Philippe Djian – „Rückgrat“

Dienstag, 24. Januar 2017

(Diogenes, 418 S., Tb.)
Nachdem der einst erfolgreiche Schriftsteller Dan vor fünf Jahren von seiner Frau Franck verlassen worden ist, fehlt dem nun auf die Mitte Vierzig Zurasenden jegliche Inspiration. Allenfalls für Drehbücher, mit denen ihn in schöner, aber auch enervierender Regelmäßigkeit sein Agent Paul Sheller beglückt, reicht sein Esprit noch. Als dieser ihn allerdings geradezu anfleht, mit der dreißigjährigen Tochter des prominenten C.V. Bergen an ihrem Drehbuch zusammenzuarbeiten, platzt Danny der Kragen. Nichtsdestotrotz lässt er sich auf den Deal ein, schließlich ist er auf die regelmäßigen Schecks seines Agenten noch immer angewiesen, doch damit werden seine Probleme nicht weniger.
Sarah, die nach dem Selbstmord ihres Mannes Mat vor gut zwei Jahren, ebenso wie Dan sich durch allerlei kurzlebige Affären treiben lässt und Mutter von Gladys und Richard ist, ist Dannys beste Freundin, aber eigentlich besteht darüber hinaus auch eine erotische Anziehungskraft, die den Schriftsteller immer wieder verzweifeln lässt.
Auch seine Beziehung zu seiner aktuellen, extrem attraktiven Geliebten Eloïse Santa Rose gestaltet sich schwierig, immerhin ist sie als Sängerin viel unterwegs und kommt so zwangsläufig immer auch mit anderen Männern in Kontakt. Und als wäre das Leben nicht kompliziert genug, muss Dan auch zwischen seinem Sohn Hermann, der heimlich mit Gladys liiert ist, und seinem besten Freund Richard vermitteln, der als eifersüchtiger Bruder nicht ahnt, was sein bester Freund hinter seinem Rücken treibt.
Doch vor allem Sarah bereitet ihm immer wieder Kopfschmerzen, zumal sie sich gerade mit einem besonders unausstehlichen Typen zusammengetan hat …
„Ich habe ihr jahrelang zu Füßen gelegen, ich hätte alles Mögliche für sie getan … Aber das Oberste Gebot, Bumse nicht mit deiner besten Freundin, stand zwischen uns wie ein unheilvolles Schwert. Ich muss gestehen, dass das Resultat meinen Hoffnungen nicht gerecht wird … Kannst du mir verraten, was von dieser schönen Freundschaft bleibt, die wir auf meiner mühsamen Enthaltsamkeit und meinem so schmerzlichen Verzicht aufgebaut haben …?“ (S. 321) 
Auch mit seinem fünften Roman (nach „Blau wie die Hölle“, „Erogene Zone“, „Betty Blue – 37,2 Grad am Morgen“ und „Verraten und verkauft“) bleibt sich der französische Autor Philippe Djian treu. Wie in seinen vorangegangenen Werken steht auch in „Rückgrat“ ein Schriftsteller in Djians Alter im Mittelpunkt des Geschehens. Als Ich-Erzähler berichtet Dan von den Fehlschlägen in seinem Leben -der gescheiterten Ehe, der daraus resultierenden Flucht seiner Inspiration – und von den schwierigen Herausforderungen des Alltags, es seinem Agenten ebenso rechtzumachen wie seinem Sohn, seinen Freunden und Geliebten.
Dabei ist es gar nicht mal so spannend, wie die an sich übersichtliche Handlung vorangetrieben wird, sondern wie Djians Alter Ego seine inneren Kämpfe bestreitet, sein Gefühlschaos beschreibt, seine Beziehungen zu den Frauen in seinem Leben, zu seiner Arbeit und den Menschen um ihn herum, die ihm so viel Energie zu rauben scheinen. All das hat Djian wie gewohnt meisterhaft in eine glasklare Sprache gegossen und mit faszinierenden Beobachtungen über das Leben, die Liebe und die Kunst angereichtert.

Andrea De Carlo – „Wenn der Wind dreht“

Sonntag, 22. Januar 2017

(Diogenes, 427 S., HC)
Der erfolgreiche Immobilienmakler Alessio Cingaro wohnt zwar noch bei seiner Mutter, verfügt aber sonst über alle Annehmlichkeiten, die für Geld zu haben sind. Den nächsten großen Deal wähnt er bereits in der Tasche. An diesem Freitag fährt er nämlich mit vier miteinander befreundeten Klienten von Mailand ins umbrische Turigi, wo in absoluter Abgeschiedenheit ein traumhaftes Anwesen zum Verkauf steht. Doch wirklich entspannt gehen der Architekt Enrico Guardi, seine als Lektorin in einem renommierten Mailänder Verlag arbeitende Frau Luisa, die bekannte Fernsehshow-Moderatorin Margherita Novelli und der frisch geschiedene Arturo Vannucci, Vater zweier Kinder, die ihm seine Ex-Frau übers Wochenende kurzfristig aufs Auge drücken will, den Wochenendtrip nicht an.
Tatsächlich verfährt sich Alessio auf dem Weg zu den Häusern und gerät zu allem Überfluss mit dem Wagen in einen Graben, so dass der weitere Weg zu Fuß zurückgelegt werden muss. Als das Quintett sein Ziel endlich erreicht, muss die Reisegruppe erfahren, dass sich ihr Makler das Anwesen vorher gar nicht persönlich angesehen hat, dass er sich auch nicht der Tatsache bewusst gewesen ist, dass das Haupthaus noch immer bewohnt ist, und zwar von sehr ursprünglich lebenden Menschen, die den Tauschhandel längst aufgegeben haben und von dem leben, was sie selbst herstellen und sammeln.
Zunächst richten sich die Ressentiments der Kaufinteressenten gegen den Immobilienmakler, doch je mehr Zeit die vier vermeintlichen Freunde zwangsläufig miteinander in der Einöde ohne Funknetz und sonstiger Verbindung zur Außenwelt verbringen müssen, kommt ihre wahre Natur zum Vorschein.
„Margherita denkt, nur vor wenigen Jahren noch wäre das eine fantastische Gelegenheit gewesen, ihrer aller Kritikvermögen und Sinn für Ironie über sich und die Welt unter Beweis zu stellen, sie hätten spitzzüngige Bemerkungen und Witze gemacht und die ganze Nacht bis zum Morgengrauen wie verrückt gelacht. Jetzt hingegen sind sie vier Erfolgsmenschen, die infolge eines zeitweiligen Kontrollverlusts unter Schock stehen: Sie sind nur noch imstande, negative Daten zu registrieren und ihre restlichen Gedanken auf den morgigen Tag zu projizieren, an dem es ihnen auf die eine oder andere Weise gelingen wird, diesen Ort zu verlassen.“ (S. 117) 
Der italienische Bestseller-Autor Andrea De Carlo („Vögel in Käfigen und Volieren“, „Creamtrain“) beschreibt in seinem 2004 veröffentlichten und drei Jahre später auf Deutsch erschienenen Roman „Wenn der Wind dreht“ auf faszinierend eindringliche Weise das Zusammentreffen zweier ganz unterschiedlicher Lebensentwürfe.
Während die vier großstädtischen, mit allen Annehmlichkeiten der zivilisierten Konsumgesellschaft versorgten Erfolgsmenschen in den umbrischen Wäldern eine Oase der Ruhe und Entspannung suchen, streben Lauro, Mirta, Icaro, Gaia, Arup und Aria in ihrer selbstgewählten Kommune nach einem natürlicheren, komplett selbstbestimmten Leben. Jede Partei versucht der anderen die Vorzüge des eigenen Lebensstils schmackhaft zu machen, doch müssen alle Beteiligten im Verlauf ihrer erzwungenen Gesellschaft feststellen, dass sich jeder auch ordentlich in die Tasche lügt, um den Sinn und die Ausgestaltung seines Lebens zu rechtfertigen.
De Carlo entzieht sich dabei einer Bewertung, sondern macht in den lebendigen und pointierten Dialogen und inneren Einsichten seiner Protagonisten deutlich, dass das Leben nicht nur von selbstbestimmten Gewissheiten und Sicherheiten geprägt wird, sondern auch von Zweifeln und unerfüllten Sehnsüchten, die jedoch schwer einzugestehen sind. Das trifft in „Wenn der Wind dreht“ ebenso auf die in ihrem hektischen Alltag gefangenen Großstädter zu wie auf die ganz auf sich bezogenen Naturmenschen.
Faszinierend ist dabei vor allem zu verfolgen, wie jeder Einzelne nach dieser Reise eine persönliche Veränderung durchmacht, in der zumindest tief verwurzelte Gewissheiten zumindest angezweifelt werden.
Leseprobe Andrea De Carlo - "Wenn der Wind dreht"

Dennis Lehane – „Im Aufruhr jener Tage“

Samstag, 21. Januar 2017

(Ullstein, 760 S., HC)
Als sich der irischstämmige Danny Coughlin, Officer der Bostoner Polizei, im Rahmen der Charity-Veranstaltung „Boxing & Badges: Haymakers for Hope“ einen Vier-Runden-Kampf gegen einen seiner Kollegen liefert, nutzen die Cops der Special Squads Division unter der Leitung seines Patenonkels Eddie McKenna die Gelegenheit, um unter den großen anarchistischen, bolschewistischen, radikalen und subversiven Organisationen aufzuräumen.
Seit dem Bombenanschlag auf das Polizeirevier in der Salutation Street vor zwei Jahren und gemäß dem Espionage Act von 1917 können Bürger wegen ihrer regierungsfeindlichen Äußerungen verhaftet und deportiert werden. Allerdings müssten die ohnehin schlechtbezahlten, überarbeiteten Cops dann fast das komplette North End ihrer Stadt festnehmen. Um sich die unwürdigen Zustände auch in den Revieren nicht länger bieten zu lassen, planen die Cops einen Zusammenschluss des Wohltätigkeitsvereins Boston Social Club mit der nationalen Gewerkschaft AFL.
Danny ist zunächst skeptisch, als er von seinem Freund und Streifenpartner Steve Coyle darauf angesprochen wird, dass sich seine Chancen, zum Detective befördert zu werden, extrem verbessern würde, wenn er der Gewerkschaft beitreten würde, zumal er von seinem Vater, Captain Thomas Coughlin, Deputy Chief Madigan und seinem Onkel dazu angestiftet wird, in diesen subversiven Kreisen als Spion die Chefideologen ausfindig zu machen. Doch kaum hat Danny ein paar Treffen in der Fay Hall besucht, sympathisiert er mit den Plänen des BSC und entwickelt sich selbst zu einem charismatischen Wortführer, was ihn zunehmend seiner Familie entfremdet.
Dafür freundet er sich mit dem jungen Schwarzen Luther Laurence an, einem ehemals talentierten Baseballspieler, der sogar schon mit Babe Ruth auf dem Spielfeld stand, und nach einem von ihm selbst angerichteten Blutbad in seiner Heimatstadt Tulsa seine schwangere Frau Lila verlassen und nach Boston fliehen musste. Hier arbeitet er als Diener im Haushalt der Coughlin-Familie und muss immer wieder am eigenen Leib schmerzhaft erfahren, wie breit der Rassismus im Land noch verbreitet ist.
Als sich der BSC tatsächlich der AFL anschließt, droht auf einmal ein Streik der Polizisten, die seit sechs Jahren keine Lohnerhöhung erhalten haben und auf über siebzig Arbeitsstunden in der Woche kommen. In diesem Klima aus Misstrauen, Armut, tödlicher Krankheit, Rassismus und Unzufriedenheit trennen sich Danny und Luther von ihren Familien, um ihre eigenen hehren Ziele zu verfolgen, die in einem explosiven Gemisch aus Hass, Gewalt und Blut kaum zu erfüllen sein werden …
„Danny überlegte, ob er nach Hause gehen, sich den Dienstrevolver in den Mund schieben und ein für alle Mal Schluss machen sollte. Millionen Menschen waren im Krieg gestorben, für nichts als dämliche Territorialansprüche, und nun ging derselbe Krieg auf den Straßen weiter, heute in Boston, morgen in einer anderen Stadt. Arme Schweine, die sich gegeneinander aufhetzen ließen und sich gegenseitig den Schädel einschlugen. So war es immer gewesen, und so würde es immer sein. Das war ihm nun klar. Es würde immer so weitergehen.“ (S. 511) 
Nach den erfolgreich verfilmten Romanen „Spur der Wölfe“ (aka „Mystic River“ von Clint Eastwood) und „Shutter Island“ (von Martin Scorsese) legte der in Boston lebende Schriftsteller Dennis Lehane 2008 mit „Im Aufruhr jener Tage“ sein bisheriges Magnum Opus vor, einen epischen Gesellschaftsroman, der anhand der ungewöhnlichen Freundschaft eines engagierten Polizisten und eines jungen Schwarzen die vielschichtigen Probleme thematisiert, die zum Ende des Ersten Weltkriegs hin die amerikanische Metropole Boston erschüttert.
Bereits in dem großartigen ersten Kapitel, in dem Lehane die Begegnung zwischen dem aufstrebenden Baseball-Star Babe Ruth und dem talentierten Schwarzen Luther beschreibt, führt dem Leser sehr eindrucksvoll und empathisch den mehr oder weniger latenten Rassismus vor Augen, der zu jener Zeit geherrscht hat. Doch ebenso wie die Schwarzen haben auch alle anderen Minderheiten in der schwierigen Zeit, als viele Menschen um ihren Arbeitsplatz fürchten müssen, weil die Kriegsheimkehrer vorrangig in Lohn und Brot gebracht werden sollen, unter der rigorosen Politik von Bürgermeister, Gouverneur und Polizeichef zu leiden.
Überall scheinen Spitzel und Denunzianten zu lauern, politisches Kalkül über Menschlichkeit die Oberhand zu gewinnen.
„Im Aufruhr jener Tage“ ist ein hervorragend recherchiertes Stück bewegender Zeitgeschichte, ein vielschichtiger Familienroman und vitaler Politthriller, eine fundierte Milieustudie und selbst ein Liebesroman und vor allem ein wunderschöner Roman über die Freundschaft.
Erschreckend ist allerdings, wie aktuell die Themen in Lehanes großen Epos sind, denn gerade unter der neuen Präsidentschaft von Donald Trump dürften Minderheiten jeglicher Couleur und Gesinnung sich ähnlich fühlen wie Luther Laurence oder Dannys große Liebe Nora O’Shea …
Leseprobe Dennis Lehane - "Im Aufruhr jener Tage"

Andrea De Carlo – „Sie und Er“

Mittwoch, 18. Januar 2017

(Diogenes, 642 S., HC)
Der erfolgreiche, seit Jahren aber nicht mehr produktive Schriftsteller Daniel Deserti hat mit seinem 14 Jahre alten Jaguar XJS Cabrio gerade die Mautstelle Mailand Südwest passiert, als er mit einem schwarzen Mercedes zusammenstößt, in dem der Mailänder Anwalt Stefano und seine amerikanische Freundin Clare Moletto sitzen.
Clare besteht darauf, den alkoholisierten und verletzten Fahrer des Cabrios ins Krankenhaus zu fahren, doch Tage später müssen immer noch die Formalitäten geklärt werden, da Daniels Versicherung seit drei Monaten abgelaufen ist. So begegnen sich Clare und Daniel wieder. So unterschiedlich sie in ihrem Wesen sind, nehmen beide doch eine intensive wie geheimnisvolle Anziehung zueinander wahr.
Er, der früh von seiner Mutter verlassen worden und bei seiner Tante aufgewachsen ist, hat sich bislang von Affäre zu Affäre manövriert und hat eine Frau und zwei Kinder in England zurückgelassen. Sie hat eigentlich keine Ahnung, mit welcher Art von Mann sie an welchem Ort eigentlich leben will, von ihrer beruflichen Orientierung ganz zu schweigen.
Nachdem sie den chaotischen Künstler Alberto verlassen hat, schien der gut situierte, Sicherheit ausstrahlende Anwalt Stefano zunächst die richtige Wahl zu sein, aber mittlerweile ist sie von seiner bis zur Arroganz reichenden selbstsicheren wie langweiligen Art fast schon genervt und fühlt sich mit seinem von seiner herrschsüchtigen Mutter unterstützten Plan, eine gemeinsame Wohnung zu beziehen, unter Druck gesetzt. Da kommen ihr die Schmeicheleien des wortgewandten wie aufmerksamen Schriftstellers gerade recht.
Sie lernen sich auf ebenso ungewöhnliche wie leidenschaftliche Weise kennen, unternehmen eine gemeinsame Reise, von der Stefano nichts mitbekommt, und doch schwebt über ihrem Abenteuer stets die Frage, ob Er und Sie wirklich eine gemeinsame Zukunft haben.
„Wann er sich zum letzten Mal so gefühlt hat, weiß er nicht mehr; vielleicht als kleiner Junge ohne jede Entscheidungsgewalt über sein Leben. Er versteht nicht, wie es so weit kommen konnte, nach allem, was er aus den zahllosen Fehlern hätte lernen müssen, die er im Lauf der Zeit gemacht hat, und aus den dauerhaften Spuren, die sie hinterlassen haben. Ihm ist, als sei er völlig unfähig, sich weiterzuentwickeln, und werde ständig zurückgeworfen von seinem Hang zur Selbstzerstörung und seinem Ehrgeiz, mit seiner Arbeit erfolgreich zu sein.“ (S. 548f.) 
Bei dem epischen Liebesdrama „Sie und Er“ kommen dem Leser unweigerlich Parallelen zwischen Philippe Djians Protagonisten und Andrea De Carlos Daniel Deserti in den Sinn. Doch während die Ich-Erzähler in den Romanen des Franzosen eher von der Leidenschaft für die Frauen durch das wilde Geschehen getrieben werden, ist der Schriftsteller in dem 2010 erschienenen und zwei Jahre später auch hierzulande veröffentlichten Roman des Italieners ein kritisch analytischer Typ, der trotz seiner erstaunlichen Beobachtungsgabe auch nur von einer unbefriedigenden Affäre zur nächsten schliddert. Bis eben die völlig unsichere Amerikanerin Clare in sein Leben tritt und es gehörig durcheinanderwirbelt.
Andrea De Carlo nimmt sich in diesem über 600 Seiten langen Roman viel Zeit, die zunächst zufällig erscheinenden und kurzen Begegnungen sowie die Gemütszustände des Mannes und der Frau zu beschreiben, die sich auf unerklärliche Weise so anziehend finden. Wie De Carlo schließlich die Natur der weiblichen und männlichen Anziehungskraft beschreibt, ist ebenso faszinierend, erhellend wie wunderschön.
Hier braucht es eigentlich kaum echte Handlung, weil allein Desertis Analysen dieser Beziehung spannend und treffend genug sind, um den Leser zu fesseln. Nichtsdestotrotz schickt er seine beiden Protagonisten am Ende auf eine furios inszenierte Reise, die ebenso wild verläuft wie ihre jeweils atemlosen Gefühlsregungen füreinander.
Leseprobe Andrea De Carlo - "Sie und Er"

Peter Straub – „Das geheimnisvolle Mädchen“

Mittwoch, 11. Januar 2017

(Heyne, 348 S., Tb.)
Im Dezember 1969 kehren Elliot Denmark und seine Frau Vera nach einem vierjährigen Aufenthalt in Paris in ihre Heimatstadt Plechette City im südlichen Wisconsin zurück. Für Elliot war die durch Zuschüsse der Field Foundation ermöglichte Reise nach Frankreich eine willkommene Möglichkeit, sich von seiner Arbeit als Dozent für Kompositionslehre am heimischen College und der übertriebenen Fürsorglichkeit von Elliots Eltern zu lösen, die zu den prominentesten Familien der Stadt zählen. Es sollte ihm aber auch dabei helfen, Abstand von Anita Kellerman zu gewinnen, die er auf einer Party des Cellisten Nathan Himmel kennengelernt und mit der er eine kurze, aber leidenschaftliche Affäre unterhalten hatte.
Kaum sind die Denmarks wieder zuhause, werden der bekannte Komponist und seine Frau von allen möglichen Seiten belagert, zunächst von Veras Eltern Tessa und Herman Glauber, dann auch von Elliots Eltern Chase und Margaret Denwood. Elliot soll nicht nur ein Konzert in seiner Heimatstadt geben, sondern auch in einer lokalen Fernsehshow von Ted Edwards auftreten und sich dafür einsetzen, dass das große Waldgebiet von Nun’s Wood nicht wie geplant bebaut wird. Schließlich trifft er auch Anita wieder, die mit der missgestalteten Andy zusammenlebt, die wiederum Anitas problematischen Sohn Mark betreut.
„Es war unmöglich, Anita alleine zu sprechen. So lange Andy dabei war, mussten sie immer wieder zu zweitrangigen Themen abschweifen – fast alles, außer seiner Liebe zu Anita, schien jetzt zweitrangig zu sein. Er wünschte, Andy würde das Zimmer verlassen. Diese Unterhaltung, die Musik, die Drinks, sogar die frühe Dunkelheit, die von der Straße ins Zimmer kroch und Umrisse weichmachte und Einzelheiten undeutlich werden ließ, all dies schien darauf hinzudeuten, als wäre alles wie vor Jahren, als er sich an so vielen Winternachmittagen hier aufgehalten hatte.“ (S. 127 f.) 
Bevor Peter Straub mit Romanen wie „Geisterstunde“ und „Schattenland“ in den 1980er Jahren zu einem der bedeutendsten Autoren der modernen Mystery-Literatur wurde und mit Stephen King 1984 zusammen den Roman „Der Talisman“ veröffentlicht hatte, erschien mit „Under Venus“ 1974 ein Roman, der noch gar nichts mit diesem Genre zu tun hatte, aber im Zuge der wachsenden Popularität des Autors durch den Heyne Verlag 1986 auch erstmals in deutscher Sprache unter dem Titel „Das geheimnisvolle Mädchen“ erschien.
Dieses Frühwerk des amerikanischen Autors lässt sich mit seinen späteren, atmosphärisch dichten und auch spannenden Gruselwerken leider gar nicht vergleichen. Zwar erweist sich Straub bereits hier als feiner Stilist, doch hat er in „Das geheimnisvolle Mädchen“ eigentlich keine Geschichte zu erzählen. Dass sich die Handlung in der Weihnachtszeit des Jahres 1969 abspielt, lässt sich kaum sinnvoll nachvollziehen. Stattdessen wirkt das geschilderte gestelzte Gesellschaftsleben wie im Bürgertum des 19. Jahrhunderts. Die Charaktere bleiben erschreckend flach und gehen eher oberflächliche Beziehungen zueinander ein, ohne dass daraus irgendeine Spannung resultieren würde. Das titelgebende „geheimnisvolle Mädchen“ nimmt letztlich nur eine unbedeutende Nebenrolle ein und trägt zur Dramaturgie der schleppend inszenierten Geschichte kaum etwas bei. So ist dieses Frühwerk von Peter Straub einfach nur langweilig und nichtssagend.

Anthony McCarten – „Hand aufs Herz“

Sonntag, 8. Januar 2017

(Diogenes, 320 S., HC)
Um seinem miserabel laufenden Neuwagenhandel Back-to-Back (Olympia) Ltd. wieder auf die Beine zu helfen, veranstaltet Eigentümer Terry „Hatch“ Back einen Wettbewerb, mit dem er sich gleichzeitig im Guinness-Buch der Rekorde verewigen will. Zusammen mit seinen beiden, seit zwei Monaten nicht bezahlten, nicht sehr hellen, aber loyalen Angestellten Vince und Dan lost er aus über 150 Interessenten 40 Teilnehmer aus, die nichts weiter tun müssen, als mit einer Hand stets in Berührung mit einem Landrover zu bleiben, der dem Gewinner als Preis winkt.
Unter den Teilnehmern tummeln sich die verschiedensten Charaktere. Da ist der Geschäftsmann Tom Shrift, der vor dem finanziellen Ruin steht, nachdem er mit seiner Firma für künstlerisch gestaltete Postkarten von russischen Museen betrogen worden ist und dem bei einem Intelligenztest bescheinigt worden war, dass er zu den ein Prozent der Intelligenz-Elite der Welt zählt.
Auch die 39-jährige Politesse Jess Podorowski hat als Witwe und Mutter einer querschnittsgelähmten Tochter mit dem Leben zu hadern. Unter den weiteren Teilnehmern befinden sich u.a. der Rentner Walter, der wohlhabende Matt Brocklebank, der endlich mal etwas Sinnvolles in seinem Leben machen möchte, die junge Betsy Richards sowie ein Schlafloser aus Billingsgate, ein Obdachloser, ein Rumäne, ein Schlagzeuger, eine Hebamme, ein ehemaliger Fußballer, ein Berufssoldat …
Doch die erhoffte Publicity, mit deren Hilfe Hatch seinen Laden wieder in die schwarzen Zahlen zu bringen hofft, bleibt irgendwie aus. Stattdessen wird er in der örtlichen Radioshow von Lee Lerner runtergemacht, was Hatch im Grunde genommen verstehen kann, schließlich stellt dieser Wettbewerb auch für ihn selbst einen „Tiefpunkt auf dem Kulturbarometer“ dar.
Interessant gestaltet sich der Wettbewerb trotzdem. Nach der ersten Nacht sind nur noch 28 Teilnehmer am Start. Nach anfänglich lockeren Gesprächen zwischen ihnen entwickeln sich Affären und perfide Strategien, Konkurrenten dazu zu bringen, aus dem Wettbewerb zu fliegen. Dabei entwickelt nicht nur der gestrauchelte Geschäftsmann Tom, sondern auch die von polnischen Einwanderern abstammende Politesse ein ungewöhnliches Durchhaltevermögen über die Tage hinweg, in denen die Teilnehmer zunehmend mit Wahrnehmungsstörungen und anderen unerfreulichen Nebenwirkungen des Schlafentzugs zu kämpfen haben.
„Jess entdeckte jedoch, dass es etwas gab – vielleicht das einzige Mittel -, was gegen das Gefühl dieses stetigen Anwachsens der Leiden half.
Das Leiden der anderen.
Es war unglaublich, wie einen das aufbaute. Sie war verblüfft, wie sehr sie innerlich jubilierte, wenn ein anderer aufgab, davonwankte, nicht mehr an den Wagen zurückkam. Sie hatte ein schlechtes Gewissen deswegen, doch die Wirkung blieb.“ (S. 133) 
Der neuseeländische Autor Anthony McCarten („Superhero“, „Englischer Harem“) nimmt einen ungewöhnlichen Wettbewerb als Ausgangspunkt für eine Geschichte über Menschen, denen im Kampf ums Überleben (fast) jedes Mittel recht zu sein scheint. Doch im zunehmenden Konkurrenzkampf um das Auto entwickelt sich nicht nur Missgunst und Hass, sondern durchaus auch Verständnis, Mitleid und Zuneigung, die über einen Quickie in der Toilettenpause hinausgeht.
Bei aller Tragik ist „Hand aufs Herz“ vor allem ein einfühlsamer, tiefgründiger und auch komischer Roman über menschliche Schwächen und Tugenden und wartet mit einem überraschenden Finale auf.
 Leseprobe Anthony McCarten - "Hand aufs Herz"

Philippe Djian – „Verraten und verkauft“

Mittwoch, 4. Januar 2017

(Diogenes, 424 S., Tb.)
Fünf Jahre nach Bettys Tod ist es um Karriere des als Schriftsteller arbeitenden Ich-Erzählers nicht allzu rosig bestellt. Als er den 62. Geburtstag seines von ihm verehrten und mit ihm in einem Haus lebenden Dichter Henri ausrichtet, steckt sein Konto tief in den roten Zahlen. Händeringend wartet er auf den nächsten Scheck seines Verlegers, damit er endlich die Außenstände beim Lebensmittelhändler begleichen und seinen Mercedes aus der Werkstatt abholen kann, der dort seit einem Monat verweilt. Gemeinsam machen sich Henri und er auf die Suche nach Henris Tochter Gloria, die vor drei Monaten mit einem Gebrauchtwagenhändler durchgebrannt ist, was für Henri umso schwerer wiegt, als dass seine Frau Marlène ebenfalls mit einem Gebrauchtwagenhändler abgehauen war.
Doch als sie Gloria wieder zu sich holen – mit ihrem Freund im Gepäck – entspannt sich die Lage kaum. Der Ich-Erzähler unterhält eine komplexe Beziehung zur quirligen Tochter seines besten Freundes, die aus ihrer Verachtung ihm gegenüber keinen Hehl macht. Als dann auch Henris Ex-Frau Marlène wieder auftaucht, mit der der Autor immer wieder Sex hat, und ein Kritiker („Dingsbums“) alles daran setzt, seinen Ruf zu zerstören, wird das Leben nicht gerade einfacher.
Immerhin fangen sich auf einmal seine Bücher zu verkaufen, und die größeren und häufiger eintrudelnden Schecks sorgen für eine ungewohnt entspannte Lebenssituation.
„Ich hatte keine Lust zu reden, und sie redete nicht. Ich hatte keine Lust, mich zu bewegen, und sie bewegte sich nicht. Ich strich ihr eine Strähne hinters Ohr, und sie fasste nach meiner Hand. In der anderen hielt ich das Glas. Leider steht zu befürchten, dass ich nicht das Glück haben werde, in solch einem Moment zu sterben. Das macht aber nichts.“ (S. 191) 
Nach „Erogene Zone“ und „Betty Blue – 37,2 Grad am Morgen“ stellt „Verraten und verkauft“ den Abschluss einer Trilogie dar, in der der Franzose Philippe Djian über das Leben, die Liebe und das Schreiben sinniert, eingebettet in eine wundervolle Geschichte, die ihren Ausgang in einer außergewöhnlichen Männer- und Autoren-Freundschaft nimmt und über einen Road Trip zu den Tücken von Erfolg, Missgunst und Verrat führt.
Dabei hat der Ich-Erzähler selbst keinen geringen Anteil. Er sonnt sich im plötzlich auftretenden Erfolg, teilt mit dem zwanzig Jahre älteren Henri seine Not ebenso wie seinen Geldsegen, er lässt sich auf Affären sowohl mit Gloria als auch Marlène ein und unterhält ein schwieriges Verhältnis zu seinen Schriftstellerkollegen.
„Verraten und verkauft“ steckt voller Tempo, Witz, Erotik und immer wieder eingestreuten Lebensweisheiten eines coolen Schriftstellers, der stets um einen perfekten Stil bemüht ist und zu Frauen eine ganz besondere Beziehung unterhält. Zwar steht Djian eindeutig in der Tradition seiner literarischen Vorbilder Richard Brautigan, Henry Miller, Jack Kerouac und Jerome David Salinger, hat aber seinen ganz eigenen Ton in einer Welt gefunden, in der Liebe und die Kunst oft komplex miteinander verschlungen sind.