Philippe Djian – „Erogene Zone“

Mittwoch, 28. Dezember 2016

(Diogenes, 330 S., Tb.)
Der 34-jährige Schriftsteller Philippe Djian befindet sich gerade in einer extrem produktiven Schaffensphase, auf gut 100 vollgekritzelte Seiten kann er in den letzten Tagen zurückblicken, da schneit ihm die 18-jährige Cécilia auf der Flucht vor einem Mann ins Haus und bringt Djian fast um den Verstand. Doch das ist nicht die einzige Frau, die das Leben des Schriftstellers in kürzester Zeit aus den Fugen platzen lässt. Auf der Geburtstagsfeier seiner guten Freundin Annie, die zugleich die Schwester seines eigentlich einzigen Freundes Yan ist, trifft er auch Nina wieder, mit der noch vor ein paar Monaten zusammen gewesen ist und die er nach wie vor für das schönste Mädchen hält, das er je gehabt hatte.
Sie bittet ihren Ex, auf ihre achtjährige Tochter Lili aufzupassen, da sich Lilis Vater scheinbar nicht wie abgesprochen um das Mädchen kümmern kann, wenn Nina sich im Krankenhaus einer OP unterziehen muss.
Mit zwei jungen Mädchen im Haus lässt es sich nun gar nicht mehr so flott arbeiten, und der Schriftsteller ist ziemlich angefressen, als er erfahren muss, dass Nina gar nicht im Krankenhaus liegt, sondern einfach das Weite gesucht hat …
„Ich setzte mich wieder an die Arbeit, während alle anderen ausgingen, um sich zu amüsieren und um zu bumsen, und ich, ich hatte nicht die geringste Gelegenheit, das eines Tages nachzuholen, das war schon ziemlich beschissen, und wo ich einmal dabei war, fragte ich mich, was Nina eigentlich trieb, warum sie nicht da war. Ich verfasste auf die Schnelle ein kleines, wütendes Gedicht über die Unannehmlichkeiten, die das Zusammenleben mit sich bringt, aber es gelang mir nicht, das Problem erschöpfend zu behandeln.“ (S. 187) 
Bevor der französische Autor Philippe Djian den internationalen Durchbruch mit dem durch Jean-Jacques Beineix erfolgreich verfilmten Roman „Betty Blue, 37,2 Grad am Morgen“ schaffte, legte er mit dem Erzählband „50 gegen Einen“ und den Romanen „Blau wie die Hölle“ und „Erogene Zone“ mehr als nur stilistische Fingerübungen vor.
„Erogene Zone“ enthält bereits alle Zutaten, die Djians Werk bis heute auszeichnen, wobei der Ich-Erzähler manchmal Djians Namen trägt oder auch nicht, aber stets als Alter Ego des Autors fungieren darf.
In diesem Fall müht sich Philippe Djian als Getriebener zwischen seinem Werk als Schriftsteller und seiner Liebe zu den Frauen. Der Leser merkt schnell, dass beides schwer zu vereinbaren ist, aber manchmal dienen die Frauen ihm auch als Muse und nicht als erotische Verführungen. Wie der Ich-Erzähler dabei immer mal wieder betont, geht es ihm vor allem um den richtigen Stil, und hier erweist sich Djian tatsächlich als Meister der klaren, direkten Worte, der kraftvollen Sprache, die die Handlung und die schnittigen Dialoge wirbelnd vorantreibt.
Das Ringen um den treffenden Satz, die passende Beschreibung ist bei Djian und seinem Alter Ego ebenso zu spüren wie seine Leidenschaft für die Frauen, und seine Beschreibungen der erotischen Begegnungen sind ganz und gar nicht pornographisch, sondern demonstrieren nur sein Ringen um das Glück, das ihm Frauen bescheren.

Ian McEwan – „Am Strand“

Sonntag, 25. Dezember 2016

(Diogenes, 208 S., HC)
Nach ihrer Trauung in der Kirche St. Mary in Oxford stehen Florence und Edward kurz vor dem Vollzug ihrer Ehe. Noch sitzen sie in der Hochzeitssuite eines georgianischen Landhauses am Strand von Chesil Beach beim Abendessen, doch durch die offene Tür lässt sich bereits ein Blick auf das schmale Himmelsbett erhaschen, auf dem sich Edward am Ziel seiner Träume sieht. Im Jahr 1962 liegt die sexuelle Revolution noch in einiger Ferne, sowohl Edward und Florence können in dieser Hinsicht keine nennenswerten Erfahrungen aufweisen. Während Edward zumindest exzessiv masturbiert, ist seine junge Frau vor allem von Angst und Ekel erfüllt, wenn sie an den bevorstehenden Geschlechtsverkehr denkt.
Für Edward ist es die Erfüllung seiner Träume, endlich mit seiner geliebten Florence auf die intimste Weise vereint zu sein, für Florence dagegen eine mehr als lästige Pflichterfüllung, ein Preis, den sie dafür bezahlen muss, mit Edward zusammen sein zu dürfen. Die Katastrophe ist natürlich vorprogrammiert.
„Und was stand ihnen im Weg? Ihr Charakter und ihre Vergangenheit, Unwissen und Furcht, Schüchternheit und Prüderie, innere Verbote, mangelnde Erfahrung und fehlende Lockerheit, und dann noch der Rattenschwanz religiöser Verbote, ihre englische Herkunft, ihre Klassenzugehörigkeit und die Geschichte selbst. Also nicht gerade wenig.“ (S. 122) 
Bevor es überhaupt zu der von vornherein problembeladenen Vereinigung kommt, spritzt Edward seinen Samen über Florences Leib, die daraufhin von Ekel gepeinigt fluchtartig die Suite verlässt und zum Strand läuft. Edward, selbst zutiefst frustriert von dieser blamablen Episode, eilt ihr hinterher und stellt seine Frau zur Rede, die ihm einen ungewöhnlichen Vorschlag unterbreitet …
Ian McEwan hat sich bereits mit seinem Debüt, der Kurzgeschichtensammlung „Erste Liebe – letzte Riten“ (1975), als Meister der kurzen Erzählform erwiesen, die er für die meisten seiner Romane nahezu übernommen hat. Mit seinem 2007 veröffentlichten Roman „Am Strand“ erzählt er auf gerade mal 200 Seiten die Geschichte einer desillusionierenden Hochzeitsnacht.
Im Vorfrühling der sexuellen Revolution prallen zwei vollkommen unterschiedliche Erwartungshaltungen zusammen, mit denen ein junges Ehepaar sein „erstes Mal“ miteinander vollzieht, ohne dass vorher darüber gesprochen worden ist. Meisterhaft dringt McEwan in die jeweilige Psyche von Mann und Frau ein, rekapituliert die unausgesprochenen Ängste, Frustrationen und Glücksgefühle, und während der Leser mit Spannung mitfiebert, wie Edward und Florence in dieser prüden Atmosphäre zusammenkommen, unterbricht er die detaillierte Erzählung immer wieder mit Rückblicken aus der persönlichen Entwicklungsgeschichte der beiden Protagonisten, die sich am Ende unversöhnlich gegenüberstehen, wütend mit den Konsequenzen hadernd, mit denen sie sich nun nach ihrer vorhergegangenen Sprachlosigkeit und Unsicherheit auseinandersetzen müssen.
Auch wenn uns in der heutigen aufgeklärten und so offenen Zeit die thematisierte Unbeholfenheit in Sachen Sex merkwürdig und fremd anmutet, gelingt es McEwan souverän, seine Leser mit großem Einfühlungsvermögen in dieses außergewöhnliche Kammerspiel einzuführen und seine durchaus gebildeten Figuren ihr vermeintliches Glück an die Wand zu fahren, weil sie einfach nicht in der Lage sind, ihre Bedürfnisse zu artikulieren.
Leseprobe Ian McEwan - "Am Strand"

Jilliane Hoffman – (Bobby Dees: 2) „Insomnia“

Samstag, 24. Dezember 2016

(Wunderlich, 477 S., HC)
Als Virginia Knight ihre 17-jährige Tochter Mallory beim Broward Sheriff’s Office als vermisst meldet, als sie nach einer Party nicht nach Hause gekommen ist, gerät zunächst ihr Freund Tyler Armstrong ins Visier der Ermittlungen. Doch als Mallorys mit Blut besprenkelte Jacke und Handy in einem abgelegenen Waldstück gefunden werden, sieht FDLE Special-Agent Bobby Dees bei der Crimes Against Children Squad sofort einen Zusammenhang mit einer ganzen Reihe von Morden an Mädchen, denen Mallory verblüffend ähnlich sieht.
In den Medien wird der Killer, der seinen Opfer über Landesgrenzen hinweg und über einen längeren Zeitraum nachstellt und sie mit seinen Werkzeugen zu Tode foltert, als Hammermann bezeichnet. Als Mallory zwei Tage später in einer Biker-Bar in Süd-Florida wieder auftaucht, behauptet sie, dem Hammermann entkommen zu sein. Doch weder Dees noch seine Kollegen von der Taskforce in Jacksonville können Verbindungen zu den Fällen in Orlando, Nord-Florida und Georgia knüpfen, an denen der Hammermann bislang gewirkt hat. Tatsächlich hat sich Mallory allerdings zwei Tage lang versteckt, um dem Zorn ihrer Mutter zu entkommen. Durch ihre Lügengeschichte ist Mallory gezwungen, die Stadt zu verlassen. Vier Jahre später studiert sie als Callie Monahan Jura an der Universität von Tallahassee und gelangt diesmal tatsächlich in die Gewalt des Killers, doch Bobby Dee und sein junger Kollege Colton Beck setzen alles daran, dem Treiben des Hammermanns endlich ein Ende zu setzen.
„Jeder Tag war ein Rennen gegen die Zeit, auf der Suche nach einem gesichtslosen Sadisten, der wieder zuschlagen würde, so sicher, wie morgens die Sonne aufging. (…) Man versuchte nicht obsessiv zu werden, aber es war unmöglich. Denn tief drinnen wusste man, egal wie sorgfältig, egal wie engagiert, egal wie fleißig man war – egal wie gut man in seinem Beruf war, trotzdem trug man die Verantwortung für das Gemetzel, wenn man es nicht endlich aufhielt.“ (S. 201) 
Als ehemalige Staatsanwältin in Florida kennt Jilliane Hoffman das Metier, über das sie schreibt, und mit Cupido, Picasso und Morpheus hat die Autorin bereits einige illustre Serienkiller geschaffen, die mit ihrem Treiben die internationalen Bestsellerlisten geprägt haben. Doch wie viele ihrer KollegInnen kämpft auch Hoffman mittlerweile mit dem Problem, dem Serienkiller-Genre neue Facetten abgewinnen zu können. Mit ihrem mittlerweile siebten Roman „Insomnia“ gelingt es ihr allerdings nicht mal im Ansatz. Nach einer wenig interessanten Einführung in die Psyche des Killers präsentiert Hoffman einen Plot, der weder besonders glaubwürdig, noch irgendwie spannend ist. Die oberflächlichen Charakterisierungen nicht nur der weiblichen Hauptfigur, sondern auch der involvierten Kriminalbeamten, tragen nicht dazu bei, Sympathien für die tragische Heldin zu entwickeln oder der Jagd auf den Hammermann mit Interesse zu folgen.
„Insomnia“ wirkt erschreckend ambitionslos, in einfacher Sprache wie am Reißbrett konstruiert und mit den obligatorischen Wendungen im Finale versehen, die der unglaubwürdigen Story letztlich den Rest geben.
Leseprobe Jilliane Hoffman - "Insomnia"

Lee Child – (Jack Reacher: 3) „Sein wahres Gesicht“

Samstag, 17. Dezember 2016

(Blanvalet, 502 S., Tb.)
Nachdem Jack Reacher als Soldaten-Sohn und schließlich selbst als Elite-Soldat und Ermittler bei der Militärpolizei überall auf der Welt zuhause gewesen ist, genießt er es, seit seiner Freistellung vor einigen Jahren endlich seine eigentliche Heimat kennenzulernen. Momentan lebt er in Key West, Florida, und verdient sich seinen Lebensunterhalt mit dem Ausgraben von Swimming Pools und als Aufpasser in einer Oben-ohne-Bar. Doch dann taucht ein Privatdetektiv namens Costello auf, der ihn im Auftrag einer Mrs. Jacob ausfindig machen soll. Da Reacher keine Mrs. Jacob kennt, gibt er sich nicht zu erkennen, nur um wenig später festzustellen, dass Costello von zwei Killern ermordet worden ist, die ebenfalls nach ihm suchen.
Natürlich will Reacher herausfinden, wer diese geheimnisvolle Mrs. Jacob ist, und reist nach New York, wo er erfahren muss, dass sein alter Mentor Leon Garber beerdigt wird und seine schöne Tochter Jodie unter dem Namen Jacob nach ihm suchen ließ. Sie ist mittlerweile eine erfolgreiche Anwältin und macht Reacher mit dem Fall der Hobies vertraut, mit dem sich der alte Garber vor seinem Tod beschäftigt hat.
Das alte Ehepaar sucht nach wie vor nach ihrem Sohn Victor, der vor fast dreißig Jahren in Vietnam nach einem Hubschrauber-Absturz vermisst wird. Als sich Reacher auf die Spurensuche beim Militär macht, erfährt er, dass Hobie den Absturz überlebt haben soll, im Lazarett aber einen Sanitäter tötete und seitdem auf der Flucht ist. Tatsächlich ist Hobie längst in seine Heimat zurückgekehrt und sich als Kredithai ein Vermögen aufgebaut. Derzeit versucht er den von Pech und Unvermögen gezeichneten Kleinindustriellen Chester Stone um Firma, Frau und Privatvermögen zu bringen. Dabei läuft ihm allerdings die Zeit davon, denn seine wahre Identität scheint bald entschlüsselt zu werden.
Während ihrer gemeinsamen Ermittlungstätigkeit kommen sich Reacher und Jodie endlich so nahe, wie sie es sich schon vor Jahren, als Jodie noch zarte 15 Jahre jung gewesen war, erträumt hatten.
Die Flitterwochen sind vorüber, Kumpel! Dein Leben hat sich verändert, und die eigentlichen Probleme fangen erst an. Er hatte diese Situation ignoriert. Aber er war sich bewusst, dass er erstmals etwas besaß, das ihm genommen werden konnte. Er hatte jemanden, um den er sich Sorgen machen musste. Das war ein Vergnügen, aber auch eine Belastung.“ (S. 362) 
Nach den ersten beiden absolut gelungenen Romanen um den Militärpolizist-Veteranen Jack Reacher, der nach seiner Freistellung vom Militärdienst eher ziel- und besitzlos durch die Vereinigten Staaten von Amerika zieht und dabei immer wieder in Situationen gerät, bei denen sein Ermittler-Instinkt aktiviert wird, fällt der dritte Band deutlich ab. Das liegt nicht nur an dem stark abgegriffenen Plot, der das US-amerikanische Vietnam-Trauma mit unerträglichem Pathos thematisiert, sondern auch an der wenig glaubwürdigen Liaison zwischen Reacher und der schönen Tochter seines ehemaligen Vorgesetzten und väterlichen Freundes Leon Garber.
Was den Leser zwischen den 500 Seiten immer wieder bei Laune hält, ist die eigentliche Ermittlungstätigkeit des charismatischen Protagonisten Jack Reacher, der in „Sein wahres Gesicht“ allerdings seiner alten Form in jeder Hinsicht hinterherläuft. Von Spannung und Action, herausragende Merkmale der ersten beiden Reacher-Bände „Größenwahn“ und „Ausgeliefert“, fehlt fast jede Spur, und auch das holprige Finale enttäuscht auf ganzer Linie.
Die interessante Frage, was Reacher eigentlich aus seinem Leben machen soll, wird zwar kurz angerissen, aber nicht wieder aufgegriffen, so dass sich Reacher-Fans erst wieder mit den nachfolgenden Bänden gut unterhalten lassen dürfen.  
Leseprobe Lee Child - "Sein wahres Gesicht"

Linwood Barclay – (Promise Falls: 2) „Lügennacht“

Sonntag, 11. Dezember 2016

(Knaur, 497 S., Pb.)
In Promise Falls, einer Kleinstadt an der US-amerikanischen Ostküste, gehen buchstäblich allmählich die Lichter aus. Nachdem bereits der Journalist David Harwood aus Boston in seine Heimatstadt zurückgekehrt war, um bei der Lokalzeitung anzuheuern, die gleich darauf eingestellt wurde, öffnet nun mit dem Constellation auch das Autokino der Stadt zum letzten Mal seine Tore.
Wie üblich sollen auch bei der Abschiedsvorstellung drei Filme hintereinander gezeigt werden, um sowohl für die Kleinsten als auch für die Erwachsenen etwas zu bieten. Doch bevor der erste Film auf der Leinwand läuft, führt eine kleine Explosion dazu, dass die Leinwand in das Publikum fällt und vier Menschen zu Tode quetscht, darunter auch Adam Chalmers und vermutlich seine bis zur Unkenntlichkeit verstümmelte Frau Miriam.
Während der Constellation-Besitzer Derek Grayson davon ausgeht, dass die beauftragte Abrissfirma für den Unfall verantwortlich ist, will Ex-Bürgermeister Randy Finley die Katastrophe für seine erneute Kandidatur ausschlachten. Die Ermittlungen von Polizeichef Barry Duckworth kommen zunächst nicht voran, doch dann scheinen sich Verbindungen zu früheren Vorfällen aufzutun, in denen die Zahl 23 eine Rolle gespielt hatte, schließlich stürzte die Leinwand um 23:23 Uhr zusammen.
„Nun stellte sich die Frage, ob er diese Information, so spekulativ sie auch sein mochte, publik machen sollte. Vielleicht war es Zeit, die Öffentlichkeit um Mithilfe zu bitten. Irgendjemand wusste möglicherweise etwas. Vielleicht gab es in einer Familie ein Sorgenkind, einen Verwandten mit einer unerklärlichen Fixierung auf diese Zahl. Wenn Psalm 23 eine Rolle spielte – ‚Und ob ich schon wanderte im finstern Tal / fürchte ich kein Unglück‘ – war vielleicht ein religiöser Eiferer am Werk.“ (S. 126) 
Doch auch der Mord an Olivia Fisher vor drei Jahren und nun an Rosemary Gaynor hält den Detective auf Trab. Auch hier scheint es eine noch nicht aufgedeckte Verknüpfung zu geben. Währenddessen wird der Privatermittler Cal Weaver von Adam Chalmers-Tochter Lucy Brighton beauftragt, den Einbruch in das Haus ihrer Eltern aufzuklären. Dabei stößt er auf ein geheimes Zimmer, in dem offensichtlich Sextreffen stattfanden und auf Video aufgezeichnet wurden. Die dazugehörigen DVDs sind allerdings verschwunden …
Nachdem in „Lügennest“ der nach Promise Falls zurückgekehrte Reporter David Harwood als Ich-Erzähler fungierte und die merkwürdigen Vorkommnisse in der Kleinstadt untersuchte, setzt Linwood Barclay im zweiten Band seiner Trilogie nun den ebenfalls von außerhalb zugereisten Privatermittler Cal Weaver als Erzähler ein, der allerdings auch ein alter Bekannter von Detective Duckworth ist.
Auch wenn es bereits in Band I eine Vielzahl von Nebensträngen gab, die auf die zusammenhängende Bedeutung der Zahl 23 ausgerichtet war, war der Plot doch straff gestrickt und spannend zu lesen. Im nun vorliegenden Folgeband verzettelt sich der Autor allerdings zunehmend in einem unüberschaubaren Geflecht von Handlungen, die logischerweise an das Geschehen in „Lügennest“ anknüpfen, aber nur noch angerissen werden.
Allerdings kommen nun noch so viele neue Figuren und Verstrickungen dazu, dass dabei nicht nur die Spannung, sondern vor allem auch die Figurenzeichnung auf der Strecke bleibt. Das ist insofern schade, als dass viele Figuren – wie der Reporter, der Privatermittler, der Detective und Harwoods Love Interest Samantha – interessant genug erscheinen, um differenzierter ausgestaltet zu werden. Auf der anderen Seite wird die Ermittlungsarbeit eher skizzenhaft abgerissen, worunter die Atmosphäre leidet.
Bleibt nur zu hoffen, dass der abschließende Band „Lügenfalle“ wieder die Kurve bekommt, sich besser auf die Haupthandlung zu fokussieren versteht und die vielversprechend begonnene Trilogie zu einem versöhnlichen Ausklang bringt.
 Leseprobe Linwood Barclay - "Promise Falls II: Lügennacht"

Michael Connelly – (Harry Bosch: 17) „Scharfschuss“

Mittwoch, 30. November 2016

(Droemer, 463 S., HC)
Da die Kriminalitätsrate in Los Angeles in jüngster Vergangenheit deutlich zurückgegangen war, haben sich die Ermittlungsbemühungen des LAPD zur Aufklärung sogenannter kalter Fälle verschoben, mit denen sich ein Jahr vor seiner geplanten Pensionierung auch Detective Harry Bosch mit seiner neuen Kollegin Lucy Soto beschäftigt.
Als sie der Autopsie des mexikanischen Musikers Orlando Mercer beiwohnen, stellt die Pathologin Corazon fest, dass das Opfer an einer Blutvergiftung gestorben ist, die durch die Gewehrkugel verursacht wurde, die sich der Musiker einer Mariachi-Band vor zehn Jahren in der Wirbelsäule eingefangen hat. Bosch und Soto rollen den Fall neu auf und stellen fest, dass Merced mit seiner Band drei Monate zuvor bei der Hochzeitsfeier des Stadtrats Armando Zeyas gespielt hatte, der mittlerweile für das Amt des Bürgermeisters kandidiert. Bei der nochmaligen Sichtung der Überwachungsvideos und der sichergestellten Beweise kommen Bosch und Soto zu dem Schluss, dass das Attentat gar nicht Merced gegolten hatte, sondern dem Trompetenspieler der Band, Angel Ojeda, der scheinbar eine Affäre mit der Frau des erfolgreichen Geschäftsmannes Charles „Brouss“ Broussard unterhielt, der Zeyas im Wahlkampf unterstützt hatte.
Es scheint aber auch Verbindungen zum einem Brand zu geben, der damals in der Nähe des Tatorts in einer illegalen Kindertagesstätte ausgebrochen war und bei dem Soto fünf ihrer Freunde verloren hat. Bei der weiteren Spurensuche stoßen sie auf die mutmaßliche Tatwaffe, ein Kimber Model 84 Gewehr, das sie bis zu dem Waffenhändler David Alexander Willman zurückverfolgen können, der während einer Jagd versehentlich von seinem Freund Broussard erschossen wurde. Die erfolgreiche Suche nach dem Gewehr könnte der Schlüssel zur Auflösung des Mordes an Merced sein …
„Das Gewehr war vielleicht längst verschwunden. Wenn Willman es nicht unmittelbar nach dem Schuss auf Merced entsorgt hatte, hatte wahrscheinlich Broussard es verschwinden lassen, nachdem er Willman umgebracht hatte.
Das waren alles nur Spekulationen, wusste Bosch, aber es war nicht auszuschließen, dass Willman so klug gewesen war, das Gewehr zu behalten, um es nötigenfalls als Druckmittel gegen seinen Freund Broussard einzusetzen.“ (S. 261) 
In seinem bereits 17. Fall hat es Detective Hieronymus „Harry“ Bosch gleich mit mehreren Frauen zu tun, wobei die eingangs erwähnte Pathologin Corazon nur eine kurze Affäre mit Bosch gehabt hatte, während der Cop mit der zum Ende hin in Erscheinung tretenden FBI-Agentin Rachel Walling schon auf eine längere Beziehung zurückblicken konnte. Eine etwas größere Rolle nimmt Boschs Teenager Tochter Maddie ein, mit der er allerdings zu wenig Zeit verbringt. Interessanter ist die Beziehung, die Routinier Bosch zu der 28-jährigen Lucy Soto aufbaut, die sich als ehrgeizige Ermittlerin entpuppt und Bosch eine große Unterstützung ist. Die beiden kalten Fälle, die Bosch und Soto zunächst unabhängig voneinander bearbeiten, haben es wirklich in sich.
Connelly erweist sich einmal mehr als Meister darin, in seinem dramaturgisch geschickt gestrickten Plot auf authentische Weise die mühsame Ermittlungsarbeit zu beschreiben, die aber immer wieder neue Puzzleteile und so neue Spuren ans Licht bringt, denen die Detectives verfolgen können, bis sie am Ende die losen Enden zusammenführen können. Der ehemalige Polizeireporter Connelly beweist dabei ebenso psychologisches Feingefühl wie einen ausgeprägten Sinn für überzeugende Figuren, so dass „Scharfschuss“ auf jeden Fall zu den stärksten Bänden in der erfolgreichen Bosch-Reihe darstellt.
Leseprobe Michael Connelly - "Scharfschuss"

Jeffery Deaver – (Lincoln Rhyme: 2) „Letzter Tanz“

Samstag, 26. November 2016

(Goldmann, 448 S., Tb.)
Lincoln Rhyme unterstützt FBI-Agent Fred Dellray gerade dabei, einen von seinen vermissten Agenten aufzuspüren, als er von den beiden Detectives Lon Sellitto und Jerry Banks auf einen dringenderen Fall angesetzt wird. Seit Monaten versuchen sie in gemeinsamer Sache mit der Army, dem erfolgreichen Geschäftsmann Phillip Hansen nachzuweisen, dass er nicht wie von ihm behauptet gebrauchte Armeeausrüstung verkaufte, sondern meist aus Armeebeständen gestohlene oder aus dem Ausland eingeschmuggelte Waffen. Nun scheint er einen berüchtigten Auftragsmörder, den sogenannten Totentänzer, auf die drei Belastungszeugen angesetzt zu haben.
Den 45-jährigen Edward Carney, Teilhaber der kleinen Fluglinie Hudson Air Charter, hat er bereits mit seinem Privatjet während des Landeanflugs auf den O’Hare Flughafen von Chicago mit einer Bombe aus dem Verkehr gezogen. Nun müssen noch seine ehemalige Partnerin und Mitgesellschafterin Percey Rachel Clay und Brit Hale bis zu ihrer Aussage vor der Grand Jury in Sicherheit gebracht werden. Rhyme soll nun herausfinden, wo die Sporttaschen abgeblieben sind, die Hansen vor seiner Festnahme hat verschwinden lassen. Dabei versucht Rhyme mit seiner Assistentin Amelia Sachs zunächst, die Identität des Totentänzers zu bestimmen, der seinen Namen einer Tätowierung auf dem Oberarm verdankt, bei der der Sensenmann mit einer Frau vor einem Sarg tanzt.
Doch während die beiden vor allem die Beweismittel vom Absturzort von Carneys Flugzeug untersuchen, stellen sie fest, dass der Killer bereits die Spur von Clay und Hale aufgenommen hat und ein Meister der Ablenkungsmanöver ist.
„Es gab keinen Verbrecher, den Rhyme mehr hasste als den Totentänzer, keinen, den er so brennend gern fassen wollte, um ihm einen Spieß durchs Herz zu jagen. Trotzdem, Rhyme war mehr als alles andere Kriminalist, und insgeheim hegte er Bewunderung für die Brillanz dieses Mannes.“ (S. 292)
Wie Jeffery Deaver in „Der Knochenjäger“, dem Auftakt seiner bis heute extrem erfolgreichen Reihe um Lincoln Rhyme, bereits ausführlich beschrieb, ist sein Protagonist alles andere als ein gewöhnlicher Ermittler. Der ehemalige Detective beim New Yorker Police Department ist nach einem Unfall während einer Tatortbesichtigung querschnittsgelähmt, wird aber wegen seiner Brillanz auf dem Gebiet der Forensik nach wie vor um Unterstützung von seinen ehemaligen Kollegen bei heiklen Fällen gebeten. Da Rhyme seine Expertisen vom Bett aus erstellen muss, hat er in der Polizistin Amelia Sachs eine fähige Assistentin gefunden, die für ihn die Laufarbeit und Beweismittelaufnahme an den Tatorten übernimmt.
Mit dem Totentänzer haben die beiden Ermittler einen besonders raffinierten Killer zu finden, der ihnen mit seinen wohldurchdachten Finten immer einen Schritt voraus ist und seinem Ziel, die beiden verbliebenen Zeugen auszuschalten, konsequent näherkommt.
Was Deaver auch in seinem zweiten Band um das charismatische Ermittlerpaar hervorragend gelingt, ist die Beschreibung der faszinierenden forensischen Arbeit, die der querschnittsgelähmte Rhyme nur noch von seinem Bett aus erledigen kann. Zwar kommen sich Rhyme und Sachs auch persönlich etwas näher, doch wird die Beziehung vorerst durch die weitaus weniger attraktive, aber nichtsdestotrotz willensstarke Percey gestört. Der nicht unerhebliche Schwachpunkt von „Letzter Tanz“ besteht allerdings in der wenig überzeugenden Charakterisierung des Totentänzers, dem man seine äußerst effektiven Täuschungsmanöver nicht so recht abnehmen will. Hinzu kommt, dass Deaver bei seinem Bemühen, gerade im Schlussdrittel noch einige „spannende“ Wendungen aus dem Hut zu zaubern, den Bogen überspannt und das Finale so arg überkonstruiert wirkt.