und ist über alle Berge getürmt, ohne die Sozialleistungen für seine Leute abgeführt zu haben. Entsprechend mies ist die Stimmung in der Bevölkerung, die auf unfertigen Häusern und unbezahlten Rechnungen sitzt. Um den Frust abzubauen, beschäftigt sich das Meer der Arbeitslosen und unzufriedenen Frauen mit sich selbst, vornehmlich aber mit seinen Nachbarn.
Da werden Affären gesponnen, Missgunst geerntet und Hass gesät. Am Ende wird der gewalttätige Vater von Burkes ehemaligen Vorarbeiter Bobby Mahon tot aufgefunden und sein Sohn mit dem blutigen Holzscheit in der Hand als sein Mörder ausgemacht.
„O Herr, segne und behüte uns, ist es nicht eine Gottschande, dass innerhalb weniger Tage Kinder geraubt und gute Männer in ihrer eigenen Küche totgeschlagen werden und Vergewaltiger freikommen? Und jetzt ist auch noch die Rede davon, dass die Renten gekürzt werden sollen! Ist es nicht eine Beleidigung für Gottes Augen, dass er zusehen muss, wie Menschen ohne Schutz bleiben vor Elend und vor Wahnsinnigen? Was ist überhaupt aus unserem Land geworden?“ (S. 206f.) 
In seinem 2012 erschienenen und nun durch Diogenes in deutscher Übersetzung veröffentlichten Episodenroman „Die Gesichter der Wahrheit“ lässt der aus dem Süden Irlands stammende Bauingenieur, Jurist und Autor in 21 Kapiteln jeweils ausgesuchte Personen in der nicht näher benannten irischen Kleinstadt die Ereignisse rekapitulieren, die seit der Pleite des Bauunternehmers für Unruhe gesorgt hat.
Dabei werden nicht nur allein die wirtschaftlichen Sorgen einzelner Familien thematisiert, sondern vor allem der Blick vom eigenen Elend weg hin zum vermeintlich verabscheuungswürdigen Verhalten der Nachbarn. Munter werden hier Affären ausgeschmückt, Mitbürger diffamiert, sexuelle Gelüste und Frustrationen ersonnen.
Zwar gelingt es Ryan mit seinem Zweitwerk, die vielfältigen Stimmungen in der Kleinstadt einzufangen und durch die jeweiligen Ich-Erzählungen die Atmosphäre aus Neid, Verzweiflung, Hoffnung, Hass und Begehren facettenreich zu beschreiben, aber durch die lockere Aneinanderreihung der kurzen Kapitel kann der Leser stets nur von außen auf die einseitigen Monologe schauen und sich nie wirklich mit einzelnen Figuren identifizieren.
Durch die Kapitel werden die Puzzleteile des wirtschaftlichen wie gesellschaftlichen Niedergangs in der Kleinstadt zwar nach und nach zusammengesetzt, aber eine dramaturgisch sinnvolle Handlung darf der Leser nicht erwarten. Erst in den letzten Kapiteln kommt der Mord an Bobbys alten Herrn und das Verschwinden des Kindes zur Auflösung.
Sprachlich hat Ryan versucht, jeder Figur eine eigene Stimme zu verleihen, was durchaus Abwechslung in den Roman bringt und für ein großes Maß an Authentizität sorgt, aber wirklich fesseln vermag „Die Gesichter der Wahrheit“ nicht.
 Leseprobe Donal Ryan - "Die Gesichter der Wahrheit"

Ross Macdonald – (Lew Archer: 14) „Schwarzgeld“

Montag, 3. Oktober 2016

(Diogenes, 365 S., Pb.)
Als Lew Archer, Privatdetektiv aus Los Angeles, sich im Süden des Countys in einem noblen Tennisclub mit dem vielleicht zwanzigjährigen Peter Jamieson trifft, beauftragt der fettleibige, irgendwie vorzeitig gealtert erscheinende junge Mann den Ex-Cop mit der Suche nach Virginia (Ginny) Fablon. Sie sei im Begriff, eine große Dummheit zu begehen, wenn sie sich mit Francis Martel einlässt, einem Mann, der sich als französischer Aristokrat ausgibt. Dabei sei die Hochzeit zwischen Peter und Ginny, die zusammen aufgewachsen sind, für den nächsten Monat angesetzt gewesen.
Tatsächlich forscht Archer zunächst in der Vergangenheit des Mannes, der Peters Verlobten so den Kopf verdreht hat, und erfährt, dass sich Martel offensichtlich unter wechselnden Namen bei verschiedenen Universitäten eingeschrieben und bereits vor sieben Jahren für kurze Zeit als Aushilfe in dem hiesigen Tennisclub gearbeitet hatte. Zu jenem Zeitpunkt ist auch Ginnys Vater im Meer ertrunken, nachdem er seine Schulden nicht mehr bezahlen konnte und seinen Selbstmord zwei Tage zuvor in Gegenwart seiner Frau und Tochter angekündigt hatte.
Archer beginnt im Laufe seiner Ermittlungen aber zunehmend daran zu zweifeln, dass es sich bei diesem Unglücksfall um Selbstmord handelte. Die Spur führt Archer schließlich nach Las Vegas, wo Martel scheinbar eine Menge Schwarzgeld abgezweigt hatte und somit auch weitere Interessenten auf sich aufmerksam machte, so zum Beispiel den mittellosen Fotografen Harry Hendricks und seine betörende wie frustrierte Frau Kitty, die hinter Martels Geld her sind.
„Und dann kam mir der Gedanke, dass Ginny und Kitty, zwei Mädchen aus völlig unterschiedlichen Gegenden der Stadt, letztlich eine Menge gemeinsam hatten. Keine von beiden hatte das Missgeschick der Schönheit unbeschadet überstanden. Es hatte sie zu leblosen Wesen gemacht, Zombies in einer toten, öden Welt, ebenso schmerzlich anzusehen wie eine sinnlose Kreuzigung.“ (S. 309) 
Auch wenn Ross Macdonald (1915 - 1983) hierzulande noch nicht so einen großen Namen besitzt wie seine berühmten Kollegen Raymond Chandler und Dashiell Hammett, sorgt der Diogenes Verlag seit einer Weile mit wundervollen Neuübersetzungen seines Werks dafür, dass der Gewinner des Silver (1964) und des Gold Dagger Award (1965) auch zunehmend deutschsprachige Leser erreicht.
Mit dem sympathischen Privatdetektiv Lew Archer hat Macdonald nämlich eine echte Kultfigur erschaffen, die – wie Donna Leon in ihrem Nachwort erwähnt – „das eigene Handeln nicht weniger als das Verhalten anderer nach moralischen Kriterien bewertet“.
Archer nähert sich seinen Fällen ganz unvoreingenommen, verurteilt niemanden, empfindet Mitleid und sorgt sich vor allem um die Frauen, mit denen er es zu tun bekommt, ohne sich auf Affären mit ihnen einzulassen.
„Schwarzgeld“ ist ein klassischer Kriminalroman, bei dem es zunächst anscheinend nur um das Auffinden einer Person geht, bevor vergangene Ereignisse und in den Fall involvierte Personen in einem anderen Licht erscheinen und weitere Morde aufzuklären sind. Wie viele seiner bereits verfilmten Romane (u.a. als „Familiengeheimnisse“, „Killer aus dem Dunkel“ und „Eine Frau für alle Fälle“ sowie die sechsteilige Fernsehserie „Archer“) liest sich auch „Schwarzgeld“ wie ein Drehbuch zu einem Film. Die Handlung wird vor allem durch die überaus lebendigen Dialoge vorangetrieben. Archer ermittelt durch unzählige Gespräche, die er mit Beteiligten und möglichen Zeugen führt und durch die er sehr schnell herausfindet, mit welchem Typus von Mensch er es zu tun hat. Archers Schlussfolgerungen und Beschreibungen sind dabei in brillant präziser Prosa verfasst, ohne überflüssige Worte, dafür voller schöner Vergleiche, die das Lesen einfach zu einem durchgängigen Vergnügen machen.
 Leseprobe Ross Macdonald - "Schwarzgeld"

Irvine Welsh – „Ein ordentlicher Ritt“

Samstag, 1. Oktober 2016

(Heyne, 448 S., Pb.)
Terry „Juice“ Lawson zählt sicher nicht zu den charmantesten Taxifahrern in Edinburgh. Die anhaltenden Straßenbahnarbeiten nimmt er gern als Ausrede, um mit seinen ahnungslosen Kunden unerhört weite Umwege zu fahren, seine männlichen Kunden schwallt er erbarmungslos in der Hoffnung auf ein sattes Trinkgeld zu, während sich weibliche Kundschaft oft genug mit dem Fahrer zusammen auf dem Rücksitz wiederfindet. Als gelegentlicher Pornodarsteller ist es Terry schließlich gewohnt, sich jedes ihm bietende Loch zu stopfen.
Etwas Abwechslung in seinen Alltag bringt der amerikanische Fernsehstar und einflussreiche Baumagnat Ronald Checker, der Geschäftliches in Schottland zu erledigen hat und Terry gern als Stammfahrer engagieren möchte. Allerdings muss er auch für den Puffbesitzer Victor „die Schwuchtel“ Syme ein Auge auf dessen Schuppen werfen, in dem Kelvin nicht gerade pfleglich mit den Mädchen umgeht.
Unter ihnen zählt vor allem Jinty, die Freundin von Terrys nicht ganz so hellen, aber umso besser bestückten Stiefbruders Jonty, zur besseren Ware. Doch nach einer Hurrikanwarnung für Schottlands Ostküste und einem Zwischenfall im Pub With No Name verschwindet Jinty spurlos. Und Terry muss auf die Schnelle Golf spielen lernen, weil Terry mit einem dänischen Investor um eine seltene Whisky-Flasche ein Doppel angesetzt hat, und sich um seine zwei unehelichen Söhne kümmern. Daneben muss aber eben auch immer Zeit für einen ordentlichen Fick sein.
„Nix gegen einen Fick auf der Rückbank vom Taxi, doch ne schöne Luxussuite is natürlich unschlagbar. Eins habe ich über die Jahre gelernt: Wenn das Schicksal dich wien Pferd bestückt hat, dann musste das verdammt noch mal auch ausnutzen. Und wenns dich außerdem mit ner Zunge so lang wien Schal von Doctor Who beschenkt hat, dann sollteste auch die einsetzen.“ (S. 111) 
Als Autor des erfolgreich von Danny Boyle verfilmten Romans „Trainspotting“ ist der in Schottland geborene und mittlerweile in Chicago lebende Irvine Welsh weltberühmt geworden und hat sich seitdem mit Romanen wie „Drecksau“ und „Porno“ als lautstarke Stimme der Undergroundliteratur etabliert.
Mit „Ein ordentlicher Ritt“ beweist Welsh einmal mehr, dass er ein unnachahmliches Gespür für ausgefallene, um nicht zu sagen eigentlich unsympathische Figuren besitzt, die er jeweils überwiegend als Ich-Erzähler auftreten lässt und dabei auch ihren zunächst gewöhnungsbedürftigen Sprachduktus übernimmt. Besonders interessant gestaltet sich die ungewöhnliche Kombination des ständig herumvögelnden Taxifahrers, Pornodarstellers und Kleinkriminellen Terry Juice und dem selbstgefälligen Ami-Promi, die zu besseren Freunden werden, als man zunächst annehmen dürfte. Die Story entwickelt sich dabei so rasend schnell wie ein wilder Ritt mit Terrys Taxi durch Edinburgh und bringt eine ganze Handvoll interessanter Charaktere zutage, so den ebenfalls als Ich-Erzähler auftretenden Jonty, der als Maler sein Geld verdient und naiverweise davon ausgeht, dass seine hübsche Freundin Jinty als Putzfrau ihren Teil zum gemeinsamen Lebensunterhalt beisteuert.
Wie der Autor den ungewöhnlichen Hurrikan, Terrys Umgang mit seinen familiären Verhältnissen und den unzähligen Frauen in seinem Leben, die Tücken der Jagd nach der begehrten Whisky-Flasche und die Ermittlungen im Fall der verschwundenen Jinty miteinander verknüpft, ist schon virtuos und extrem unterhaltsam, aber eben nichts für zartbesaitete Gemüter.
Wer sich nicht an den ausufernden Sex-Episoden und dem rohen Sprachstil stört, wird mit einem mehr als nur ordentlichen Ritt belohnt.
 Leseprobe Irvine Welsh - "Ein ordentlicher Ritt"

Ethan Hawke – „Hin und weg“

Freitag, 30. September 2016

(Kiepenheuer & Witsch, 207 S., HC)
Als der 20-jährige Schauspieler William Harding in der New Yorker Bar The Bitter End die Sängerin Sarah kennenlernt, verliebt er sich augenblicklich in sie. Sie ist gerade aus Seattle zurück nach New York gekommen, nachdem sie eine dreijährige Beziehung beendet hatte, und hat bislang nur Bücher von schwarzen Autorinnen gelesen.
Sarah liest ihm Gedichte vor, bis sie sich wild küssen, doch sie wehrt sich lange dagegen, mit William zu schlafen, was ihn wiederum ganz verrückt macht. Trotzdem zieht Sarah bei ihm ein, bis ihre eigene Wohnung fertig ist.
Bei einem gemeinsamen Trip nach Paris wird auch die letzte Hürde genommen. Weil William noch für eine Rolle in der Stadt bleibt, sehen sie sich vier Wochen lang nicht, und bei seiner Rückkehr nach New York findet er Sarah völlig entfremdet vor …
„Ich wusste, wenn es mit Sarah nicht klappte, würde es nie mit einer Frau klappen. Ich würde bestimmt als ein kauziges, weinerliches Muttersöhnchen enden, das sich in der Ecke einen runterholte. Ich wünschte, ich wäre bei meinem Vater aufgewachsen. Offensichtlich hatte ich nicht die geringste Ahnung, wie Männer sich zu verhalten hatten.“ (S. 144) 
Als Hauptdarsteller in Filmen wie „Reality Bites – Voll das Leben“, „Der Club der toten Dichter“, „Before Sunrise“ und „Schnee, der auf Zedern fällt“ hat es der amerikanische Schauspieler Ethan Hawke zu internationaler Anerkennung gebracht. Dass er allerdings auch herzerweichend schreiben kann, bewies er 1996 mit seinem Debütroman „Hin und weg“, auf den 2002 „Aschermittwoch“ und in diesem Jahr „Regeln für einen Ritter“ folgten.
Aus der Perspektive seines Ich-Erzählers William beschreibt der Schauspieler-Autor einfühlsam all die widersprüchlichsten Gefühle, die mit einer ersten großen Liebe verbunden sind, eine Achterbahnfahrt zwischen unvorstellbarem Begehren und niederschmetternden Ängsten vor Zurückweisung.
In lebendigen Dialogen und melancholisch angehauchten Monologen fächert der leidenschaftliche Twen das ganze Spektrum der alles verzehrenden Liebe und Leidenschaft auf, die nur für eine sehr kurze Zeit die volle Erfüllung finden. Was „Hin und weg“ besonders lesenswert macht, sind die erst leisen, dann lauter werdenden Zweifel an der glücklichen Entwicklung der Beziehung, die Streitgespräche, die die jeweiligen Ängste so treffend zum Ausdruck bringen, Williams immer wieder eingestreuten Erinnerungen an seine frühere Freundin Samantha und die Zeit mit seinen Eltern und seinem Freund Decker.
Ethan Hawke gelingt es, auf gerade mal 200 Seiten das ganze Panoptikum der Liebe in all ihren schillernden Facetten zu beschreiben, und zwar so, als würde der Leser selbst noch einmal die lust- und schmerzvollen Erinnerungen an die eigene erste Liebe wiederentdecken.

Patricia Cornwell – (Kay Scarpetta: 23) „Paranoia“

Dienstag, 27. September 2016

(Hoffmann und Campe, 494 S., HC)
Dr. Kay Scarpetta wurde in den Neunzigern Chief Medical Examiner in Virginia und Vormund ihrer damals zehnjährigen Nichte Lucy Farinelli, die beruflich zunächst eine Laufbahn beim FBI einschlug, bevor sie zum ATF (Bureau of Alcohol, Tobacco and Firearms) wechselte und ihre eigene forensische Computerfirma gründete.
Mittlerweile arbeitet die 35-Jährige mit ihrem Technologieunternehmen eng mit dem Institut ihrer Tante zusammen, dem Cambridge Forensic Center (CFC). Doch als Scarpetta mit der denkmalgeschützten Villa an der Grenze zum Campus von Harvard einen Tatort aufsucht, wo die halbnackte Leiche der 37-jährigen Chanel Gilbert von der Haushälterin entdeckt worden ist, gerät die Beziehung zu ihrer Cousine ins Wanken, als sie ein Video auf ihr Handy gesendet bekommt, das das Wohnzimmer der FBI-Akademie zeigt, wo Lucy vor über fünfzehn Jahren ihr Praktikum absolviert hat.
Das Video wurde – wie der Vorspann verrät – scheinbar von der Kriminellen Carrie Grethen im Juli 1997 gedreht, die vor dreizehn Jahren bei einem Hubschrauberabsturz ums Leben gekommen sein soll. Dass Lucy mit Carrie eine Beziehung hatte, erfüllt Scarpetta mit Besorgnis, denn offensichtlich hat Carrie mit der Videobotschaft mehr vor, als ihren Empfänger in Angst und Schrecken zu versetzen.
Auf jeden Fall kann die Forensikerin weder ihren Mann, FBI-Agent Benton Wesley, noch ihren Kollegen Pete Marino in das einweihen, was die Videobotschaften, die sich nach dem Abspielen automatisch löschen, präsentieren. Denn demnach hätten sowohl Lucy als auch Benton gegen das bundesweite Schusswaffengesetz verstoßen. Während Scarpetta mit ihren Kollegen von der Polizei zu enträtseln versucht, wie Chanel Gilbert zu Tode gekommen ist, durchsucht das FBI Lucys Anwesen.
Wie sich im Laufe des Tages herausstellt, scheint die tot geglaubte Carrie einen perfiden Plan zu verfolgen, sich sowohl an Lucy als auch an Scarpetta zu rächen. Und Scarpetta fragt sich allmählich, wem sie noch trauen kann …
„Wir sind es gewohnt, Geheimnisse für uns zu behalten. Manchmal lügen wir. Vielleicht führen wir einander bewusst in die Irre, indem wir Dinge absichtlich unter den Tisch fallen lassen, weil unser Beruf das verlangt. In Momenten wie diesem, während ein Helikopter des FBI über unseren Köpfen dröhnt und Agents das Anwesen meiner Nichte durchsuchen, frage ich mich, ob es das alles wert ist.“ (S. 149) 
1990 hat die ehemalige Polizei-Reporterin Patricia Cornwell mit der Figur der Gerichtsmedizinerin Kay Scarpetta eine der langlebigsten Figuren der modernen Krimigeschichte geschaffen und damit in den Anfangsjahren renommierte Preise wie den Gold Dagger oder Edgar Allan Poe Award einheimsen können. Mit ihrem bereits 23. Band der Reihe kann die in Miami geborene Autorin allerdings nicht mehr an ihre frühere Glanzzeit anknüpfen. Das liegt vor allem an dem sperrigen Plot, mit dem Cornwell kaum Spannung aufbauen kann. Die Handlung des mit 500 Seiten viel zu langen Romans beschränkt sich nur auf Lucys Anwesen und das Gilbert-Anwesen, wobei Scarpetta als Ich-Erzählerin in langatmigen Monologen ihre Erinnerungen an Lucys Werdegang und einen fast tödlich endenden Tauchervorfall rekapituliert, bei dem die Psychopathin Carrie Grethen Scarpettas Bein mit einer Harpune durchbohrt hatte.
Allerdings gelingt es Cornwell nicht, die beiden Schauplätze und die jeweiligen Handlungsstränge stimmig miteinander zu verbinden. Stattdessen wird eigentlich alles in Frage gestellt, an das sich Scarpetta erinnern und wem sie wirklich trauen kann. Erst im Finale türmen kommen weitere Leichen ins Spiel, doch werden die Vorfälle nur beiläufig erwähnt. Cornwell hält sich leider viel zu lange mit den ominösen Videobotschaften auf und langweilt ihre Leser mit nichtssagenden Spekulationen, Gefühlsregungen, Verdachtsmomenten und zunehmend in Frage gestellten Erinnerungen, so dass die Spannung vollkommen auf der Strecke bleibt.

Joe R. Lansdale – „Der Gott der Klinge“

Samstag, 24. September 2016

(Heyne, 400 S., Tb.)
Seit Becky Jones in ihrem eigenen Zuhause vergewaltigt worden ist, plagen sie schlimme Alpträume. Ihr Psychiater schlägt einen Tapetenwechsel vor, also fährt sie mit ihrem Mann Montgomery mit dem VW Golf in das abgelegen in einem Kiefernforst stehende Ferienhaus des befreundeten Paares Dean und Eva, doch auch hier verfolgen Becky düstere Visionen, in denen sie den Tod ihres Schänders Clyde erlebte.
Wenig später erhält sie die Nachricht, dass sich Clyde Edson tatsächlich wie in ihren Träumen im Gefängnis erhängt hat. Doch Becky und Monty kommen auch in dem idyllischen Blockhaus nicht zur Ruhe, denn längst haben sich Brian Blackwood und die anderen an Beckys Vergewaltigung beteiligten Männer in ihrem schwarzen 66er Chevy auf den Weg gemacht, Rache für den Tod ihres Anführers zu nehmen, wobei sie eine Spur von Toten hinter sich herziehen.
„Es ärgerte ihn, dass er diesen Highway-Cop nicht selbst umgelegt hatte – aber das war unvermeidbar gewesen, schließlich hatte Loony Tunes die Flinte gehabt, und das war nur gerecht. Trotzdem hob es kaum seine Laune, einem toten Cop in die Eier zu treten, es stillte nicht seinen Drang zu töten; ständig juckte es ihn (danke, Clyde, für dieses Ekzem, denn es ist ein gutes Gefühl, sich dort zu kratzen).
Schon bald, morgen Nacht, würde er wieder daran kratzen. Er hatte zwei Morde geplant – nun, um genau zu sein: Exekutionen. Doch bevor diese Exekutionen über die Bühne gingen, würden die Opfer spüren, was Todesangst ist.“ (S. 87f.) 
1987 erschien in den USA die Originalausgabe von „Nightrunners“ und avancierte bald zu einem modernen Klassiker der Horror-Literatur, der sogar mit einer eigenen Anthologie-Sammlung gehuldigt worden ist. Im Laufe der Zeit hat Lansdale verschiedene Kurzgeschichten über den „Gott der Klinge“ verfasst, der im Roman eigentlich nur kurz in Erscheinung tritt und für das übernatürliche Element in ihm verantwortlich zeichnet.
Zum 20-jährigen Jubiläum ist dieses Frühwerk des mittlerweile prominenten texanischen Autors, dessen Werk hierzulande bei Heyne, Suhrkamp und Golkonda verlegt wird, nicht nur neu übersetzt, sondern um sechs mehr oder weniger kurze Geschichten aus dem „Gott der Klinge“-Universum ergänzt worden.
Der Roman „Nightrunners“ bedient sich dabei ausgiebig vertrauter Motive des „Rape & Revenge“-Genres und wie schon Lansdales „Drive-in“-Trilogie auch der modernen Filmgeschichte. Dabei zählt „Nightrunners“ mit Sicherheit nicht zu Lansdales besten Werken, auch wenn Dean Koontz in seinem überschwänglichen Vorwort zum Roman betont, dass dieser vor ungezähmter Kraft und Originalität strotzt. Tatsächlich gelingt es Lansdale, seinen Figuren Tiefe zu verleihen, selbst den in der Regel eindimensional gezeichneten Bösewichten, die die Nightrunners darstellen. Zudem sorgt ein großes Maß an brutaler Härte, dass Fans von Richard Laymon und Jack Ketchum sicher auf ihre Kosten kommen. Allerdings mangelt es zumindest dem Roman an erzählerischer Stringenz.
In dieser Hinsicht können die nachfolgenden Kurzgeschichten, denen der Autor jeweils einleitende Worte voranstellt, größtenteils mehr überzeugen, beispielsweise „Der Gott der Klinge“, wo ein Antiquitätenhändler im Keller eines fremden Hauses eine mehr als unerfreuliche Begegnung mit einem jungen Mann und dessen Rasiermesser hat, oder „König der Schatten“, wo sich Leroy mit der Tatsache anfreunden muss, auf einmal den elfjährigen Draighton als kleinen Bruder vorgesetzt zu bekommen, der den gewalttätigen Tod seiner Eltern überraschend gut verkraftet hat …
Auch wenn „Der Gott der Klinge“ noch weit entfernt von Lansdales späterer Klasse als Geschichtenerzähler ist, hat der geradlinige, düstere Horror dieses Frühwerks stellenweise durchaus seinen Reiz.