Anthony McCarten – „Licht“

Mittwoch, 22. Februar 2017

(Diogenes, 364 S., HC)
New York im Jahr 1878. Der schwerhörige Erfinder Thomas Alva Edison arbeitet im Alter von 32 Jahren an der Erfindung der Glühbirne. Als der berühmte Bankier John Pierpont Morgan – der von der Times sogar als „Napoleon der Wall Street“ bezeichnet wird - im Dezember in der New York Times vom Triumph des großen Erfinders liest, sieht er bereits das große Geschäft vor Augen, das die Elektrifizierung der Stadt verspricht.
Doch das Projekt ist noch weit davon entfernt, in die Praxis umgesetzt zu werden, denn bislang hält die Leuchtkraft einer Birne nur für zwei Stunden an. Edison schickt einen Mann auf der Suche nach dem idealen Glühfaden durch die ganze Welt, hat aber auch mit dem hartnäckigen Konkurrenten Nikola Tesla zu kämpfen, der bei jeder Gelegenheit öffentlich proklamiert, dass sein Wechselstrom viel besser sei als der von Edison bevorzugte Gleichstrom.
Was Edison aber wirklich entsetzt, ist die Tatsache, dass sein Stromkonzept auch zur humaneren Hinrichtung von Menschen eingesetzt werden soll …
„Er dachte an die Ketzer der Wissenschaft im Laufe der Geschichte, verurteilt für Ansichten oder Entdeckungen, die als Verbrechen galten, Leute, die sich weigerten, zu widerrufen oder zu leugnen. Jetzt spürte er deutlich, was für einen Preis solche Leute für ihre Tapferkeit und Aufrichtigkeit bezahlt hatten. Und wie stand er im Vergleich zu solchen Männern da? Wer war er im Vergleich zu einem Galileo oder Giordano Bruno?“ (S. 272) 
Der neuseeländische Autor Anthony McCarten, der durch das Theaterstück bzw. das Drehbuch zum (unautorisierten) Film „The Full Monty – Ganz oder gar nicht“ und international bekannt geworden ist, hat auch mit seinen Romanen „Englischer Harem“, „funny girl“ oder „Liebe am anderen Ende der Welt“ weltweit Publikum und Kritiker begeistern können.
Auch der 2012 erschienene Roman „Brilliance“ ist 2010 zunächst als Theaterstück konzipiert gewesen, bevor er jetzt bei Diogenes unter dem Titel „Licht“ in deutscher Übersetzung erscheint. Auf den Ausführungen von Edisons Biografen und Historikern basierend schildert der Roman das beschwerliche Leben eines großen Mannes, der mit seinen Erfindungen stets das Leben der Menschen erleichtern wollte, aber nicht zuletzt durch den teuflischen Pakt mit dem Finanzier J. P. Morgan mit zunehmenden Alter erkennen musste, dass seine Erfindungen ein Eigenleben entwickelten, dem er nichts entgegenzusetzen hatte.
Wie in seinen vorangegangenen Werken erweist sich McCarten in „Licht“ einmal mehr als sehr Erzähler außergewöhnlicher Schicksale. Zwar könnte er bei der Charakterisierung seiner Figuren, die sich bei „Licht“ nahezu auf Edison und Morgan beschränkt, noch mehr in die Tiefe gehen und auch den Interessenkonflikt zwischen den beiden Männern deutlicher herausarbeiten, aber bei aller knackiger Dramaturgie wird doch deutlich, wie sehr Edisons Herzensangelegenheiten (vor allem seine beiden Ehen) und vor allem sein Gewissen unter der gnadenlosen Kommerzialisierung seiner Erfindungen leiden.
Auf der anderen Seite wird gerade im Finale sehr pointiert herausgestellt, wie die skrupellosen Geschäftsinteressen mächtiger Bankiers die Geschicke der Welt leiten.
McCarten präsentiert mit „Licht“ die etwas andere, leicht zu konsumierende Biografie eines außergewöhnlichen Mannes, der unter dem Druck der übermächtigen Geschäftswelt zusammenbricht.
Leseprobe Anthony McCarten - "Licht"

Gerhard Henschel - (Martin Schlosser: 7) „Arbeiterroman“

Sonntag, 19. Februar 2017

(Hoffmann und Campe, 527 S., HC)
Nach dem Abbruch seines Studiums beginnt für den 25-jährigen Martin Schlosser 1988 der Ernst des Lebens. Um die Miete seiner Wohnung in Oldenburg bezahlen zu können, jobbt er als Hilfsarbeiter in der Spedition für neun Mark die Stunde, während seine Freundin Andrea immerhin eine Mark mehr bekommt, wenn sie putzen geht. Eigentlich will Schlosser sein Prosadebüt mit dem Arbeitstitel „Die Weißheit der Indianer“ bei einem Verlag unterbringen, doch trotz etlicher Absagen lässt er sich nicht unterkriegen und bekommt mit seinen Kurzgeschichten und Reportagen immerhin beim „Alltag“ einen Fuß in die Tür.
Zwischen der Plackerei in der Spedition und dem Schreiben von Reportagen über das Leben im friesischen Jever und Kaffeefahrten verbringt Schlosser seine Zeit mit dem Lesen von „Der Spiegel“, „Frankfurter Rundschau“, „taz“, „Kowalski“, „Titanic“, „konkret“ und Karheinz Deschners „Kriminalgeschichte des Christentums“ sowie Romanen von Eckhard Henscheid, John Le Carré und Walter Jens. Vor allem hält ihn aber seine Familie auf Trab.
Seine Mutter möchte aus Meppen wegziehen, was der Vater überhaupt nicht versteht, dann bringt sich sein Cousin Gustav um, und der Mutter geht es mit ihrem Lymphdrüsenkrebs immer schlechter. Schließlich zieht Schlosser mit seiner Andrea nach Heidmühle, wo Schlosser nun in einer Kneipe jobbt und die Folgen der Wiedervereinigung am eigenen Leib zu spüren bekommt.
 „Die DDR-Menschen, die sich im Fernsehen äußerten, sahen fast alle so aus, als ob sie sich um eine Nebenrolle in einer Parodie auf die TV-Serie Miami Vice bewerben wollten. Sie trugen sonderbare Formfleischfrisuren und hatten sich gruselige Oberlippenbärte wachsen lassen, die in mir den Verdacht erweckten, daß die realsozialistische Mangelwirtschaft auch dem Bartwuchs hinderlich gewesen sei.“ (S. 410)
Aufmerksam verfolgt Schlosser das Zeitgeschehen und steht auch einer spirituellen Weiterentwicklung offen gegenüber, während seine Freundin Andrea vielleicht doch nicht mehr mit Kindern arbeiten, sondern als Bauchtänzerin Karriere machen möchte …
Nach „Kindheitsroman“, „Jugendroman“, „Liebesroman“, „Abenteuerroman“, „Bildungsroman“ und „Künstlerroman“ legt der bei Hamburg lebende Schriftsteller Gerhard Henschel mit „Arbeiterroman“ bereits den siebten Band der großartigen Chronik seines Ich-Erzählers und Alter Egos Martin Schlosser vor.
Wie gewohnt gehen in kurzen Absätzen Alltagsbeschreibungen und -bewältigung, Familien- und Liebesprobleme, Lese- und Hörgewohnheiten sowie geistvolle Kommentare zum Zeitgeschehen fast nahtlos ineinander über und bilden so über einen Zeitraum von über einem Jahr umfassend sowohl Schlossers (alias Henschels) Kampf um die Anerkennung als Autor (inklusive Aufnahme bei der Künstlersozialkasse) als auch familiäre Auseinandersetzungen ab.
Besonders amüsant fallen aber vor allem seine Beobachtungen und Kommentare zu politischen Entwicklungen wie der Auflösung der DDR und kulturgeschichtlichen Anekdoten wie den Themen, die in der NDR Talk Show oder im Feuilleton der Tages- und Wochenzeitungen abgehandelt werden. Das ist so lebendig geschrieben, als würde der Leser die Jahre 1988 bis 1990 noch einmal live miterleben und dazu die humorvoll-bissigen, aber durchaus treffenden Analysen zum Zeitgeschehen gleich mitgeliefert bekommen.

Philippe Djian – „Blau wie die Hölle“

Sonntag, 12. Februar 2017

(Diogenes, 394 S., Tb.)
Auf dem Weg zu seiner Freundin Lucie wird Henri an einer Autobahnraststätte abgesetzt, wo er Zeuge wird, wie der Fahrer eines Buick den Laden betritt, die Toilette in Brand setzt und den Moment, als der Barkeeper das Feuer löschen will, zum Ausräumen der Kasse nutzt. Henri begleitet den Typen namens Ned kurzerhand auf seiner Flucht, aber die beiden haben unverzüglich den wirklich fiesen Bullen Franck in seinem Mercedes im Nacken.
Seit ihm seine geliebte Frau Lili vor sechs Tagen den Laufpass gab, kennt der ohnehin cholerische Cop keine Gnade mehr. Nachdem er mit seinem Kollegen Willy den Buick von der Straße gedrängt und die beiden flüchtigen Männer in Gewahrsam genommen hat, schleppt er seine Gefangenen direkt nach Hause, kettet sie im Badezimmer an und wartet darauf, dass Lili zu ihm zurückkommt.
Doch als sie mit Carol, seiner Tochter aus erster Ehe, aufkreuzt, fliehen die beiden Frauen mit Ned und Henri, worauf eine wilde Verfolgungsjagd über Landesgrenzen hinweg ihren Lauf nimmt …
In der Zwischenzeit tröstet sich Franck mit allen Frauen, die ihm während der Verfolgung von Ned und Henri über den Weg laufen.
„Er zuckte mit den Schultern, jetzt, wo sie ihre Spalte verbarg, blieb nichts mehr, für den Bruchteil einer Sekunden hatte er sich von ihr angezogen gefühlt, er hätte sie aufgespießt, doch gleichzeitig hätte er sich um ihre Tränen gekümmert, er hätte es versucht, aber es war vorbei, er tigerte mit seinem Glas durch das Zimmer, und als er zum Sofa zurückkam, hatte er sie völlig vergessen, sie war still, er streckte sich aus und legte einen Arm über seine Stirn, die Gedanken kamen zuhauf, die Bilder prasselten auf ihn ein, ohne jeden Bezug, sie überlappten sich, betäubten ihn.“ (S. 274) 
1986 war ein extrem gutes Jahr für den französischen Schriftsteller Philippe Djian, da wurden nämlich sowohl sein 1982 veröffentlichter Debütroman „Blau wie die Hölle“ durch Yves Boisset als auch sein dritter Roman „Betty Blue – 37,2 Grad am Morgen“ (1985) durch Jean-Jacques Beineix verfilmt. Tatsächlich präsentiert sich „Blau wie die Hölle“ wie ein atemberaubender Trip zwischen Godards Kultfilm „Atemlos“, Sam Peckinpahs „Getaway“ und David Lynchs „Wild at Heart“.
Der Roman stellt einen wilden Mix aus Sex und Gewalt dar, wobei der klassische Road-Movie-Plot nur das Gerüst darstellt, an dem sich die kaputten Typen, Männer wie Frauen, entlanghangeln, vielmehr hetzen, denn echte Verschnaufpausen sind weder den Flüchtenden noch den Cops vergönnt.
Das wahnwitzige Tempo der Handlung findet seine Entsprechung in Djians flotter Schreiber und einem coolen Stil, der sich in Sätzen voller Kommata oder auch ohne Satzzeichen konzentriert. Es bleibt bei dieser Hatz durch ein unbekanntes, aber an die USA erinnerndes Land, wobei eine Grenze in die Wüste überquert wird, auch dem Leser kaum Zeit, sich mit den Figuren auseinanderzusetzen, denen nichts wirklich heilig oder auch nur wichtig scheint. Was man begehrt, nimmt man sich einfach. Dieser Nihilismus wirkt dabei ebenso erfrischend wie anstrengend, auf der Suche nach Bedeutung wird der Leser schier verzweifeln. Aber wer das Tempo von „Blau wie die Hölle“ mitgehen kann, wird mit grober Action und ebenso grobem Sex belohnt.

Clive Barker – „Gyre“

Samstag, 11. Februar 2017

(Heyne, 599 S., Jumbo)
Als der 26-jährige Versicherungsangestellte Calhoun Mooney die ausgebüchste Nummer 33 der etwa vierzig Tauben seines Vaters wieder einfangen will, stürzt er bei einem waghalsigen Einfangmanöver vom Fenstersims eines Hauses in der Rue Street und einem außergewöhnlichen Teppich entgegen, der gerade vom Grundstück getragen wird. In ihm erkennt Cal eine fantastische Welt, die ein immerwährendes Abenteuer verheißt. Doch hinter diesem gewebten Kunstwerk sind auch der 52-jährige zwielichtige Händler Shadwell und die Zauberin Immacolata her, die die verkommene Welt der Menschen wie ihre bösartigen Schwestern als Königreich der Cuckoo bezeichnet. Immaculata hat es sich zur Aufgabe gemacht, das Volk der Seher zu vernichten, aus dem sie einst verbannt worden ist, die Fuge zu finden und ihr lichtes Herz zu brechen. Sie will mit Shadwell zusammen die Fuge zur Auktion anbieten und die vier in der Fuge lebenden Familien des Volkes der Seher in die Sklaverei verkaufen oder zu einem trostlosen Dasein verdammen.
Die als Seherin begabte Mimi Laschenski hat bis zu ihrem Todestag über die Fuge gewacht, die in dem geheimnisvollen Teppich gewebt ist, und Legenden nach sich zog, in denen Dichtung und Wahrheit nicht mehr auseinandergehalten werden konnten. Nun ist es an ihrer Enkelin Suzanna, die vor der mutwilligen Zerstörung bedrohte Webwelt zu retten.
Zunächst steht ihr dabei Cal zur Seite, der einen wahnsinnigen Dichter als Großvater hatte und deshalb für die Welt der Fuge empfänglich ist. In einem gemeinsamen Traum erscheinen Suzanna und Cal die fünf märchenhaften, verschiedenen Familien der Seher entstammende Gestalten Lilia Pellicia, Frederick Cammell, Apolline Dubois, Jerichau St. Louis und das Baby Nimrod, die dem kleinen Stück des Teppichs entstiegen sind, das sich bei seinem Transport gelöst hat. Nach einem fürchterlichen Tumult, der sich bei der geplanten Auktion des Teppichs entfacht hat, kann Suzanna mit Jerichau und dem Teppich fliehen, doch nun haben sie nicht nur Shadwell und Immacolata im Nacken, sondern auch den bösartig-gierigen Inspektor Hobart.
Shadwell verkleidet sich als Prophet und zettelt mit seinen Gefolgsleuten einen Heiligen Krieg an, um die Fuge unter den Händen derjenigen sterben zu lassen, die ausgezogen sind, um sie zu retten …
„Es war, als hätte seine Maskerade ihm tatsächlich prophetische Gaben verliehen. Er hatte die Webarbeit gefunden, wie er gesagt hatte, und er hatte sie ihren Bewahrern abgenommen; er hatte seine Anhänger ins Herz der Fuge geführt und alle, die sich ihm widersetzt hatten, mit fast übernatürlicher Geschwindigkeit zum Schweigen gebracht. Bei seinem derzeitigen hohen Status gab es keinen anderen Weg nach oben mehr als den zur Göttlichkeit, und das Mittel dazu war von dort sichtbar, wo er stand.“ (S. 359) 
Mitte der 1980er Jahre sorgte der aus Liverpool stammende und in vielerlei künstlerischen Disziplinen beheimatete Clive Barker mit den sechs „Büchern des Blutes“ für eine nachhaltige Revitalisierung des Horror-Genres. Auch wenn viele der – meist leider unterirdischen - Verfilmungen vor allem seiner Kurzgeschichten wie „Underworld“, „Rawhead Rex“ und „Hellraiser“ Barkers hervorragenden Ruf in diesem Genre zementierten, entwickelte sich Barker vor allem als Autor phantastischer Werke weiter und präsentierte nach seinem Debütroman „Spiel des Verderbens“ 1987 sein erstes Epos „Weaveworld“, das hierzulande 1992 unter dem mysteriösen Titel „Gyre“ veröffentlicht worden ist.
Barker erweist sich mit diesem Werk als der wahrscheinlich visionärste Autor seiner Zunft. Scheinbar mühelos entwirft er ganze Welten, die inner- und unterhalb unserer wahrgenommenen Welt existieren und nur eine Fuge von ihr entfernt sind. „Gyre“ ist dabei Schöpfungsgeschichte und Apokalypse in einem, ein von entfesselten Imaginationen geprägtes Fantasy-Werk, das Bezug auf die Evangelien der Bibel aber auch auf die mystischen Traditionen der Welt nimmt und die Kraft von Liebe, Hoffnung und Träumen beschwört. Sein von höchst originellen, kaum mit dem Verstand fassbaren Ideen überquellender Stil regt auf nahezu jeder Seite die Fantasie des Lesers an, dass der Geschichte selbst oft schwer zu folgen ist.
Zwar bleibt das Figuren-Ensemble übersichtlich, doch machen die Charaktere so viele Transformationen durch, dass in jeder Kreatur unzählige weitere zu schlummern scheinen, jede davon so vielgestaltig, dass sie das Vorstellungsvermögen zu sprengen droht. Clive Barker hat in „Gyre“ fraglos seiner eigenen Vorstellungskraft keine Grenzen gesetzt, aber bei aller brillanter Fabulierkunst verliert er doch immer wieder die Dramaturgie seines komplexen Plots aus den Augen, so dass sich der Leser eher in den ausschweifenden Visionen verliert, als von der eigentlichen Geschichte gefesselt zu bleiben.
In späteren Epen wie der „Abarat“-Reihe, „Imagica“ und „Jenseits des Bösen“ ist es Barker besser gelungen, dieses Ungleichgewicht befriedigend zu lösen. Nichtsdestotrotz bietet „Gyre“ einfach eine grandiose Fülle an sprachlichen Zaubereien und fantasievollen Figuren und Settings, dass es eine Wonne ist, Barkers Visionen zu folgen.

James Lee Burke – (Dave Robicheaux: 13) „Straße der Gewalt“

Montag, 6. Februar 2017

(Pendragon, 520 S., Pb.)
In der Woche nach Labor Day versucht Dave Robicheaux, Detective der Mordkommission beim Iberia Parish Sheriff’s Department, den Mann zu finden, der vor drei Monaten seinen langjährigen Freund, den nicht ganz unbescholtenen Priester Jimmie Dolan, brutal zusammengeschlagen hat. Die erste Spur führt zu Gunner Ardoin, einem Crystal vertickenden Kleinganoven und Darsteller in einigen Pornos von Fat Sammy Figorelli, doch eine Bundesbeamte namens Clotile Arceneaux macht Robicheaux auf den Blues-Musiker Junior Crudup aufmerksam, der in den 1950er Jahren im Angola-Staatsgefängnis verschwunden ist. Doch bis er durch einen Mitgefangenen über Crudups unrühmlicher Geschichte in Kenntnis gesetzt wird, macht sich weiterhin Gewalt in den Straßen des ansonsten so ruhigen New Iberia breit.
Zunächst wird die minderjährige Tochter von Dr. Parks bei einem Autounfall getötet, nachdem ihr verbotenerweise in einem Daiquiri-Laden von Castille LeJeune Alkohol verkauft worden war. Dann wird der Pächter des besagten Ladens erschossen, die schlampig entsorgte Tatwaffe führt zu einem von LeJeunes Angestellten, Will Guillot.
Und schließlich wird ein Mafioso namens Frank Dellacroce ermordet, für den der Clan Robicheaux verantwortlich macht und der zwei skrupellose Killer auf ihn ansetzt. Unklar ist, wie Merchie und seine Frau Theo Flannigan ins Bild passen, ebenso der berüchtigte IRA-Killer Max Coll.
„Ich hatte meinen Arbeitsplatz mit der Bereitschaft verlassen, Merchie den Tag zu versauen, und nun hatte ich es geschafft, ihn in meinem Kopf mit seinem Schwiegervater in Verbindung zu bringen und den Grausamkeiten der Rassendiskriminierung von Louisianas Vergangenheit. Wo lag meine Motivation? Einfache Antwort: Ich musste nicht darüber nachdenken, dass ich Frank Dellacroce absichtlich in Max Colls Visier bugsiert hatte.“ (S. 211) 
Auch wenn Robicheaux immer wieder von seiner Chefin Helen zur Vorsicht angehalten wird, bringt er sich mit seinem alten Kumpel, dem mittlerweile in New Orleans als Privatermittler tätigen Clete Purcel, immer wieder in teils lebensbedrohliche Schwierigkeiten und bringt einmal die Reichen und Mächtigen so gegen sich auf, dass er das Ziel seiner Ermittlungen aus den Augen zu verlieren droht … Nachdem Robicheaux seine letzte Frau Bootsie beim Brand seines Hauses verloren hat und seine Adoptivtochter Alafair aufs College geht, ist er in seinem 13. Fall ziemlich auf sich allein gestellt, doch Frauen spielen nach wie vor eine nicht unbedeutende Rolle in „Straße der Gewalt“.
Als ehemalige Geliebte, wütend-trauernde Witwen oder taffe Cops sorgen sie immer wieder für dramaturgisch auflockernde Akzente. Charakteristisch ist aber vor allem die Gewalt, die wie zäher Schleim an Robicheaux und seinem Kumpel Clete zu kleben scheint und deren Spur die beiden durch die ganze Handlung ziehen.
Mit Rückblicken auf die Zeit in Vietnam und die Beziehung zwischen dem schwarzen Musiker Crudup und seiner weißen Gönnerin Andrea LeJeune wird der Plot ebenso aufgelockert wie durch die diversen Killer, deren Auftraggeber lange im Dunklen bleiben.
James Lee Burke gelingt es einmal mehr, den charismatischen Vietnam-Veteran, Anonymen Alkoholiker und Detective Dave Robicheaux durch eine undurchsichtige Handlung zu bugsieren und dabei jede Menge Prügel und deftige Sprüche einzuflechten. Das ist zwar alles allzu vertraut, aber da auch die Nebenfiguren interessant gezeichnet sind, die Story kaum Zeit zum Durchatmen lässt und die Landschaft wieder sehr eindringlich geschildert ist, vermag auch „Straße der Gewalt“ von der ersten bis zur letzten Seite zu fesseln.

Martin Suter – „Die Zeit, die Zeit“

Samstag, 4. Februar 2017

(Diogenes, 297 S., Tb.)
Seit dem Mord an seiner Frau Laura, die vor gut einem Jahr ihren Schlüssel vergessen hatte und während sie darauf wartete, dass ihr Mann die Tür öffnet, von einem Unbekannten erschossen worden ist, hat der 42-jährige Finanzbuchhalter Peter Taler jeden Antrieb verloren, weshalb er in der Baufirma, für die er arbeitet, bereits kritisch angesprochen wurde. Nach Feierabend setzt er sich in der Regel mit seinem ersten Feierabend-Bier ans Fenster seiner im zweiten Stock gelegenen Wohnung im Gustav-Rautner-Weg 40, kocht Spaghetti Pomodoro, spielt „Back to Black“ von Amy Winehouse und versucht auch sonst, in seinem Leben das Bild jenes Abends zu konservieren, als Laura starb.
In ihrem unverändert belassenen Zimmer zündet er sogar ihre Zigaretten an und lässt sie im Aschenbecher langsam runterbrennen. In dem etwas skurrilen Nachbarn Knupp findet Taler nahezu einen Gleichgesinnten. Auch er verlor seine Frau Martha, nachdem sie aus dem Urlaub in Nigeria zurückgekehrt waren und sie nach kurzer, aber schwerer Krankheit starb. Knupp hofft allerdings, die Geschicke ändern zu können, wenn er noch einmal genau die Zustände des schicksalhaften 11. Oktober 1991 herstellen und so den Tod seiner Frau abwenden kann.
Denn nach der Theorie des 1988 verstorbenen Walter W. Kerbeler wird Zeit allein durch Veränderung definiert. Wenn aber keine Veränderung stattgefunden hat, ist auch keine Zeit vergangen. Dass auch seine Frau Kerbelers Hauptwerk „Der Irrtum Zeit“ bei einem Antiquariat in Auftrag gegeben hat, macht Taler neugierig.
Er unterstützt den alten Witwer bei seinem umfangreichen Unterfangen, die von seinem Haus erkennbare nähere Umgebung in den Zustand vor zwanzig Jahren zurückzuversetzen, beauftragt ein Gartenbauunternehmen und jemanden, der die Automodelle auftreibt, die damals auf den Parkplätzen standen, und sie entsprechend umlackiert, tauscht Pflanzen und Müllcontainer aus und überprüft anhand unzähliger Fotografien von damals die Übereinstimmungen und Abweichungen. Im Gegenzug erwartet Taler Hilfe bei der Aufklärung des Mordes an Laura, denn auf einem von Knupps Fotos ist ein verdächtiges Moped zu sehen, dessen Halter Taler unbedingt ausfindig machen will. Doch als Taler in Lauras Privatleben beginnt herumzuschnüffeln, entdeckt er eine geheime Seite an ihr, die ihn zutiefst verunsichert.
„An diesem Nachmittag hatte sich das Gefühl, mit dem er an Laura zurückdachte, verändert. Er spürte nicht mehr das Bedürfnis, ihre Leibspeisen zu kochen, ihr Parfum zu versprühen, ihre Zigaretten abzubrennen, ihre Musik zu spielen. Er wollte die Illusion, sie wäre noch da, nicht beschwören, solange ihre Beziehung zu dem Mopedmann nicht geklärt war. Und damit die zu ihm.“ (S. 180) 
Mit „Die Zeit, die Zeit“ hat der aus Zürich stammende Martin Suter einen Zeitreiseroman der besonderen Art geschrieben. Statt jedoch in die Zeit zurückzureisen, um von bestimmten Schlüsselmomenten in der Vergangenheit aus so zu handeln, dass unerwünschte Ereignisse in der Zukunft nicht eintreten – wie in Robert Zemeckis fantastischer „Zurück in die Zukunft“-Trilogie -, strebt mit Knupp zumindest einer der Protagonisten in Suters Roman danach, die Zeit einfach nicht vergehen zu lassen, so dass er von dem letztlich durch eigenes Tun bewirkte Wiederherstellung einer Situation vor zwanzig Jahren die Zukunft in andere Bahnen lenken und seine Frau am Leben lassen kann, indem sie wie von ihr gewünscht nach Nepal und nicht Afrika reisen.
Bei aller minutiösen Planung wirkt das Experiment allerdings wenig schlüssig, das Wetter und verschiedene andere Aspekte können einfach nicht wie vor zwanzig Jahren rekonstruiert werden. Doch davon abgesehen gelingt es Suter auch nicht, die beiden Witwer mit überzeugendem Leben zu füllen. In ihrem gemeinsamen Bemühen, die Erinnerung an ihre geliebten Frauen wachzuhalten, wirken sowohl Taler, vor allem aber Knupp seltsam schablonenhaft. Einzig durch die eingeflochtene Kriminalgeschichte, in der nicht nur Lauras Ermordung, sondern auch ein vor kurzer Zeit verübter ähnlicher Mord aufgeklärt werden soll, wird die Spannung hochgehalten, während das große Experiment, das eigentlich im Zentrum des Romans steht, einfach nur zum Scheitern verurteilt scheint.
So interessant das Überlistung-der-Zeit-Thema auch ist, vermag Suter dem Sujet doch keine wirklich neuen Aspekte hinzuzufügen. Seine Figuren sind dabei ebenso trocken geraten wie seine schnörkellose Sprache, die nüchtern die Handlung beschreibt, ohne emotionale Tiefen auszuloten.
Leseprobe Martin Suter - "Die Zeit, die Zeit"

Andrea De Carlo – „Wir drei“

Freitag, 3. Februar 2017

(Diogenes, 662 S., HC)
Am 12. Februar 1978 hat Livio gerade so sein Examen in Geschichte des Mittelalters bestanden. Im Gegensatz zu seinem besten Freund und Kommilitonen Marco Traversi, der keine Veranlassung gesehen hat, den Unmut der Prüfungskommission etwas abzufedern, und konsequenterweise auf das Diplom verzichtete, gab Livio klein bei und machte mit seinem Diplom zumindest seine Mutter und Großmutter zufrieden. Am Abend lernt er nach einer Feier Misia Mistrani kennen, als er die junge Frau aus einer unerfreulichen Situation mit einem jungen Mann befreit, doch bis er Misia wiedersieht, vergeht die Zeit, in der Livio teils chaotisch, teils verschlafen und unbestimmt in seinem Mailänder 42-Quadratmeter-Apartment darüber nachsinnt, was er mit seinem Diplom und seiner Zukunft anfangen soll.
Erst als sein Freund Marco beginnt, auf seine ihm eigene ungestüme, impulsive Art und Weise einen Film zu machen, in dem Misia aus einer zufälligen Besucherin zur Hauptdarstellerin avanciert, entwickelt sich eine über alle Maße dynamische Freundschaft zwischen den drei Künstlern. Marcos Film wird dank der Schützenhilfe seines Freundes Settimio zu einem Independent-Festival-Erfolg, Misia zu einer begehrten Person des öffentlichen Lebens, die jedoch kein Interesse daran hat, weitere Filme zu machen, und Livio entwickelt sich – nach entsprechender Ermutigung durch Misia – zu einem respektablen Maler.
Doch über die Jahre verlieren sich Livio, Marco und Misia immer wieder aus den Augen, verraten ihre alten Ideale und gehen bürgerliche und andere Beziehungen ein, werden Großgrundbesitzer, selbstversorgende Kommunenmitglieder und kommerzieller Filmemacher, verstreuen sich auf die Balearen, nach London und Paris und Südamerika, doch immer wieder kreuzen sich hier und da die Wege von Livio und Marco auf der einen, von Livio und Misia auf der anderen Seite.
„Ich fragte mich, woran es lag, dass ich in ihr so lange mein Frauenideal gesehen und dieses Ideal, immer wenn ich eine neue Seite ihres komplexen Wesens entdeckte, um weitere Elemente bereichert hatte; ob ihr jemals bewusst geworden war, was sie mir wirklich bedeutete, ob sie es ausgenutzt hatte; ob sie wusste, dass ich alle anderen Frauen in meinem Leben ständig mit ihr verglichen hatte, nur um jedesmal festzustellen, wie schlecht sie dabei abschnitten; ob sie sich vorstellen konnte, welch schreckliches Gefühl des Mangels sie immer wieder in mir verursacht hatte.“ (S. 562) 
Livio, der Ich-Erzähler in De Carlos 1997 bzw. 1999 in deutscher Sprache veröffentlichten Roman „Wir drei“, wirkt ähnlich Philippe Djians Protagonisten wie ein Alter Ego des Mailänder Schriftstellers, der in einem Interview verkündete, er könne nur über die Gefühle schreiben, die er selbst empfunden habe. Ähnlich wie De Carlo, der sich in Mailand nie so recht heimisch gefühlt hat und sich stets dem gönnerhaften Literatur- und Kulturmarkt zu entziehen versuchte, der ihn vereinnahmen wollte, fühlen sich auch die drei Künstler in „Wir drei“ nirgends heimisch und wandeln eher orientierungslos zwischen eigenem hehren Anspruch und den gesellschaftlichen Konventionen und Gesetzen des Kulturmarkts umher, legen sich nie fest, lösen Verträge und persönliche Bindungen, wie es ihnen gerade in den Kram passt.
So spannend und interessant es ist, De Carlos lebendig gezeichnete Figuren durch ihre schillernden und abwechslungsreichen Leben zu verfolgen, so gelingt es dem Autor doch zu selten, echtes Mitgefühl für die jeweiligen Nöte und Leiden seiner Helden aufzubringen; zu rastlos und beliebig lassen sie sich durch die Jahrzehnte und vollkommen unterschiedliche Lebensentwürfe treiben. Nichtsdestotrotz bekommt der geduldige Leser im Rahmen des 660 Seiten dicken Epos Einblicke in die fundamentalsten Existenzfragen von Künstler-Persönlichkeiten und die Mechanismen und Fundamente von Freundschaften, die jenseits amouröser Verquickungen Jahrzehnte, Kontinente und unterschiedliche Ansichten überdauern.

Irvine Welsh – „Porno“

Montag, 30. Januar 2017

(Heyne, 576 S., Tb.)
Zehn Jahre nach dem tragischen Auseinanderbrechen der Trainspotting-Gang schlagen sich Sick Boy und seine alten Kumpels Begbie, Renton und Spud noch immer meist eher schlecht als recht durch ihr armseliges Leben. Allein Renton hat den Absprung nach Amsterdam geschafft und sich mit einem angesagten Club ein bürgerliches Leben aufgebaut. Als Simon David Williamson alias Sick Boy nach einer trostlosen Episode in London nach Edinburgh in das schäbige Viertel Leith zurückkehrt, übernimmt er nicht nur den heruntergekommenen Pub seiner Tante, sondern strebt weiterhin nach der ganz großen Kohle. Er tarnt den Pub als gemütliches Café, das sich abends in ein Thai-Restaurant verwandelt, um in bislang unbenutzten Räumen im Obergeschoss Pornos zu drehen, die er über seinen alten Kumpel Rents in Amsterdam vertreiben lassen will.
Doch vorher gibt es noch die eine oder andere Rechnung zu begleichen. Vor allem Begbie hat es bis heute nicht verwunden, dass Renton seine Truppe bei dem fetten Drogendeal vor zehn Jahren abgezogen und das Weite gesucht hat, während Begbie für die Aktion einsitzen musste. Als Rents nach Edinburgh zurückkehrt, ahnt er nicht, dass Begbie wieder auf freiem Fuß ist. Währenddessen berauschen sich die Jungs nicht mehr am Heroin, sondern stehen auf Koks und willige Frauen, denen sie nahelegen, auch vor der Kamera zu ficken. Mit „Die sieben Säulen der Geilheit“ ist der Titel ebenso schnell gefunden wie die Hauptdarsteller.
Doch als sich Terry bei einer Nummer mit Simons Freundin Nikki eine Penisfraktur zuzieht, steht das Projekt unter einem ungünstigen Stern. Und es mehren sich nicht nur von den Frauen, die sich als Wichsvorlage degradiert fühlen, durchaus kritische Stimmen …
„Das ist unsere Tragödie: Niemand, abgesehen von destruktiven Ausbeutern wie Sick Boy oder farblosen Opportunisten wie Carolyn, bringt echte Leidenschaft auf. Alle sind von dem Müll und der Mittelmäßigkeit um sie herum wie erschlagen. Wenn das bezeichnende Wort der Achtziger ‚ich‘ und das der Neunziger ‚es‘ war, dann ist es im neuen Millennium ‚irgendwie‘. Alles muss vage und relativierbar sein. Erst war mal Inhalt wichtig, dann war Stil alles. Und jetzt wird nur noch gefaked.“ (S. 448) 
1996 verfilmte der spätere Oscar-Preisträger Danny Boyle („Slumdog Millionär“) Irvine Welshs Kultroman „Trainspotting“ (1993) und landete mit dem berauschenden Portrait einer sinnentleerten Spaßgesellschaft einen internationalen Erfolg, der auch Hauptdarsteller Ewan McGregor zum Star machte. Zum Filmstart von „T2 Trainspotting“ erscheint bei Heyne Hardcore, wo auch Welshs letzten Romane – das „Trainspotting“-Prequel - „Skagboys“ und „Das Sexleben siamesischer Zwillinge“ veröffentlicht wurden, mit der Neuauflage von „Porno“ (2002) der Roman zum Film.
Der aus Edinburghs Viertel Leith stammende, mittlerweile in Chicago lebende Irvine Welsh versteht es auch in „Porno“, seine abgefuckten Antihelden in einer Gossensprache reden zu lassen, die ebenso authentisch wie abstoßend wirkt, die aber auch genau das hoffnungslose Lebensgefühl widerspiegelt, in dem sich die Figuren gefangen sehen.
Einzig das Aufputschen durch Alkohol, Koks und hemmungslosen Sex scheint kurzfristig gegen die Sinnlosigkeit des Lebens ein Zeichen der Linderung setzen zu können. Wie sehr Welsh an seinen Figuren hängt, zeigt sich nicht nur an der Tatsache, dass er nach „Trainspotting“ sowohl ein Prequel als auch ein Sequel geschrieben hat, sondern beispielsweise auch Juice-Terry und die Birrell-Brüder aus dem Roman „Klebstoff“ in das „Trainspotting“-Universum eingeführt hat.
Wie Sick Boy letztlich erfolgreich versucht, seinen Porno-Film zu produzieren und in schließlich in einem Parallelwettbewerb in Cannes zu präsentieren, braucht sicher keine knapp 600 Seiten, auch nicht die zwangsläufige, Spannung erzeugende Konfrontation zwischen den Erzfeinden Begbie und Renton, so dass „Porno“ auch einige Längen aufweist, doch die absolut lebendige, mitreißende Art, in der Welsh das Lebensgefühl seiner Figuren in der jeweiligen Ich-Perspektive wiedergibt, resultiert in einem ebenso humorvollen wie tiefgründigen Roman, der sich auf einer Meta-Ebene auch mit dem Schönheitsideal und den durchaus fragwürdigen Werten und Lebensentwürfen im 21. Jahrhundert auseinandersetzt.
Leseprobe Irvine Welsh - "Porno"

China Miéville – „Dieser Volkszähler“

Freitag, 27. Januar 2017

(Liebeskind, 173 S., HC)
Ein Junge lebt mit seiner im Garten arbeitenden Mutter und seinem großen, blassen und besonnen wirkenden Vater abgeschieden auf dem Berg in einem dreistöckigen, irgendwie unfertig wirkenden Haus, gerade noch so in den Grenzen des dazugehörigen Dorfes. Der Vater fertigt magische Schlüssel für seine Kunden an, damit sie Liebe, Geld oder Einblick in die Zukunft bekamen, Dinge öffnen, Sachen reparieren oder Tiere heilen konnten. Nie kommen sie ein zweites Mal. Doch die Idylle trügt. Eines Tages rennt der Junge schreiend den Bergpfad herunter und berichtet den Leuten im Dorf, dass seine Mutter seinen Vater umgebracht habe. Als er berichten soll, was genau passiert sei, muss er feststellen, dass seine Erinnerungen ungenau sind. Hat nicht vielleicht andersherum der Vater die Mutter getötet?
Um dem geschilderten Vorfall auf den Grund zu gehen, suchen die Beamten das Haus des Jungen auf und finden den Vater vor, die Mutter sei – so ist auch einem handgeschriebenen Abschiedsbrief zu entnehmen – offensichtlich einfach weggegangen. Der Junge ist indes fest davon überzeugt, dass der Vater die Mutter ebenso ins unergründlich tiefe Loch im Berg geschmissen habe, wie er es sonst immer wieder mit verschiedenen Tieren getan hat. Da dafür allerdings kein Beweis gefunden werden kann, muss der Junge nun allein mit dem Vater auf dem Berg leben.
„Ich kann Ihnen nicht sagen, was mein Vater von mir wollte; vielleicht wollte er nur mich. Er liebte mich, aber er hatte ja auch meine Mutter geliebt, und diese Liebe hinderte mich nicht daran, ihn zu beobachten und darauf zu warten, dass sein Mienenspiel sich änderte. Sie hinderte mich nicht daran, mir darüber Gedanken zu machen.“ (S. 113) 
Der Vater schwört den Jungen auf die neue Lebenssituation ein und zwingt ihn dazu, in seiner Nähe zu bleiben, doch in dieser Atmosphäre von Angst und Zwang sucht er immer wieder die Gesellschaft seiner Freunde Samma und Drobe. Dann verschwindet auch Drobe …
Bereits mit seinem 1998 erschienenen Debütroman „King Rat“ wurde der in Norwich geborene China Miéville gleich für die renommierten Preise der International Horror Guild und für den Bram Stoker Award nominiert, seine weiteren Romane „Perdido Street Station“ und „The Scar“ (die hierzulande in jeweils zwei Romanen veröffentlich wurden) räumten ebenso wie „Die Stadt & Die Stadt“ oder „Der Eiserne Rat“ namhafte Auszeichnungen ab.
Mittlerweile darf Miéville zweifellos als einer der wichtigsten Erneuerer und Vertreter der Science-Fiction-Literatur betrachtet werden, der mit seinen Büchern stets die Konventionen des Genres durchbricht. Dafür ist auch seine Novelle „Dieser Volkszähler“ ein vorzügliches Beispiel.
Der titelgebende Volkszähler spielt hier eher eine Nebenrolle und taucht auch erst in den letzten dreißig Seiten des schmalen Bandes auf. Im Mittelpunkt steht der namenlose Junge in einem ebenso namenlosen Dorf, das nach einer nicht näher beschriebenen Apokalypse ganz auf Handel und Selbstversorgung angewiesen ist. Die einzige Maschine, die noch existiert, in eine Art Kraftwerk, mit dem die Straßenlaternen betrieben werden. Darüber hinaus wird einfach vieles der Imagination des Lesers überlassen.
Die Dorfbewohner werden eher unbestimmt als Fensterputzer, Offizielle und Fledermausangler beschrieben, ihre Tätigkeiten und ihre Art zu leben werden kaum näher definiert. Interessant ist vor allem die Erzählperspektive des Jungen, der seinen eigenen Erinnerungen kaum trauen kann, also wird auch der Leser stets im Ungewissen bleiben, wie die dargestellten Ereignisse und Schlussfolgerungen überhaupt zu bewerten sind.
Darüber hinaus gelingt es Miéville hervorragend, durch seinen einzigartigen Stil eine ausgeprägt unheimliche, unbestimmte und hypnotische Atmosphäre zu kreieren, die sich bis zum Schluss nicht auflöst und den Leser auch nach dem Umblättern der letzten Seite mit Unbehagen zurücklässt. Das vermag indes nur große Literatur.
Leseprobe China Miéville - "Dieser Volkszähler"

Peter Straub – „Schattenstimmen“

Donnerstag, 26. Januar 2017

(Heyne, 400 S., Tb.)
Während sich der Bestseller-Autor Timothy Underhill seit einiger Zeit über kryptisch anmutende Emails von verkürzt dargestellten Absendern ohne Betreffzeile wundert, versucht seine gerade mit dem Newbery-Preis ausgezeichnete Schriftstellerkollegin Willy Bryce Patrick herauszufinden, wie sie mit ihrem Mercedes zu einem Gebäude gelangt ist, das mit rostigen Blechbuchstaben verkündet, dass es einer Firma namens „Michigan Produce“ zu gehören scheint.
Sie fragt sich, ob dieser Vorfall auf das Trauma zurückzuführen ist, das der Mord an ihrem Mann Jim und ihrer Tochter Holly vor mehr als zwei Jahren bei ihr ausgelöst hat.
Auch Tim trägt schwer an seinen persönlichen Verlusten. Nachdem er als Siebenjähriger beobachten musste, wie seine geliebte Schwester April ermordet worden war, ist Mark, der Sohn seines Bruders Philip vor einem Jahr spurlos verschwunden. Als er mit Hilfe eines alten Schulfreundes die Absender der mysteriösen Emails zu identifizieren versucht, muss Underhill feststellen, dass es sich offensichtlich um die Adressen allesamt Verstorbener Ehemaliger handelt – allein der geheimnisvolle Cyrax meldet sich immer wieder und macht deutlich, dass Underhill in seinem letzten Buch „Haus der blinden Fenster“ einen gravierenden Fehler begangen habe, den er unbedingt ausmerzen müsse.
Nachdem Willy Zeugin des Mordes an ihrem Freund Tom Hartman gewesen ist, flüchtet sie in eine Buchhandlung, in der gerade eine Lesung mit Timothy Underhill stattfindet. Sofort herrscht eine besondere Anziehungskraft zwischen den beiden Kollegen, die schicksalhaft miteinander verbunden sind.
„Der Anblick dieses Mannes mittleren Alters überraschte sie, gelinde gesagt. Augenblicklich stellte sich bei ihr das Gefühl ein, dass alles, was an diesem schrecklichen Tag geschehen war, nur dazu gedient hatte, sie exakt an diesen Punkt zu bringen, und dass sie genau an dem Ort gelandet war, der ihr schon seit langem vorherbestimmt war. Dieser Ort – und die Verrücktheit dieses Umstands kann kaum in Worte gefasst werden – befand sich in nächster Nähe von Timothy Underhill, einem Schriftsteller, den sie sehr mochte und dessen Ansichten ihr besonders tröstlich erschienen, wenn sie sich mies fühlte.“ (S. 216) 
Während sich nach wie vor die Häscher ihres fast zukünftigen Mannes Mitchell Farber auf der Jagd nach Willy befinden, machen sich Willy und Tim auf eine gefährliche Reise in ein Reich, in dem zunehmend die Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit verschwimmen.
Mit seinen Romanen „Geisterstunde“, „Schattenland“, „Der Hauch des Drachen“ und dem zusammen mit Stephen King entstandenen „Der Talisman“ ist Peter Straub Anfang der 1980er Jahre zu einem der bedeutendsten Fantasy- und Mystery-Schriftsteller avanciert, doch im 21. Jahrhundert ist es leider sehr ruhig um ihn geworden.
Mit „Schattenstimmen“ (2004 im Original unter dem Titel „In the Night Room“ veröffentlicht) ist 2008 der bislang vorletzte Roman des mehrfach mit dem Bram Stoker Award ausgezeichneten Autors erschienen. Er knüpft nahtlos an das vorangegangene Werk „Haus der blinden Fenster“ und bezieht sich explizit nicht nur auf diesen Roman, sondern erwähnt auch immer wieder Straubs andere Romane „Schattenland“, „Geisterstunde“ oder die Romane, die er mit seinem Co-Autor (dem nicht explizit erwähnten Stephen King) verfasst hat.
„Schattenstimmen“ erweist sich wie ein Film-im-Film als ein Roman, in dem sich der kreative Schöpfer auf einmal mit einer seiner erdachten Figuren in der wirklichen Welt auseinandersetzen muss. Die manchmal etwas sprunghafte Handlung und die komplexe Verwebung zwischen Dichtung und Wirklichkeit machen das Lesen nicht immer einfach und erschweren auch die Identifizierung mit den Hauptakteuren, aber Peter Straub versteht es dank seiner geschliffenen Sprache und einer dramaturgisch geschickt aufgebauten Spannung, das Interesse seines Publikums bis zum Finale wachzuhalten. „Schattenstimmen“ zählt sicher nicht zu Straubs ganz großen Werken, macht aber deutlich, worauf er in den 1980er Jahren seinen guten Ruf begründen konnte.

Philippe Djian – „Rückgrat“

Dienstag, 24. Januar 2017

(Diogenes, 418 S., Tb.)
Nachdem der einst erfolgreiche Schriftsteller Dan vor fünf Jahren von seiner Frau Franck verlassen worden ist, fehlt dem nun auf die Mitte Vierzig Zurasenden jegliche Inspiration. Allenfalls für Drehbücher, mit denen ihn in schöner, aber auch enervierender Regelmäßigkeit sein Agent Paul Sheller beglückt, reicht sein Esprit noch. Als dieser ihn allerdings geradezu anfleht, mit der dreißigjährigen Tochter des prominenten C.V. Bergen an ihrem Drehbuch zusammenzuarbeiten, platzt Danny der Kragen. Nichtsdestotrotz lässt er sich auf den Deal ein, schließlich ist er auf die regelmäßigen Schecks seines Agenten noch immer angewiesen, doch damit werden seine Probleme nicht weniger.
Sarah, die nach dem Selbstmord ihres Mannes Mat vor gut zwei Jahren, ebenso wie Dan sich durch allerlei kurzlebige Affären treiben lässt und Mutter von Gladys und Richard ist, ist Dannys beste Freundin, aber eigentlich besteht darüber hinaus auch eine erotische Anziehungskraft, die den Schriftsteller immer wieder verzweifeln lässt.
Auch seine Beziehung zu seiner aktuellen, extrem attraktiven Geliebten Eloïse Santa Rose gestaltet sich schwierig, immerhin ist sie als Sängerin viel unterwegs und kommt so zwangsläufig immer auch mit anderen Männern in Kontakt. Und als wäre das Leben nicht kompliziert genug, muss Dan auch zwischen seinem Sohn Hermann, der heimlich mit Gladys liiert ist, und seinem besten Freund Richard vermitteln, der als eifersüchtiger Bruder nicht ahnt, was sein bester Freund hinter seinem Rücken treibt.
Doch vor allem Sarah bereitet ihm immer wieder Kopfschmerzen, zumal sie sich gerade mit einem besonders unausstehlichen Typen zusammengetan hat …
„Ich habe ihr jahrelang zu Füßen gelegen, ich hätte alles Mögliche für sie getan … Aber das Oberste Gebot, Bumse nicht mit deiner besten Freundin, stand zwischen uns wie ein unheilvolles Schwert. Ich muss gestehen, dass das Resultat meinen Hoffnungen nicht gerecht wird … Kannst du mir verraten, was von dieser schönen Freundschaft bleibt, die wir auf meiner mühsamen Enthaltsamkeit und meinem so schmerzlichen Verzicht aufgebaut haben …?“ (S. 321) 
Auch mit seinem fünften Roman (nach „Blau wie die Hölle“, „Erogene Zone“, „Betty Blue – 37,2 Grad am Morgen“ und „Verraten und verkauft“) bleibt sich der französische Autor Philippe Djian treu. Wie in seinen vorangegangenen Werken steht auch in „Rückgrat“ ein Schriftsteller in Djians Alter im Mittelpunkt des Geschehens. Als Ich-Erzähler berichtet Dan von den Fehlschlägen in seinem Leben -der gescheiterten Ehe, der daraus resultierenden Flucht seiner Inspiration – und von den schwierigen Herausforderungen des Alltags, es seinem Agenten ebenso rechtzumachen wie seinem Sohn, seinen Freunden und Geliebten.
Dabei ist es gar nicht mal so spannend, wie die an sich übersichtliche Handlung vorangetrieben wird, sondern wie Djians Alter Ego seine inneren Kämpfe bestreitet, sein Gefühlschaos beschreibt, seine Beziehungen zu den Frauen in seinem Leben, zu seiner Arbeit und den Menschen um ihn herum, die ihm so viel Energie zu rauben scheinen. All das hat Djian wie gewohnt meisterhaft in eine glasklare Sprache gegossen und mit faszinierenden Beobachtungen über das Leben, die Liebe und die Kunst angereichtert.

Andrea De Carlo – „Wenn der Wind dreht“

Sonntag, 22. Januar 2017

(Diogenes, 427 S., HC)
Der erfolgreiche Immobilienmakler Alessio Cingaro wohnt zwar noch bei seiner Mutter, verfügt aber sonst über alle Annehmlichkeiten, die für Geld zu haben sind. Den nächsten großen Deal wähnt er bereits in der Tasche. An diesem Freitag fährt er nämlich mit vier miteinander befreundeten Klienten von Mailand ins umbrische Turigi, wo in absoluter Abgeschiedenheit ein traumhaftes Anwesen zum Verkauf steht. Doch wirklich entspannt gehen der Architekt Enrico Guardi, seine als Lektorin in einem renommierten Mailänder Verlag arbeitende Frau Luisa, die bekannte Fernsehshow-Moderatorin Margherita Novelli und der frisch geschiedene Arturo Vannucci, Vater zweier Kinder, die ihm seine Ex-Frau übers Wochenende kurzfristig aufs Auge drücken will, den Wochenendtrip nicht an.
Tatsächlich verfährt sich Alessio auf dem Weg zu den Häusern und gerät zu allem Überfluss mit dem Wagen in einen Graben, so dass der weitere Weg zu Fuß zurückgelegt werden muss. Als das Quintett sein Ziel endlich erreicht, muss die Reisegruppe erfahren, dass sich ihr Makler das Anwesen vorher gar nicht persönlich angesehen hat, dass er sich auch nicht der Tatsache bewusst gewesen ist, dass das Haupthaus noch immer bewohnt ist, und zwar von sehr ursprünglich lebenden Menschen, die den Tauschhandel längst aufgegeben haben und von dem leben, was sie selbst herstellen und sammeln.
Zunächst richten sich die Ressentiments der Kaufinteressenten gegen den Immobilienmakler, doch je mehr Zeit die vier vermeintlichen Freunde zwangsläufig miteinander in der Einöde ohne Funknetz und sonstiger Verbindung zur Außenwelt verbringen müssen, kommt ihre wahre Natur zum Vorschein.
„Margherita denkt, nur vor wenigen Jahren noch wäre das eine fantastische Gelegenheit gewesen, ihrer aller Kritikvermögen und Sinn für Ironie über sich und die Welt unter Beweis zu stellen, sie hätten spitzzüngige Bemerkungen und Witze gemacht und die ganze Nacht bis zum Morgengrauen wie verrückt gelacht. Jetzt hingegen sind sie vier Erfolgsmenschen, die infolge eines zeitweiligen Kontrollverlusts unter Schock stehen: Sie sind nur noch imstande, negative Daten zu registrieren und ihre restlichen Gedanken auf den morgigen Tag zu projizieren, an dem es ihnen auf die eine oder andere Weise gelingen wird, diesen Ort zu verlassen.“ (S. 117) 
Der italienische Bestseller-Autor Andrea De Carlo („Vögel in Käfigen und Volieren“, „Creamtrain“) beschreibt in seinem 2004 veröffentlichten und drei Jahre später auf Deutsch erschienenen Roman „Wenn der Wind dreht“ auf faszinierend eindringliche Weise das Zusammentreffen zweier ganz unterschiedlicher Lebensentwürfe.
Während die vier großstädtischen, mit allen Annehmlichkeiten der zivilisierten Konsumgesellschaft versorgten Erfolgsmenschen in den umbrischen Wäldern eine Oase der Ruhe und Entspannung suchen, streben Lauro, Mirta, Icaro, Gaia, Arup und Aria in ihrer selbstgewählten Kommune nach einem natürlicheren, komplett selbstbestimmten Leben. Jede Partei versucht der anderen die Vorzüge des eigenen Lebensstils schmackhaft zu machen, doch müssen alle Beteiligten im Verlauf ihrer erzwungenen Gesellschaft feststellen, dass sich jeder auch ordentlich in die Tasche lügt, um den Sinn und die Ausgestaltung seines Lebens zu rechtfertigen.
De Carlo entzieht sich dabei einer Bewertung, sondern macht in den lebendigen und pointierten Dialogen und inneren Einsichten seiner Protagonisten deutlich, dass das Leben nicht nur von selbstbestimmten Gewissheiten und Sicherheiten geprägt wird, sondern auch von Zweifeln und unerfüllten Sehnsüchten, die jedoch schwer einzugestehen sind. Das trifft in „Wenn der Wind dreht“ ebenso auf die in ihrem hektischen Alltag gefangenen Großstädter zu wie auf die ganz auf sich bezogenen Naturmenschen.
Faszinierend ist dabei vor allem zu verfolgen, wie jeder Einzelne nach dieser Reise eine persönliche Veränderung durchmacht, in der zumindest tief verwurzelte Gewissheiten zumindest angezweifelt werden.
Leseprobe Andrea De Carlo - "Wenn der Wind dreht"

Dennis Lehane – „Im Aufruhr jener Tage“

Samstag, 21. Januar 2017

(Ullstein, 760 S., HC)
Als sich der irischstämmige Danny Coughlin, Officer der Bostoner Polizei, im Rahmen der Charity-Veranstaltung „Boxing & Badges: Haymakers for Hope“ einen Vier-Runden-Kampf gegen einen seiner Kollegen liefert, nutzen die Cops der Special Squads Division unter der Leitung seines Patenonkels Eddie McKenna die Gelegenheit, um unter den großen anarchistischen, bolschewistischen, radikalen und subversiven Organisationen aufzuräumen.
Seit dem Bombenanschlag auf das Polizeirevier in der Salutation Street vor zwei Jahren und gemäß dem Espionage Act von 1917 können Bürger wegen ihrer regierungsfeindlichen Äußerungen verhaftet und deportiert werden. Allerdings müssten die ohnehin schlechtbezahlten, überarbeiteten Cops dann fast das komplette North End ihrer Stadt festnehmen. Um sich die unwürdigen Zustände auch in den Revieren nicht länger bieten zu lassen, planen die Cops einen Zusammenschluss des Wohltätigkeitsvereins Boston Social Club mit der nationalen Gewerkschaft AFL.
Danny ist zunächst skeptisch, als er von seinem Freund und Streifenpartner Steve Coyle darauf angesprochen wird, dass sich seine Chancen, zum Detective befördert zu werden, extrem verbessern würde, wenn er der Gewerkschaft beitreten würde, zumal er von seinem Vater, Captain Thomas Coughlin, Deputy Chief Madigan und seinem Onkel dazu angestiftet wird, in diesen subversiven Kreisen als Spion die Chefideologen ausfindig zu machen. Doch kaum hat Danny ein paar Treffen in der Fay Hall besucht, sympathisiert er mit den Plänen des BSC und entwickelt sich selbst zu einem charismatischen Wortführer, was ihn zunehmend seiner Familie entfremdet.
Dafür freundet er sich mit dem jungen Schwarzen Luther Laurence an, einem ehemals talentierten Baseballspieler, der sogar schon mit Babe Ruth auf dem Spielfeld stand, und nach einem von ihm selbst angerichteten Blutbad in seiner Heimatstadt Tulsa seine schwangere Frau Lila verlassen und nach Boston fliehen musste. Hier arbeitet er als Diener im Haushalt der Coughlin-Familie und muss immer wieder am eigenen Leib schmerzhaft erfahren, wie breit der Rassismus im Land noch verbreitet ist.
Als sich der BSC tatsächlich der AFL anschließt, droht auf einmal ein Streik der Polizisten, die seit sechs Jahren keine Lohnerhöhung erhalten haben und auf über siebzig Arbeitsstunden in der Woche kommen. In diesem Klima aus Misstrauen, Armut, tödlicher Krankheit, Rassismus und Unzufriedenheit trennen sich Danny und Luther von ihren Familien, um ihre eigenen hehren Ziele zu verfolgen, die in einem explosiven Gemisch aus Hass, Gewalt und Blut kaum zu erfüllen sein werden …
„Danny überlegte, ob er nach Hause gehen, sich den Dienstrevolver in den Mund schieben und ein für alle Mal Schluss machen sollte. Millionen Menschen waren im Krieg gestorben, für nichts als dämliche Territorialansprüche, und nun ging derselbe Krieg auf den Straßen weiter, heute in Boston, morgen in einer anderen Stadt. Arme Schweine, die sich gegeneinander aufhetzen ließen und sich gegenseitig den Schädel einschlugen. So war es immer gewesen, und so würde es immer sein. Das war ihm nun klar. Es würde immer so weitergehen.“ (S. 511) 
Nach den erfolgreich verfilmten Romanen „Spur der Wölfe“ (aka „Mystic River“ von Clint Eastwood) und „Shutter Island“ (von Martin Scorsese) legte der in Boston lebende Schriftsteller Dennis Lehane 2008 mit „Im Aufruhr jener Tage“ sein bisheriges Magnum Opus vor, einen epischen Gesellschaftsroman, der anhand der ungewöhnlichen Freundschaft eines engagierten Polizisten und eines jungen Schwarzen die vielschichtigen Probleme thematisiert, die zum Ende des Ersten Weltkriegs hin die amerikanische Metropole Boston erschüttert.
Bereits in dem großartigen ersten Kapitel, in dem Lehane die Begegnung zwischen dem aufstrebenden Baseball-Star Babe Ruth und dem talentierten Schwarzen Luther beschreibt, führt dem Leser sehr eindrucksvoll und empathisch den mehr oder weniger latenten Rassismus vor Augen, der zu jener Zeit geherrscht hat. Doch ebenso wie die Schwarzen haben auch alle anderen Minderheiten in der schwierigen Zeit, als viele Menschen um ihren Arbeitsplatz fürchten müssen, weil die Kriegsheimkehrer vorrangig in Lohn und Brot gebracht werden sollen, unter der rigorosen Politik von Bürgermeister, Gouverneur und Polizeichef zu leiden.
Überall scheinen Spitzel und Denunzianten zu lauern, politisches Kalkül über Menschlichkeit die Oberhand zu gewinnen.
„Im Aufruhr jener Tage“ ist ein hervorragend recherchiertes Stück bewegender Zeitgeschichte, ein vielschichtiger Familienroman und vitaler Politthriller, eine fundierte Milieustudie und selbst ein Liebesroman und vor allem ein wunderschöner Roman über die Freundschaft.
Erschreckend ist allerdings, wie aktuell die Themen in Lehanes großen Epos sind, denn gerade unter der neuen Präsidentschaft von Donald Trump dürften Minderheiten jeglicher Couleur und Gesinnung sich ähnlich fühlen wie Luther Laurence oder Dannys große Liebe Nora O’Shea …
Leseprobe Dennis Lehane - "Im Aufruhr jener Tage"

Andrea De Carlo – „Sie und Er“

Mittwoch, 18. Januar 2017

(Diogenes, 642 S., HC)
Der erfolgreiche, seit Jahren aber nicht mehr produktive Schriftsteller Daniel Deserti hat mit seinem 14 Jahre alten Jaguar XJS Cabrio gerade die Mautstelle Mailand Südwest passiert, als er mit einem schwarzen Mercedes zusammenstößt, in dem der Mailänder Anwalt Stefano und seine amerikanische Freundin Clare Moletto sitzen.
Clare besteht darauf, den alkoholisierten und verletzten Fahrer des Cabrios ins Krankenhaus zu fahren, doch Tage später müssen immer noch die Formalitäten geklärt werden, da Daniels Versicherung seit drei Monaten abgelaufen ist. So begegnen sich Clare und Daniel wieder. So unterschiedlich sie in ihrem Wesen sind, nehmen beide doch eine intensive wie geheimnisvolle Anziehung zueinander wahr.
Er, der früh von seiner Mutter verlassen worden und bei seiner Tante aufgewachsen ist, hat sich bislang von Affäre zu Affäre manövriert und hat eine Frau und zwei Kinder in England zurückgelassen. Sie hat eigentlich keine Ahnung, mit welcher Art von Mann sie an welchem Ort eigentlich leben will, von ihrer beruflichen Orientierung ganz zu schweigen.
Nachdem sie den chaotischen Künstler Alberto verlassen hat, schien der gut situierte, Sicherheit ausstrahlende Anwalt Stefano zunächst die richtige Wahl zu sein, aber mittlerweile ist sie von seiner bis zur Arroganz reichenden selbstsicheren wie langweiligen Art fast schon genervt und fühlt sich mit seinem von seiner herrschsüchtigen Mutter unterstützten Plan, eine gemeinsame Wohnung zu beziehen, unter Druck gesetzt. Da kommen ihr die Schmeicheleien des wortgewandten wie aufmerksamen Schriftstellers gerade recht.
Sie lernen sich auf ebenso ungewöhnliche wie leidenschaftliche Weise kennen, unternehmen eine gemeinsame Reise, von der Stefano nichts mitbekommt, und doch schwebt über ihrem Abenteuer stets die Frage, ob Er und Sie wirklich eine gemeinsame Zukunft haben.
„Wann er sich zum letzten Mal so gefühlt hat, weiß er nicht mehr; vielleicht als kleiner Junge ohne jede Entscheidungsgewalt über sein Leben. Er versteht nicht, wie es so weit kommen konnte, nach allem, was er aus den zahllosen Fehlern hätte lernen müssen, die er im Lauf der Zeit gemacht hat, und aus den dauerhaften Spuren, die sie hinterlassen haben. Ihm ist, als sei er völlig unfähig, sich weiterzuentwickeln, und werde ständig zurückgeworfen von seinem Hang zur Selbstzerstörung und seinem Ehrgeiz, mit seiner Arbeit erfolgreich zu sein.“ (S. 548f.) 
Bei dem epischen Liebesdrama „Sie und Er“ kommen dem Leser unweigerlich Parallelen zwischen Philippe Djians Protagonisten und Andrea De Carlos Daniel Deserti in den Sinn. Doch während die Ich-Erzähler in den Romanen des Franzosen eher von der Leidenschaft für die Frauen durch das wilde Geschehen getrieben werden, ist der Schriftsteller in dem 2010 erschienenen und zwei Jahre später auch hierzulande veröffentlichten Roman des Italieners ein kritisch analytischer Typ, der trotz seiner erstaunlichen Beobachtungsgabe auch nur von einer unbefriedigenden Affäre zur nächsten schliddert. Bis eben die völlig unsichere Amerikanerin Clare in sein Leben tritt und es gehörig durcheinanderwirbelt.
Andrea De Carlo nimmt sich in diesem über 600 Seiten langen Roman viel Zeit, die zunächst zufällig erscheinenden und kurzen Begegnungen sowie die Gemütszustände des Mannes und der Frau zu beschreiben, die sich auf unerklärliche Weise so anziehend finden. Wie De Carlo schließlich die Natur der weiblichen und männlichen Anziehungskraft beschreibt, ist ebenso faszinierend, erhellend wie wunderschön.
Hier braucht es eigentlich kaum echte Handlung, weil allein Desertis Analysen dieser Beziehung spannend und treffend genug sind, um den Leser zu fesseln. Nichtsdestotrotz schickt er seine beiden Protagonisten am Ende auf eine furios inszenierte Reise, die ebenso wild verläuft wie ihre jeweils atemlosen Gefühlsregungen füreinander.
Leseprobe Andrea De Carlo - "Sie und Er"

Peter Straub – „Das geheimnisvolle Mädchen“

Mittwoch, 11. Januar 2017

(Heyne, 348 S., Tb.)
Im Dezember 1969 kehren Elliot Denmark und seine Frau Vera nach einem vierjährigen Aufenthalt in Paris in ihre Heimatstadt Plechette City im südlichen Wisconsin zurück. Für Elliot war die durch Zuschüsse der Field Foundation ermöglichte Reise nach Frankreich eine willkommene Möglichkeit, sich von seiner Arbeit als Dozent für Kompositionslehre am heimischen College und der übertriebenen Fürsorglichkeit von Elliots Eltern zu lösen, die zu den prominentesten Familien der Stadt zählen. Es sollte ihm aber auch dabei helfen, Abstand von Anita Kellerman zu gewinnen, die er auf einer Party des Cellisten Nathan Himmel kennengelernt und mit der er eine kurze, aber leidenschaftliche Affäre unterhalten hatte.
Kaum sind die Denmarks wieder zuhause, werden der bekannte Komponist und seine Frau von allen möglichen Seiten belagert, zunächst von Veras Eltern Tessa und Herman Glauber, dann auch von Elliots Eltern Chase und Margaret Denwood. Elliot soll nicht nur ein Konzert in seiner Heimatstadt geben, sondern auch in einer lokalen Fernsehshow von Ted Edwards auftreten und sich dafür einsetzen, dass das große Waldgebiet von Nun’s Wood nicht wie geplant bebaut wird. Schließlich trifft er auch Anita wieder, die mit der missgestalteten Andy zusammenlebt, die wiederum Anitas problematischen Sohn Mark betreut.
„Es war unmöglich, Anita alleine zu sprechen. So lange Andy dabei war, mussten sie immer wieder zu zweitrangigen Themen abschweifen – fast alles, außer seiner Liebe zu Anita, schien jetzt zweitrangig zu sein. Er wünschte, Andy würde das Zimmer verlassen. Diese Unterhaltung, die Musik, die Drinks, sogar die frühe Dunkelheit, die von der Straße ins Zimmer kroch und Umrisse weichmachte und Einzelheiten undeutlich werden ließ, all dies schien darauf hinzudeuten, als wäre alles wie vor Jahren, als er sich an so vielen Winternachmittagen hier aufgehalten hatte.“ (S. 127 f.) 
Bevor Peter Straub mit Romanen wie „Geisterstunde“ und „Schattenland“ in den 1980er Jahren zu einem der bedeutendsten Autoren der modernen Mystery-Literatur wurde und mit Stephen King 1984 zusammen den Roman „Der Talisman“ veröffentlicht hatte, erschien mit „Under Venus“ 1974 ein Roman, der noch gar nichts mit diesem Genre zu tun hatte, aber im Zuge der wachsenden Popularität des Autors durch den Heyne Verlag 1986 auch erstmals in deutscher Sprache unter dem Titel „Das geheimnisvolle Mädchen“ erschien.
Dieses Frühwerk des amerikanischen Autors lässt sich mit seinen späteren, atmosphärisch dichten und auch spannenden Gruselwerken leider gar nicht vergleichen. Zwar erweist sich Straub bereits hier als feiner Stilist, doch hat er in „Das geheimnisvolle Mädchen“ eigentlich keine Geschichte zu erzählen. Dass sich die Handlung in der Weihnachtszeit des Jahres 1969 abspielt, lässt sich kaum sinnvoll nachvollziehen. Stattdessen wirkt das geschilderte gestelzte Gesellschaftsleben wie im Bürgertum des 19. Jahrhunderts. Die Charaktere bleiben erschreckend flach und gehen eher oberflächliche Beziehungen zueinander ein, ohne dass daraus irgendeine Spannung resultieren würde. Das titelgebende „geheimnisvolle Mädchen“ nimmt letztlich nur eine unbedeutende Nebenrolle ein und trägt zur Dramaturgie der schleppend inszenierten Geschichte kaum etwas bei. So ist dieses Frühwerk von Peter Straub einfach nur langweilig und nichtssagend.

Anthony McCarten – „Hand aufs Herz“

Sonntag, 8. Januar 2017

(Diogenes, 320 S., HC)
Um seinem miserabel laufenden Neuwagenhandel Back-to-Back (Olympia) Ltd. wieder auf die Beine zu helfen, veranstaltet Eigentümer Terry „Hatch“ Back einen Wettbewerb, mit dem er sich gleichzeitig im Guinness-Buch der Rekorde verewigen will. Zusammen mit seinen beiden, seit zwei Monaten nicht bezahlten, nicht sehr hellen, aber loyalen Angestellten Vince und Dan lost er aus über 150 Interessenten 40 Teilnehmer aus, die nichts weiter tun müssen, als mit einer Hand stets in Berührung mit einem Landrover zu bleiben, der dem Gewinner als Preis winkt.
Unter den Teilnehmern tummeln sich die verschiedensten Charaktere. Da ist der Geschäftsmann Tom Shrift, der vor dem finanziellen Ruin steht, nachdem er mit seiner Firma für künstlerisch gestaltete Postkarten von russischen Museen betrogen worden ist und dem bei einem Intelligenztest bescheinigt worden war, dass er zu den ein Prozent der Intelligenz-Elite der Welt zählt.
Auch die 39-jährige Politesse Jess Podorowski hat als Witwe und Mutter einer querschnittsgelähmten Tochter mit dem Leben zu hadern. Unter den weiteren Teilnehmern befinden sich u.a. der Rentner Walter, der wohlhabende Matt Brocklebank, der endlich mal etwas Sinnvolles in seinem Leben machen möchte, die junge Betsy Richards sowie ein Schlafloser aus Billingsgate, ein Obdachloser, ein Rumäne, ein Schlagzeuger, eine Hebamme, ein ehemaliger Fußballer, ein Berufssoldat …
Doch die erhoffte Publicity, mit deren Hilfe Hatch seinen Laden wieder in die schwarzen Zahlen zu bringen hofft, bleibt irgendwie aus. Stattdessen wird er in der örtlichen Radioshow von Lee Lerner runtergemacht, was Hatch im Grunde genommen verstehen kann, schließlich stellt dieser Wettbewerb auch für ihn selbst einen „Tiefpunkt auf dem Kulturbarometer“ dar.
Interessant gestaltet sich der Wettbewerb trotzdem. Nach der ersten Nacht sind nur noch 28 Teilnehmer am Start. Nach anfänglich lockeren Gesprächen zwischen ihnen entwickeln sich Affären und perfide Strategien, Konkurrenten dazu zu bringen, aus dem Wettbewerb zu fliegen. Dabei entwickelt nicht nur der gestrauchelte Geschäftsmann Tom, sondern auch die von polnischen Einwanderern abstammende Politesse ein ungewöhnliches Durchhaltevermögen über die Tage hinweg, in denen die Teilnehmer zunehmend mit Wahrnehmungsstörungen und anderen unerfreulichen Nebenwirkungen des Schlafentzugs zu kämpfen haben.
„Jess entdeckte jedoch, dass es etwas gab – vielleicht das einzige Mittel -, was gegen das Gefühl dieses stetigen Anwachsens der Leiden half.
Das Leiden der anderen.
Es war unglaublich, wie einen das aufbaute. Sie war verblüfft, wie sehr sie innerlich jubilierte, wenn ein anderer aufgab, davonwankte, nicht mehr an den Wagen zurückkam. Sie hatte ein schlechtes Gewissen deswegen, doch die Wirkung blieb.“ (S. 133) 
Der neuseeländische Autor Anthony McCarten („Superhero“, „Englischer Harem“) nimmt einen ungewöhnlichen Wettbewerb als Ausgangspunkt für eine Geschichte über Menschen, denen im Kampf ums Überleben (fast) jedes Mittel recht zu sein scheint. Doch im zunehmenden Konkurrenzkampf um das Auto entwickelt sich nicht nur Missgunst und Hass, sondern durchaus auch Verständnis, Mitleid und Zuneigung, die über einen Quickie in der Toilettenpause hinausgeht.
Bei aller Tragik ist „Hand aufs Herz“ vor allem ein einfühlsamer, tiefgründiger und auch komischer Roman über menschliche Schwächen und Tugenden und wartet mit einem überraschenden Finale auf.
 Leseprobe Anthony McCarten - "Hand aufs Herz"

Philippe Djian – „Verraten und verkauft“

Mittwoch, 4. Januar 2017

(Diogenes, 424 S., Tb.)
Fünf Jahre nach Bettys Tod ist es um Karriere des als Schriftsteller arbeitenden Ich-Erzählers nicht allzu rosig bestellt. Als er den 62. Geburtstag seines von ihm verehrten und mit ihm in einem Haus lebenden Dichter Henri ausrichtet, steckt sein Konto tief in den roten Zahlen. Händeringend wartet er auf den nächsten Scheck seines Verlegers, damit er endlich die Außenstände beim Lebensmittelhändler begleichen und seinen Mercedes aus der Werkstatt abholen kann, der dort seit einem Monat verweilt. Gemeinsam machen sich Henri und er auf die Suche nach Henris Tochter Gloria, die vor drei Monaten mit einem Gebrauchtwagenhändler durchgebrannt ist, was für Henri umso schwerer wiegt, als dass seine Frau Marlène ebenfalls mit einem Gebrauchtwagenhändler abgehauen war.
Doch als sie Gloria wieder zu sich holen – mit ihrem Freund im Gepäck – entspannt sich die Lage kaum. Der Ich-Erzähler unterhält eine komplexe Beziehung zur quirligen Tochter seines besten Freundes, die aus ihrer Verachtung ihm gegenüber keinen Hehl macht. Als dann auch Henris Ex-Frau Marlène wieder auftaucht, mit der der Autor immer wieder Sex hat, und ein Kritiker („Dingsbums“) alles daran setzt, seinen Ruf zu zerstören, wird das Leben nicht gerade einfacher.
Immerhin fangen sich auf einmal seine Bücher zu verkaufen, und die größeren und häufiger eintrudelnden Schecks sorgen für eine ungewohnt entspannte Lebenssituation.
„Ich hatte keine Lust zu reden, und sie redete nicht. Ich hatte keine Lust, mich zu bewegen, und sie bewegte sich nicht. Ich strich ihr eine Strähne hinters Ohr, und sie fasste nach meiner Hand. In der anderen hielt ich das Glas. Leider steht zu befürchten, dass ich nicht das Glück haben werde, in solch einem Moment zu sterben. Das macht aber nichts.“ (S. 191) 
Nach „Erogene Zone“ und „Betty Blue – 37,2 Grad am Morgen“ stellt „Verraten und verkauft“ den Abschluss einer Trilogie dar, in der der Franzose Philippe Djian über das Leben, die Liebe und das Schreiben sinniert, eingebettet in eine wundervolle Geschichte, die ihren Ausgang in einer außergewöhnlichen Männer- und Autoren-Freundschaft nimmt und über einen Road Trip zu den Tücken von Erfolg, Missgunst und Verrat führt.
Dabei hat der Ich-Erzähler selbst keinen geringen Anteil. Er sonnt sich im plötzlich auftretenden Erfolg, teilt mit dem zwanzig Jahre älteren Henri seine Not ebenso wie seinen Geldsegen, er lässt sich auf Affären sowohl mit Gloria als auch Marlène ein und unterhält ein schwieriges Verhältnis zu seinen Schriftstellerkollegen.
„Verraten und verkauft“ steckt voller Tempo, Witz, Erotik und immer wieder eingestreuten Lebensweisheiten eines coolen Schriftstellers, der stets um einen perfekten Stil bemüht ist und zu Frauen eine ganz besondere Beziehung unterhält. Zwar steht Djian eindeutig in der Tradition seiner literarischen Vorbilder Richard Brautigan, Henry Miller, Jack Kerouac und Jerome David Salinger, hat aber seinen ganz eigenen Ton in einer Welt gefunden, in der Liebe und die Kunst oft komplex miteinander verschlungen sind.

Philippe Djian – „Erogene Zone“

Mittwoch, 28. Dezember 2016

(Diogenes, 330 S., Tb.)
Der 34-jährige Schriftsteller Philippe Djian befindet sich gerade in einer extrem produktiven Schaffensphase, auf gut 100 vollgekritzelte Seiten kann er in den letzten Tagen zurückblicken, da schneit ihm die 18-jährige Cécilia auf der Flucht vor einem Mann ins Haus und bringt Djian fast um den Verstand. Doch das ist nicht die einzige Frau, die das Leben des Schriftstellers in kürzester Zeit aus den Fugen platzen lässt. Auf der Geburtstagsfeier seiner guten Freundin Annie, die zugleich die Schwester seines eigentlich einzigen Freundes Yan ist, trifft er auch Nina wieder, mit der noch vor ein paar Monaten zusammen gewesen ist und die er nach wie vor für das schönste Mädchen hält, das er je gehabt hatte.
Sie bittet ihren Ex, auf ihre achtjährige Tochter Lili aufzupassen, da sich Lilis Vater scheinbar nicht wie abgesprochen um das Mädchen kümmern kann, wenn Nina sich im Krankenhaus einer OP unterziehen muss.
Mit zwei jungen Mädchen im Haus lässt es sich nun gar nicht mehr so flott arbeiten, und der Schriftsteller ist ziemlich angefressen, als er erfahren muss, dass Nina gar nicht im Krankenhaus liegt, sondern einfach das Weite gesucht hat …
„Ich setzte mich wieder an die Arbeit, während alle anderen ausgingen, um sich zu amüsieren und um zu bumsen, und ich, ich hatte nicht die geringste Gelegenheit, das eines Tages nachzuholen, das war schon ziemlich beschissen, und wo ich einmal dabei war, fragte ich mich, was Nina eigentlich trieb, warum sie nicht da war. Ich verfasste auf die Schnelle ein kleines, wütendes Gedicht über die Unannehmlichkeiten, die das Zusammenleben mit sich bringt, aber es gelang mir nicht, das Problem erschöpfend zu behandeln.“ (S. 187) 
Bevor der französische Autor Philippe Djian den internationalen Durchbruch mit dem durch Jean-Jacques Beineix erfolgreich verfilmten Roman „Betty Blue, 37,2 Grad am Morgen“ schaffte, legte er mit dem Erzählband „50 gegen Einen“ und den Romanen „Blau wie die Hölle“ und „Erogene Zone“ mehr als nur stilistische Fingerübungen vor.
„Erogene Zone“ enthält bereits alle Zutaten, die Djians Werk bis heute auszeichnen, wobei der Ich-Erzähler manchmal Djians Namen trägt oder auch nicht, aber stets als Alter Ego des Autors fungieren darf.
In diesem Fall müht sich Philippe Djian als Getriebener zwischen seinem Werk als Schriftsteller und seiner Liebe zu den Frauen. Der Leser merkt schnell, dass beides schwer zu vereinbaren ist, aber manchmal dienen die Frauen ihm auch als Muse und nicht als erotische Verführungen. Wie der Ich-Erzähler dabei immer mal wieder betont, geht es ihm vor allem um den richtigen Stil, und hier erweist sich Djian tatsächlich als Meister der klaren, direkten Worte, der kraftvollen Sprache, die die Handlung und die schnittigen Dialoge wirbelnd vorantreibt.
Das Ringen um den treffenden Satz, die passende Beschreibung ist bei Djian und seinem Alter Ego ebenso zu spüren wie seine Leidenschaft für die Frauen, und seine Beschreibungen der erotischen Begegnungen sind ganz und gar nicht pornographisch, sondern demonstrieren nur sein Ringen um das Glück, das ihm Frauen bescheren.

Ian McEwan – „Am Strand“

Sonntag, 25. Dezember 2016

(Diogenes, 208 S., HC)
Nach ihrer Trauung in der Kirche St. Mary in Oxford stehen Florence und Edward kurz vor dem Vollzug ihrer Ehe. Noch sitzen sie in der Hochzeitssuite eines georgianischen Landhauses am Strand von Chesil Beach beim Abendessen, doch durch die offene Tür lässt sich bereits ein Blick auf das schmale Himmelsbett erhaschen, auf dem sich Edward am Ziel seiner Träume sieht. Im Jahr 1962 liegt die sexuelle Revolution noch in einiger Ferne, sowohl Edward und Florence können in dieser Hinsicht keine nennenswerten Erfahrungen aufweisen. Während Edward zumindest exzessiv masturbiert, ist seine junge Frau vor allem von Angst und Ekel erfüllt, wenn sie an den bevorstehenden Geschlechtsverkehr denkt.
Für Edward ist es die Erfüllung seiner Träume, endlich mit seiner geliebten Florence auf die intimste Weise vereint zu sein, für Florence dagegen eine mehr als lästige Pflichterfüllung, ein Preis, den sie dafür bezahlen muss, mit Edward zusammen sein zu dürfen. Die Katastrophe ist natürlich vorprogrammiert.
„Und was stand ihnen im Weg? Ihr Charakter und ihre Vergangenheit, Unwissen und Furcht, Schüchternheit und Prüderie, innere Verbote, mangelnde Erfahrung und fehlende Lockerheit, und dann noch der Rattenschwanz religiöser Verbote, ihre englische Herkunft, ihre Klassenzugehörigkeit und die Geschichte selbst. Also nicht gerade wenig.“ (S. 122) 
Bevor es überhaupt zu der von vornherein problembeladenen Vereinigung kommt, spritzt Edward seinen Samen über Florences Leib, die daraufhin von Ekel gepeinigt fluchtartig die Suite verlässt und zum Strand läuft. Edward, selbst zutiefst frustriert von dieser blamablen Episode, eilt ihr hinterher und stellt seine Frau zur Rede, die ihm einen ungewöhnlichen Vorschlag unterbreitet …
Ian McEwan hat sich bereits mit seinem Debüt, der Kurzgeschichtensammlung „Erste Liebe – letzte Riten“ (1975), als Meister der kurzen Erzählform erwiesen, die er für die meisten seiner Romane nahezu übernommen hat. Mit seinem 2007 veröffentlichten Roman „Am Strand“ erzählt er auf gerade mal 200 Seiten die Geschichte einer desillusionierenden Hochzeitsnacht.
Im Vorfrühling der sexuellen Revolution prallen zwei vollkommen unterschiedliche Erwartungshaltungen zusammen, mit denen ein junges Ehepaar sein „erstes Mal“ miteinander vollzieht, ohne dass vorher darüber gesprochen worden ist. Meisterhaft dringt McEwan in die jeweilige Psyche von Mann und Frau ein, rekapituliert die unausgesprochenen Ängste, Frustrationen und Glücksgefühle, und während der Leser mit Spannung mitfiebert, wie Edward und Florence in dieser prüden Atmosphäre zusammenkommen, unterbricht er die detaillierte Erzählung immer wieder mit Rückblicken aus der persönlichen Entwicklungsgeschichte der beiden Protagonisten, die sich am Ende unversöhnlich gegenüberstehen, wütend mit den Konsequenzen hadernd, mit denen sie sich nun nach ihrer vorhergegangenen Sprachlosigkeit und Unsicherheit auseinandersetzen müssen.
Auch wenn uns in der heutigen aufgeklärten und so offenen Zeit die thematisierte Unbeholfenheit in Sachen Sex merkwürdig und fremd anmutet, gelingt es McEwan souverän, seine Leser mit großem Einfühlungsvermögen in dieses außergewöhnliche Kammerspiel einzuführen und seine durchaus gebildeten Figuren ihr vermeintliches Glück an die Wand zu fahren, weil sie einfach nicht in der Lage sind, ihre Bedürfnisse zu artikulieren.
Leseprobe Ian McEwan - "Am Strand"