Carlos Ruiz Zafón – „Das Labyrinth der Lichter“

Freitag, 21. April 2017

(S. Fischer, 944 S., HC)
Als im Dezember 1959 der Bildungsminister Don Mauricio Valls y Echevarría mit seiner Frau Doña Elena Sarmiento de Fontalva in ihrer Villa einen Maskenball veranstaltet und in derselben Nacht spurlos verschwindet, beauftragt der Leiter des Nationalen Polizeikorps, Don Manuel Gil de Partera, den routinierten Leondro Montalvo mit der Suche nach dem Minister, der von 1939 bis 1944 als Gefängnisdirektor im Castell de Montjuïc in Barcelona gedient hatte.
Montalvo wiederum setzt seine mit außergewöhnlichen Talenten gesegnete Ermittlerin Alicia Gris auf den Fall an, die er aus Madrid nach Barcelona schickt und entgegen ihrer Gewohnheit diesmal nicht im Alleingang agieren lässt, sondern ihr den Offizier Vargas an die Seite stellt.
In Valls‘ Schreibtisch findet Alicia das Buch „Das Labyrinth der Lichter VII. Ariadna und der Scharlachprinz“ von Victor Mataix, das zu einer achtbändigen Reihe gehört, die der Autor 1931 begonnen hatte und unter Sammlern mittlerweile horrende Preise erzielt.
Über den Buchhändler Gustavo Barceló und den Rechtsanwalt Fernando Brians erhält Alicia schließlich Kontakt zum Journalisten Sergio Vilajuana, der Mataix im Herbst 1938 kennengelernt hatte. Schließlich führen ihre Ermittlungen zur Buchhandlung Sempere & Söhne und den Autor Daniel Martin.
„Sie erinnerte sich an die vielen Nächte, die sie schlaflos verbracht hatte im Glauben, der Organist Maese Pérez streiche um Mitternacht vor ihrer Zimmertür herum, und mit dem Wunsch, wieder zu dem verzauberten Buchladen zurückzukehren, wo tausendundeine zu erlebende Geschichten auf sie warteten.“ (S. 369) 
Alicia kommt einem raffinierten Komplott auf die Spur, das bis in die höchsten Kreise des Franco-Regimes reicht. Ehe sie die Zusammenhänge zwischen Valls‘ mysteriösen Verschwinden und ihrem eigenen Schicksal erkennt, müssen etliche Beteiligte noch sterben und um ihr Leben bangen …
Nachdem der aus Barcelona stammende Schriftsteller Carlos Ruiz Zafón zwischen 1993 und 1995 eine Fantasy-Trilogie und 1999 den alleinstehenden Roman „Marina“ veröffentlicht hatte, gelang ihm mit dem 2001 erschienenen und zwei Jahre später auch ins Deutsche übersetzten Roman „Der Schatten des Windes“ der internationale Durchbruch. Mit dem Auftakt einer Reihe, die sich um den „Friedhof der Vergessenen Bücher“ in Barcelona dreht, verknüpfte er auf fesselnde Weise die düstere Epoche der Franco-Herrschaft mit der Magie der Literatur und einer vielschichtigen Kriminalgeschichte.
Nach den Folgebänden „Das Spiel des Engels“ und „Der Gefangene des Himmels“ schließt Zafón seinen eindrucksvollen Zyklus mit dem epischen „Das Labyrinth der Lichter“ auf komplexe, aber doch nach wie vor fesselnde Weise ab. Der Leser begegnet vertrauten Figuren aus den vorangegangenen Bänden, mit der geheimnisvollen Alicia Gris aber eine seit ihrer Kindheit grausam gezeichnete, unnahbare wie verführerische Femme fatale, die in Montalvo einen Mentor gefunden hatte und unter ihm ihre unorthodoxen Fähigkeiten als Ermittlerin entwickeln konnte.
Ähnlich wie in den drei vorangegangenen Bänden gibt es in „Das Labyrinth der Lichter“ viel zu entdecken und zu entwirren, stellenweise sicher auch mehr, als zum vollen Genuss der geistreichen Lektüre vonnöten gewesen wäre.  
Zafón erweist sich nach wie vor als Meister der atmosphärisch dichten Schilderung sowohl der düsteren Milieubefindlichkeiten in den vierzig Jahren der Franco-Diktatur als auch den Straßen und Vierteln seiner geliebten Heimatstadt sowie den meist sehr sympathischen Charakteren, die oft über eine besondere Beziehung zur Literatur verfügen.
Zwar betont der Autor im Vorwort, dass jeder der vier Bände unabhängig von den anderen gelesen werden könne, doch für den Gesamteindruck macht die chronologische Lesefolge schon Sinn. An die Klasse des Weltbestsellers „Der Schatten des Windes“ kommt „Das Labyrinth der Lichter“ nicht heran. Allzu sehr verliert sich Zafón immer wieder in Nebenhandlungen und sprachlich zu verspielten Sequenzen und Dialogen, aber am Ende wird auch noch mal eine Linie zwischen den vier Bänden gezogen, die in ihrer Gesamtheit ein profundes Stück moderner spanischer Literatur darstellen. 
Leseprobe Carlos Ruiz Zafón - "Das Labyrinth der Lichter"

Richard Laymon – „Die Tür“

Mittwoch, 12. April 2017

(Heyne, 256 S., Tb.)
Bevor Richard Laymon in den 1990er Jahren mit Schockern wie „Das Treffen“, „Die Jagd“, „Das Spiel“ und „Rache“ zumindest in seiner Heimat zum Horror-Star avancierte, erschien 1980 mit „Haus der Schrecken“ nicht nur sein Debütroman, sondern gleichzeitig auch der Auftakt der „Keller“-Trilogie, die Heyne 2008 mit den dazugehörigen Romanen „Das Horrorhaus“ und „Mitternachtstour“ veröffentlicht hat. In Laymons Todesjahr 2001 erblickte schließlich mit „Friday Night in the Beast House“ ein abschließender vierter Band das Licht der Öffentlichkeit. Allerdings umfasst diese Story gerade mal gute 120 Seiten und wurde für die Heyne-Veröffentlichung unter dem Titel „Die Tür“ noch um die ebenso kurze Story „Die Wildnis“ (1998) ergänzt.
Der 16-jährige Mark Matthews überwindet endlich seine Schüchternheit und bittet seinen Schwarm Alison um ein Rendezvous. Die sagt überraschenderweise zu – allerdings nur unter der Bedingung, dass er ihr nachts Zugang zum legendären Horrorhaus in Malcasa Point verschafft. In diesem legendären Haus wurde 1903 nicht nur Ethel Hughes brutal ermordet, sondern über die Jahre hinweg viele weitere Menschen, deren schreckliches Ableben nun naturgetreu nachempfunden und für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde.
Tatsächlich gelingt es Mark, sich außerhalb der Öffnungszeiten in dem Haus zu verstecken und Alison später einzulassen. Doch sehr bald müssen die beiden Teenager bei ihrem Abenteuer feststellen, dass sie nicht allein sind. Offensichtlich treibt sich die legendäre Bestie, die für die brutalen Morde verantwortlich gemacht worden ist, noch immer in den Räumen des Horrorhauses herum.
„Bevor er einen Warnruf ausstoßen konnte, bevor er sich überhaupt bewegen konnte, hatte das Ding die Windjacke vor Alisons Brust gepackt und sie von den Knien gerissen. Sie schrie. Die Kerze fiel ihr aus ihrer Hand. Sie verschwand mit dem Kopf voraus im Loch, als würde sie hineingesogen. Im Nu steckte sie bis zur Hüfte in der Öffnung.“ (S. 111) 
Der Plot von „Die Tür“ gestaltet sich dabei ebenso konventionell wie die beschriebenen Horrorszenen. Die Figuren sind erschreckend eindimensional, die Spannung vorhersehbar gestaltet. Im Finale wird es sogar so absurd unglaubwürdig, dass man Laymon vorwerfen muss, dass er seiner voyeuristischen Fantasie etwas zu viel Auslauf gelassen hat.  
Jack Ketchum weist in seinem Vorwort zu „Die Tür“ zwar darauf hin, dass Laymon nie ein großer Stilist gewesen sei, aber von der sonst so lebendigen und authentisch wirkenden Sprache der besten Laymon-Titel ist „Die Tür“ ganz weit entfernt.
Das trifft leider auch auf „Die Wildnis“ zu, in der Ned Champion seinen Reisebericht von seinem Ausflug nach Lost River vorlegt. Der war eigentlich als Campingabenteuer mit seiner geliebten Cora geplant, doch nach dem Ende der Beziehung macht sich Ned allein auf den Weg durch die Wildnis. Nach anfänglicher Todesangst in der Nacht beginnt Ned schließlich sogar Gefallen an dem Alleinsein zu finden und beobachtet ahnungslose Wanderer. Vor allem die beiden Mädchen Gloria und Susie haben es ihm angetan. Als Ned allmählich der Proviant ausgeht, wird er mutiger und sucht die Schlafstätten seiner ausgekundschafteten „Opfer“ auf und kidnappt eines der Mädchen …
„Die Wildnis“ ist stilistisch ähnlich einfach gehalten, mit einem nicht sehr glaubwürdigen Plot versehen, der allenfalls als dünnes Gerüst für abartige Brutalitäten und Fantasien herhalten darf. Hier macht der Horror auch vor Hässlichen und Dicken nicht Halt! Um das ohnehin schmale Bändchen noch aufzublähen, liefert „Die Tür“ nicht nur das bereits erwähnte, aber wenig aussagekräftige Vorwort von Laymons Kollegen Jack Ketchum („Evil“, „The Lost“), sondern auch eine immerhin 25-seitige Leseprobe aus „Der Keller“ und das obligatorische kommentierte Werkverzeichnis der bei Heyne erschienenen Laymon-Titel.
Für die nächsten beiden Romane „Das Auge“ (1992) und „Das Ende“ (1999), die Heyne noch dieses Jahr veröffentlichen will, dürfen Laymon-Fans hoffentlich wieder bessere Geschichten erwarten …

Marlon James – „Eine kurze Geschichte von sieben Morden“

Dienstag, 11. April 2017

(Heyne, 858 S., HC)
Am 3. Dezember 1976 stürmen sieben bewaffnete Männer in der Hope Road das Haus des jamaikanischen Reggae-Stars Bob Marley, das im noblen Viertel von Kingston liegt, und eröffnen das Feuer. Während Marleys Manager und Frau jeweils schwer verwundet werden, erleidet der Musiker selbst nur leichte Wunden an Arm und Brust. Scheinbar völlig unbeeindruckt von den Geschehnissen nimmt er wenige Tage später an einem Friedenskonzert der PNP (People’s National Party) teil.
Die Attentäter selbst und die Hintergründe der Tat konnten bis heute nicht aufgeklärt werden.
Mit seinem dritten, 1985 sogar mit dem Man Booker Prize ausgezeichneten Roman „Eine kurze Geschichte von sieben Morden“ hat der aus Jamaika stammende und von Schriftstellern wie William Faulkner und James Ellroy beeinflusste Marlon James einen epischen Krimi inszeniert, der aufgehängt an dem Attentat auf Bob Marley vor allem über mehrere Jahrzehnte die komplexen politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse auf der karibischen Insel vor Augen führt.
Allerdings bedient er sich dabei nicht der chronologischen Schilderung eines allwissenden Erzählers, sondern der sehr subjektiven Ich-Perspektive von gut siebzig fiktiven Zeitzeugen, die jeweils verschiedene Puzzlestücke zum Gesamtbild beitragen.
Interessanterweise wird Bob Marley stets nur als „der Sänger“ bezeichnet, auch das politisch-gesellschaftliche Umfeld, das Jamaika in den 1970er Jahren und danach geprägt hat, wird nicht eingehend beschrieben, sondern erschließt sich nur im Gesamtkontext durch hier und da eingestreute Bemerkungen, in denen es um den Konflikt zwischen der kommunistisch orientierten PNP und der pro-westlichen, ultrakonservativen rechten und von US-Präsident Ronald Reagan unterstützten Jamaican Labor Party (JLP).
Es geht aber auch um Drogen und den Einfluss der CIA, so dass Drogenkuriere, Gangsterbosse, Ghetto-Kids, Prostituierte, Agenten, ein Journalist vom „Rolling Stone“ und Auftragsmörder zu Wort kommen.
Bob Marley wird in diesem Kontext einerseits mythisch als Volksheld überhöht, andererseits als Mischling diffamiert, der sein Volk verraten, an gefälschten Pferdewetten beteiligt gewesen und nur nach Reichtum und Ruhm gestrebt haben soll.
„Da haben wir also den Sänger und zwei Gangster von einer politischen Partei, die er angeblich nicht unterstützt, und sie scheinen so dick befreundet zu sein wie alte Schulkumpel. In den nächsten Tagen wird er gesehen, wie er mit Shotta Sherrif herumhängt, dem Paten der Eight Lanes, der für die andere Partei arbeitet, die andere Seite. Die beiden Oberbosse in einer Woche, zwei Männer, die mehr oder weniger die sich bekämpfenden Hälften von Downtown-Kingston kontrollieren. Vielleicht gibt er ja einfach den Friedensstifter, schließlich ist er bloß ein Sänger. Aber so langsam versteh ich, dass in Jamaika niemand einfach nur irgendwas ist. Da ist was im Busch, ich kann’s schon riechen. Hab ich bereits erwähnt, dass in zwei Wochen gewählt wird?“, lässt beispielsweise der „Rolling Stone“-Journalist Alex Pierce verlauten, der vor allem im 1991 angesiedelten abschließenden Kapitel „Sound Boy Killing“ die Zusammenhänge etwas deutlicher werden lässt. (S. 92)
Bis dahin erlebt der Leser eine wahre Tour de Force an Grausamkeiten jeder Art, an derben Sprüchen und deftigem Humor, an (homo)sexuellen Fantasien und Praktiken, den unterschiedlichsten Sprechweisen und Slang-Ausdrücken wie Bombocloth, Battyman, Brethren, Busha, Naigger, Jamdown und Hataclaps.
Erst in der Gesamtschau entsteht ein ebenso thematisch wie gesellschaftlich vielschichtiges Jamaika-Portrait, dem einige grundlegende Hintergrunderläuterungen für das Verständnis sicher gutgetan hätten, aber durch die unmittelbare, ungeschminkte und facettenreiche Weise, die Hintergründe des Attentats aus unzähligen sehr persönlichen Perspektiven eher unzusammenhängend darzustellen, wirkt „Eine kurze Geschichte von sieben Morden“ sehr authentisch, verwirrend, bewegend, brutal, komisch und lässt damit Jamaika damit in einem Licht erscheinen, das mit bisherigen Vorstellungen über den karibischen Staat gründlich abrechnet. 
Leseprobe Marlon James - "Eine kurze Geschichte von sieben Morden"

Ian McEwan – „Kindeswohl“

Mittwoch, 5. April 2017

(Diogenes, 224 S., HC)
Die 59-jährige Fiona Maye ist eine angesehene Familienrichterin am High Court in London und seit dreißig Jahren mit dem 50-jährigen Geschichtsprofessor Jack verheiratet. Weil er noch einmal die große Leidenschaft und Ekstase erleben will, bahnt er eine Affäre mit der 29-jährigen Statistikerin Melanie an, will seiner Ehe aber zuvor noch die Chance geben, das alte Feuer wiederzubeleben. Fiona fühlt sich durch diese Konfrontation nur gedemütigt und stürzt sich umso mehr in ihre Arbeit. Insofern trifft es sich ganz gut, dass sie mit einem außerordentlich dringenden Fall betraut wird.
Der 17-jährige Adam Henry ist schwer an Leukämie erkrankt und könnte gerettet werden, wenn er neben der obligatorischen Medikamenteneinnahme auch eine Bluttransfusion bekäme.
Doch das lehnen seine Eltern aus religiösen Gründen streng ab. Bei den Zeugen Jehovas ist es verboten, fremdes Blut „in den Körper aufzunehmen“, wie es ihrer Meinung im griechischen und hebräischen Originaltext der Bibel heißt.
Zwar kann Adam in drei Monaten, wenn er 18 wird, selbst über seine ärztliche Behandlung entscheiden, doch bis dahin liegt es an Fiona, eine Entscheidung zu fällen, ob den Eltern gestattet werden darf, ihren Sohn aus religiösen Gründen qualvoll sterben zu lassen, oder ob dem Krankenhaus als klagende Partei gestattet werden darf, die erforderlichen lebensrettenden Maßnahmen einzuleiten.
„Entweder, dachte Fiona, während ihr Taxi auf der Waterloo Bridge im Stau stand, geht es hier um eine Frau am Rande eines Nervenzusammenbruchs, die sich von ihren Gefühlen zu einer beruflichen Fehlentscheidung hinreißen lässt, oder darum, ob ein Junge durch das Einschreiten eines weltlichen Gerichts dem Glaubenssystem seiner Sekte entrissen wird oder nicht. Beides zugleich schien ihr nicht möglich.“ (S. 99) 
Um sich selbst ein Urteil darüber zu bilden, ob sich der junge Mann der Konsequenzen seiner Entscheidung (und damit auch der Eltern) in Gänze bewusst ist, besucht Fiona den Patienten im Krankenhaus …
Wie gewissenhaft Fiona Maye mit den Scheidungen, Unterhalts- und Sorgerechtsfällen umgeht, die sie zu verhandeln hat, macht der in London lebende Bestseller-Autor Ian McEwan („Abbitte“, „Am Strand“) in seinem kurzen Roman „Kindeswohl“ mit vielen eindrucksvollen Beispielen deutlich, die die renommierte Juristin in der Vergangenheit verhandelt hat.
Besonders knifflig sowohl in juristischer als auch moralischer Hinsicht gestaltet sich die zeitlich drängende Entscheidung zum Kindeswohl bei dem Zeugen Jehovas Adam, bei dem die gewissenhafte Richterin sogar selbst mit dem todkranken Patienten spricht, um herauszufinden, wie sehr seine Einstellung von der religiösen Erziehung seiner Eltern abhängt, auch wenn sie sein eigenes Todesurteil bedeutet. Fiona fällt schließlich eine Entscheidung, die ungeahnte Konsequenzen mit sich bringt.
Die Stärken von „Kindeswohl“ liegen vor allem in der umfassenden Darstellung der Frage, wie zwischen säkularem und kirchlichem Recht entschieden werden soll, vor allem die minutiös beschriebene Gerichtsverhandlung mit der Argumentation beider Parteien stellt einen außergewöhnlichen Höhepunkt des Romans dar. Dagegen erscheint die weniger tiefgehende Ehekrise eher nebensächlich und weicht die Intensität des lebensbedrohlichen Dramas auf.
Auch die scheinbar wahllose Aneinanderreihung anderer an sich interessanter Fälle aus Fionas Gerichtspraxis wirkt der Dramaturgie der Erzählung etwas entgegen, aber ohne dieses aufbauschende Begleitmaterial wäre „Kindeswohl“ eben nur eine Kurzgeschichte geworden.
Leseprobe Ian McEwan - "Kindeswohl"

Andrea De Carlo – „Zwei von zwei“

Sonntag, 2. April 2017

(Diogenes, 449 S., HC)
Im November 1968 lernt Mario auf einem Gymnasium in Mailand Guido Laremi kennen, doch nach der ersten Begegnung, nach der Mario den ungefähr gleichaltrigen Jungen auf seinem Mofa nach Hause gebracht hat, sehen sich die beiden neun Monate lang nicht, in denen Mario sich in der niederdrückenden Stadt einfach nur langweilt und mit dumpfen Empfindungen ohne Antrieb und Interessen die Zeit an sich vorüberziehen lässt. Als Guido zu Beginn der Quinta allerdings in Marios Klasse versetzt wird und sich zu ihm an den Tisch setzt, freunden sich der schüchterne Mario und der von seinen Klassenkameraden so ganz verschiedene Guido schnell an.
Mit seinem außergewöhnlichen, romantischen Aussehen zieht Guido sofort die Aufmerksamkeit der Mädchen auf sich, Mario hofft in seinem Schlepptau auch auf die eine oder andere Liebelei. Gemeinsam erleben sie das Aufbegehren der Schüler und Studenten gegen das verkrustete Bildungswesen und gehen nach dem Abitur getrennte Wege. Mario studiert Philosophie und geht eine bürgerliche Beziehung ein, Guido lässt sich rastlos durch die Welt treiben, wechselt von einer Frau zur anderen und schreibt schließlich an seinem ersten Roman „Canemacchina“, in dem er voller Abscheu, Verzweiflung und Rachgier mit dem verhassten Mailand abrechnet.
Das Buch wird überraschenderweise ein voller Erfolg, von den Kritikern allerdings als Selbstportrait einer Lost Generation missverstanden. Nachdem sich Mario mit den Mitteln einer kleinen Erbschaft mit seiner Frau Martina auf dem Land eine autark lebende Gemeinschaft aufgebaut hat, treten die unterschiedlichen Lebensentwürfe der beiden Jugendfreunde immer deutlicher zutage.
„Zehn ganze Jahre lang waren Martina und ich in Le Due Case geblieben, hatten immer an ein und demselben Ort gearbeitet, Beziehungen hergestellt und Probleme gelöst, so sehr mit seiner Atmosphäre verwachsen, dass wir – abgesehen von der Stadt, aus der wir geflüchtet waren – ganz vergessen hatten, dass es auch noch andere Orte gab.“ (S. 369) 
Andrea De Carlo hat sich mit seinen ersten Büchern „Creamtrain“ und „Vögel in Käfigen und Volieren“ zum Sprachrohr seiner Generation gemacht und vor allem die sozialen und gesellschaftlichen Missstände in seiner Mailänder Heimatstadt seziert. Mit „Zwei von zwei“ knüpft er nahtlos an diese Thematik an, beschreibt zu Anfang minutiös die Bildungsmisere in der Stadt, die in lautstarken Protesten der Studenten mündete, und benutzt die zwei konträren Lebensentwürfe seiner Protagonisten Mario und Guido dazu, die Konsequenzen dieser zermürbenden Atmosphäre auf das Leben der Städter aufzuzeigen.
Während der Ich-Erzähler Mario sich radikal vom Stadtleben abwendet und eine Art selbstverwaltete Kommune auf dem Land ins Leben ruft, findet der rastlose Guido keinen Halt, weder in örtlicher noch persönlicher Hinsicht. Das Auseinanderdriften der beiden Freunde und ihrer Daseinsformen wirkt in der ersten Hälfte noch sehr interessant und spannend, reduziert sich dann aber zunehmend auf die allzu detaillierte Lebensweise auf dem Land, während Guidos Reisen durch die Welt und Entwicklung immer mehr in den Hintergrund geraten und nur noch durch seine sporadischen Briefe an seinen alten Freund thematisiert werden.
Die Lost Generation hat sich dann irgendwann auch auf dem Land verloren …

Linwood Barclay – (Promise Falls: 3) „Lügenfalle“

Montag, 27. März 2017

(Knaur, 493 S., Pb.)
Die kleine US-amerikanische Ostküstenstadt Promise Falls kommt einfach nicht zur Ruhe. Nachdem vor nicht mal einer Woche jemand das Autokino am Stadtrand in die Luft gejagt und dabei vier Menschen getötet hatte, hat Polizeichef Barry Duckworth am langen Memorial-Day-Maiwochenende nicht nur wie üblich mit seinem Übergewicht zu kämpfen, sondern auch den Ursprung einer echten Epidemie herauszufinden. Offensichtlich hat jemand das Trinkwasser der Stadt vergiftet, so dass im völlig überlasteten Stadtkrankenhaus bald über hundert Tote zu beklagen sind.
Nutznießer dieser Katastrophe scheint wieder einmal der frühere Bürgermeister Randy Finley zu sein, der nach wie vor plant, nach seiner skandalösen Affäre mit einer minderjährigen Prostituierten wieder zu kandidieren. Zum Glück hatte Finley die Produktion seiner Trinkwasser-Anlage seit einer Woche hochfahren lassen, so dass er die besorgten Bürger nun medienwirksam mit kostenlosem Wasser aus seinen Quellen versorgen kann.
Doch Duckworth hat sich kaum in den Fall einarbeiten können, da erreicht ihm vom örtlichen Thackeray-College die nächste Hiobsbotschaft: Dort wird die Studentin Lorraine Plummer in ihrem Zimmer ermordet aufgefunden, mit der gleichen Art von tödlicher Verletzung, die auch vor drei Jahren Olivia Fisher und kürzlich Rosemary Gaynor erlitten haben.
Ins Zentrum der Ermittlungen gerät Victor Rooney, der es offenbar nicht verwunden hat, dass vor drei Jahren zwar 22 Menschen den Mord an seiner Freundin Olivia mitbekommen, aber nichts unternommen haben, und sich dafür vielleicht an der ganzen Stadt rächen will.
„Wie wütend war Victor Rooney wirklich auf das Versagen dieser Stadt? Wütend genug, um es ihr heimzuzahlen? Wütend genug, um Botschaften zu senden? Dreiundzwanzig tote Eichhörnchen an einem Zaun, zum Beispiel? Drei rot beschmierte Schaufensterpuppen in Kabine 23 eines stillgelegten Riesenrads? Einen brennenden, außer Kontrolle geratenen Bus mit einer ‚23‘ auf dem Heck?“ (S. 318) 
Und schließlich sucht der ehemalige Journalist David Harwood, der nun die Öffentlichkeitsarbeit für Finley betreibt, nach Sam und ihrem Sohn Carl, die im Trubel der Trinkwasservergiftung ihre Sachen gepackt und spurlos verschwunden sind …
Im großen Finale seiner „Promise Falls“-Trilogie besinnt sich Thriller-Bestseller-Autor Linwood Barclay („Ohne ein Wort“, „Frag die Toten“) wieder auf seine originären Fähigkeiten und präsentiert von Beginn an einen atmosphärisch dichten, atemlosen Pageturner, in dem eine Katastrophe auf die nächste folgt. Zum Glück konzentriert sich der Autor diesmal wieder auf ein überschaubareres Figuren-Ensemble, nachdem es in „Lügennacht“ doch arg durcheinander herging.
Zwar macht sich Barclay auch diesmal wenig Mühe, seinen Figuren Charakter zu verleihen – abgesehen von dem immer mal wieder als Ich-Erzähler fungierenden Polizeichef bleiben die Einwohner und Verantwortlichen von Promise Falls ziemlich blass -, aber die Suche nach dem Trinkwasser-Attentäter einerseits, dem Frauenmörder andererseits und schließlich dem Zusammenhang mit der ominösen Zahl 23 und den früheren merkwürdigen Vorfällen in der Stadt ist absolut packend beschrieben.
Barclay thematisiert dabei nicht nur mangelnde Zivilcourage und die allgegenwärtige Angst vor Terrorismus, sondern auch generell den Zerfall zivilisierter Werte und Moralvorstellungen.
Leseprobe Linwood Barclay - "Promise Falls III: Lügenfalle"
 

Clive Barker – „Spiel des Verderbens“

Sonntag, 26. März 2017

(Knaur, 510 S., Tb.)
Nach sechs Jahren im Wandsworth-Gefängnis bekommt Marty Strauss die Gelegenheit, neu anzufangen. Ein gewisser Mr. Toy unterbreitet dem Häftling das Angebot, als persönlicher Leibwächter für den in die Jahre gekommenen Joseph Whitehead zu arbeiten, der als Selfmade-Mann mit der Whitehead Corporation eine der größten pharmazeutischen Firmen in Europa aufgebaut hat. Marty muss allerdings schnell feststellen, dass er von einem Gefängnis ins nächste gelangt ist. Das als „Asyl“ bezeichnete Anwesen stellt sich als wahre Festung dar, die der Firmenchef – und somit auch sein Leibwächter - nie verlässt.
Cover der späteren Heyne-Wiederveröffentlichung
Da Marty feststellen muss, dass seine Frau Charmaine kein Interesse mehr an einer Beziehung mit ihm hat, ist sein Freiheitsdrang auch nicht mehr besonders ausgeprägt. Außerdem findet er sehr schnell Gefallen an Whiteheads Tochter Carys, die allerdings von ihrem Vater mit Heroin versorgt wird, damit sie einigermaßen zurechtkommt.
Was Marty allerdings wirklich beunruhigt, ist der geheimnisvolle Mamoulian, der sich als einer der letzten „Europäer“ sieht und zusammen mit Breer, ebenfalls Mitglied einer weiteren aussterbenden Rasse, nämlich der Rasierklingenesser, bei Whitehead alte Schulden einzutreiben gedenkt. Marty erfährt, dass die Auseinandersetzung der beiden Kontrahenten vor sechzig Jahren in Warschau ihren Anfang nahm und nun in einer allumfassenden Apokalypse zu enden droht.
„Heiliger Jesus, dachte er, so musste die Welt enden. Eine Zimmerflucht, Autos auf der Straße, die nach Hause fuhren, und die Toten und beinahe Toten lieferten sich bei Kerzenlicht Handgemenge. Der Reverend hatte sich geirrt. Die Sintflut war keine Woge. Sie war blinde Männer mit Äxten; sie war die Großen auf den Knien, wie sie beteten, nicht durch die Hände von Narren sterben zu müssen, sie war das Jucken des Irrationalen, welches zur Epidemie geworden war.“ (S. 487) 
Der 1952 in Liverpool geborene Clive Barker kam über das Theater und den Film zur Schriftstellerei und fasste seine ersten Kurzgeschichten in den zwischen 1984 und 1985 veröffentlichten sechs „Büchern des Blutes“ zusammen, von denen bis heute immer wieder einzelne Geschichten verfilmt werden.
Durch seine drastisch unverblümte Darstellungsweise, seine ungebändigte Phantasie und seine bildgewaltige Sprache avancierte Barker in kürzester Zeit zum Erneuerer des Horror-Genres und lieferte 1986 mit „Spiel des Verderbens“ seinen ersten Roman ab, der beim Knaur Verlag in deutscher Erstausgabe in der kongenialen Übersetzung von Joachim Körber erschienen ist (aber mit einem so schlechten Cover, dass ich mich hier für das stimmungsvollere Cover der späteren Heyne-Wiederveröffentlichung entschied, die allerdings an Körbers Übersetzung herumgepfuscht hat).
Wie in seinen vorstellungskräftigen Kurzgeschichten kreiert Barker auch in seinem Romandebüt ein allumfassendes Grauen, das in diesem Fall aus den Scharmützeln des Krieges entstanden ist und aus der Gier der Protagonisten in weitschweifende Horror-Szenarien mündet.
Was mit dem Verstand schwer zu fassen ist, beschreibt Barker äußerst minutiös und fast schon genussvoll, so dass Schmerz und Tod nahezu eine willkommene Abwechslung zu den üblichen Alltagsroutinen darstellen. Dazu nimmt sich Barker viel Zeit für die Beschreibung seiner außergewöhnlichen Figuren und der Atmosphäre, in der sich diese bewegen. Dass er sich dabei oft biblischer Motive bedient, hebt die Geschichte in einen mal sakralen, dann wieder ketzerischen Kontext. Wie Whitehead und Mamoulian im Finale für eine letzte Auseinandersetzung zusammentreffen, ist einfach großartig und entschädigt für manche Passagen, in denen die Story nicht so recht vorankommen mag.

Paul Auster – „Die New York-Trilogie“

Sonntag, 19. März 2017

(Rowohlt, 375 S., Tb.)
Unter dem Namen William Wilson hat der New Yorker Schriftsteller Daniel Quinn nahezu im Jahrestakt einen Detektivroman veröffentlicht, nachdem er zuvor unter eigenem Namen noch Gedichte und kritische Essays geschrieben hatte. Das brachte ihm immerhin genügend ein, um nach dem halben Jahr, das er zum Schreiben eines Krimis benötigte, ein weiteres halbes Jahr mit Lesen, Kino und Spazierengehen durch die Stadt verbringen zu können. Doch dieser behagliche Rhythmus gerät aus dem Takt, als er eines Tages einen Anruf erhält, der eigentlich für einen Privatdetektiv namens Paul Auster gedacht gewesen ist. Auch wegen der Dringlichkeit ist Quinns Interesse geweckt.
Er soll einen Mann namens Peter Stillman davor beschützen, dass sein Vater ihn ermordet. Quinn alias Auster nimmt den Auftrag an, stöbert den Gesuchten auf und verfolgt ihn Tag und Nacht. Offensichtlich bewegt sich der Mann in bestimmten Grenzen, die Wege scheinen auf ein Schema hinzudeuten, auf Buchstaben, die mit dem Turmbau zu Babel zu tun haben.
„Er merkte, dass es keineswegs unangenehm war, Paul Auster zu sein. Obwohl er noch denselben Körper, denselben Verstand, dieselben Gedanken hatte wie sonst, war ihm zumute, als wäre er irgendwie aus sich selbst herausgenommen worden, als müsste er nicht mehr die Last seines eigenen Bewusstseins tragen. Durch einen einfachen Gedankentrick, eine geschickte kleine Namensänderung fühlte er sich unvergleichlich leichter und freier. Gleichzeitig wusste er, dass alles nur eine Illusion war.“ (S. 65) 
Und so verliert sich Quinn in „Stadt aus Glas“ bis zur Selbstaufgabe in einem Labyrinth der Identitäten und Illusionen. In der kürzesten der drei Novellen, „Schlagschatten“, wird dieses Thema auf noch abstraktere Weise fortgeführt. Hier werden die Figuren schlicht nach Farben benannt. Der von seinem Chef Brown eingearbeitete Blue bekommt in seinem New Yorker Büro am 3. Februar 1947 von White den Auftrag, einen Mann namens Black zu verfolgen und so lange wie möglich im Auge zu behalten. Auf den wöchentlichen Bericht, den White in genau definierter Form erwartet, folgt jeweils ein Scheck. Die Aufgabe erscheint nicht schwer. Blue bezieht eine Wohnung, die sein Auftraggeber für ihn angemietet hat, und beobachtet Black dabei, wie dieser in seiner Wohnung in Henry David Thoreaus „Walden“ liest und immer wieder in sein rotes Notizbuch schreibt. Irgendwann beginnt Blue, ebenfalls in „Walden“ zu lesen, sucht unter falschem Namen und verkleidet die Begegnung mit Black und wird für immer verändert …
Auch in „Hinter verschlossenen Türen“ wird der Leser mit einer Detektivgeschichte konfrontiert, die konventioneller beginnt als die beiden vorangegangenen. Vor sieben Jahren bekam der Ich-Erzähler einen Brief von einer Frau namens Sophie Fanshawe, die sich als Ehefrau seines besten Freundes entpuppt, mit dem er schon als Baby aufgewachsen ist, den er Zeit seines Lebens bewundert, aber irgendwann aus den Augen verloren hat. Fanshawe sei vor sechs Monaten spurlos verschwunden, schrieb sie. Der Erzähler wurde allerdings nicht damit beauftragt, Fanshawe zu suchen, sondern dessen unveröffentlichte Manuskripte zu sichten und zu entscheiden, was mit ihnen geschehen solle.
Kaum schlägt Fanshawes größtes Werk, der Roman „Niemalsland“, bei Kritik und Publikum ein, erhält der Erzähler einen Brief von Fanshawe. Indem er sich an die Biografie seines alten Freundes macht, begegnet er sich in vielerlei Hinsicht selbst …
Auch wenn die „New York-Trilogie“, deren drei Geschichten im Original zwischen 1985 und 1986 erschienen sind und den New Yorker Schriftsteller Paul Auster weltberühmt machten, zunächst voneinander unabhängig erscheinen, führt sie schon die thematische Ähnlichkeit zusammen. Was jeweils als klassische Detektivgeschichte beginnt, entwickelt sich im Verlauf der Handlung zu einer Auseinandersetzung zu Fragen der Rolle eines Autors und der Namen, unter denen er seine Werke veröffentlicht, es geht um die Biografien von Individuen, deren Sinn im Leben sich erst im Tod offenbart; letztlich geht es um Wahrnehmung und Identität, um Täuschung und Fiktion, um Selbst- und Fremdwahrnehmung.
Auster erweist sich in diesem komplexen Territorium als stilistischer Meister. Mühelos zieht er den Leser in den Bann – vor allem bei „Stadt aus Glas“ und der hervorragenden letzten Geschichte „Hinter verschlossenen Türen“ -, lässt sich ihn von dem meist überraschten, dann zunehmend interessierten Erzähler/Protagonisten an die Hand nehmen und auf die Suche nach verschwundenen Personen gehen, deren Geschichte sich immer mehr mit der des Autors/Detektivs vermischt.
Am Ende jeder einzelnen Geschichte und vor allem am Ende der Trilogie bleibt der Leser ebenso fasziniert wie verwirrt zurück und beginnt bestenfalls, seine eigene Biografie und Identität zu hinterfragen.

Cormac McCarthy – „Draußen im Dunkel“

Samstag, 18. März 2017

(Rowohlt, 220 S., HC)
Irgendwo im Süden der Vereinigten Staaten bringt die 19-jährige Rynthie Holme in einer heruntergekommenen Hütte einen Jungen zur Welt. Der Vater des Kindes, Ryhnthies Bruder Culla, bringt das Neugeborene in den Wald und erzählt der jungen Mutter, dass das Kind verstorben sei. Tatsächlich wird es von einem umherfahrenden Kesselflicker aufgelesen. Rynthies entlarvt die Lüge ihres Bruders und macht sich auf die Suche nach ihrem Kind. Culla wiederum sucht nach seiner Schwester und nimmt unterwegs immer wieder einfache Jobs für Unterkunft und Essen an. Bei einem Friedensrichter zerlegt er einen Baum, an anderer Stelle soll er ein Grab ausheben.
Ihre ganze Suche nach dem Baby/der Schwester sind die Holmes auf die Gnade und Barmherzigkeit ihrer Mitmenschen angewiesen, auf einen kühlen Schluck Wasser hier, einen Teller voll Bohnen mit knochentrockenem Brot dort. Doch immer wieder begegnen sie auch Menschen, die es nicht so gut mit ihnen und ihren Mitmenschen meinen, Tod, Gewalt und Blut begleiten ihre Wege durch die kärgliche Landschaft ebenso wie Hunger und Durst und der Wunsch nach einem Dach über dem Kopf.
„Er marschierte hangab aus bebautem Land in sonnenloses Gehölz; die kühle Landschaft beschrieb eine dunkle, von riesigen Farnen überhangene Kurve, das graue Moos an den Bäumen wie Hexenhaar, ein grüner triefender Hag voller Vogellaute, wie er sie nie gehört hatte. Keine Spuren im festgetretenen Sand, auch er hinterließ keine.“ (S. 109) 
„Outer Dark“ ist der zweite, im Original 1968 veröffentlichte Roman des 1933 geborenen Schriftstellers Cormac McCarthy, der später durch seine erfolgreich verfilmten Romane „All die schönen Pferde“, „Kein Land für alte Männer“ und „Die Straße“ weltberühmt wurde. In „Draußen im Dunkel“, 1994 endlich durch den Rowohlt Verlag auch der deutschen Leserschaft zugänglich gemacht, beschreibt McCarthy von Beginn an eine düstere, schreckliche Welt, in der ein Geschwisterpaar in ärmlichen Verhältnisse durch die Folgen ihres Inzest auseinandergetrieben wird und sich in den staubigen, unwirtlichen Landstrichen einfach nicht wiederfinden, dafür immer wieder in Situationen geraten, in der sie um Wasser betteln, nach Mitfahrgelegenheiten oder Arbeit suchen, aber auch um ihr Leben kämpfen müssen.
Für ihre Sünde bezahlen Culla und Rynthie einen hohen Preis, ungeschützt irren sie durch von finsteren Gestalten bevölkerte Landschaften, atmen den Geruch von Blut und Tod und verzweifeln selbst an den erbärmlichen Verhältnissen, in die sie hineingezwungen wurden.
„Draußen im Dunkel“ ist ein zutiefst pessimistischer, deprimierender Roman, der keine Hoffnung bereithält, weder für die bemitleidenswerten Figuren noch für die Leser. Faszinierend ist vor allem, mit welch starken Bildern McCarthy die Landschaft und das schreckliche Schicksal seiner Protagonisten beschreibt, für die das Leben nur eine zermürbende Aneinanderreihung von Ärgernissen bereithält. Diese apokalyptische Wucht muss man auch als Leser erst einmal ertragen können.

Wallace Stroby – (Crissa Stone: 2) „Geld ist nicht genug“

Sonntag, 12. März 2017

(Pendragon, 336 S., Pb.)
1978 machten sechs Mafiosi richtig Kasse, als sie in das Lufthansa Cargo-Terminal am JFK-Flughafen marschierten und mit mindestens acht Millionen, nicht nachzuverfolgenden Dollar und Juwelen wieder herauskamen. Offensichtlich wurde einiges von dem Geld an die Bosse abgegeben, aber eine Menge blieb für die Mannschaft übrig. Allerdings wurden die Leute gierig. Jimmy „der Gent“ Burke, der das Ding durchzog, hatte immer einen Anteil an seinen Boss, Joey Dio, abdrücken müssen. Schon wenige Tage nach dem Job legten Jimmy und Joey die Beteiligten um, allein Benny Roth konnte rechtzeitig im Zeugenschutzprogramm untertauchen.
Nachdem nun aber auch Joey gestorben und das Geld von damals immer noch nicht aufgetaucht ist, macht sich nun Danny Taliferro mit ein paar Handlangern auf die Suche nach den verschwundenen Millionen und hat wenig Mühe, Benny ausfindig zu machen.
Zwar kann der mittlerweile 62-Jährige mit seiner viel jüngeren Freundin Marta gerade noch so fliehen, aber die nächste, sicherlich tödliche Konfrontation wird nicht lange auf sich warten lassen. Durch seinen alten Kumpel Jimmy lernt er die taffe Bankräuberin Crissa Stone kennen, Benny führt sie zum Anwesen von Joey Dios Geliebte, bei der er die Millionen im Safe vermutet, den Joey eigens im Keller einbauen ließ, doch bevor Benny und Crissa die Lage sondiert haben, sitzen ihnen schon wieder Taliferro und seine Jungs im Nacken …
„Sie war irritiert, wütend. Wieder etwas, das ihr weggenommen wurde. Zuerst der Schlamassel in South Carolina, dann Cavanaugh, jetzt das. Eine lange Kette von Pech. Ereignisse, die sie vorwärtstrieben, als wenn sie keine Kontrolle über sie hätte, keine Wahl, ihr Schicksal schon entschieden. Alles rutschte ihr weg, bevor sie es in Ordnung bringen konnte. Alles war auf dem Weg zur Hölle.“ (S. 172) 
Nach „Kalter Schuss ins Herz“ veröffentlicht der Bielefelder Pendragon-Verlag mit „Geld ist nicht genug“ den zweiten Roman um die charismatische Bankräuberin Crissa Stone, mit der der ehemalige Polizeireporter Wallace Stroby eine außergewöhnliche Figur geschaffen hat.
Stroby führt seine Protagonistin bei einem ihrer ganz speziellen Fähigkeiten ein, und das daraus resultierende Desaster macht deutlich, dass in Crissas Leben einiges im Argen liegt, ihr Lover Wayne sitzt noch im Gefängnis, ihre Tochter Maddie lebt bei einer Verwandten. Um mit Wayne und Maddie ein neues Leben anzufangen, braucht sie das gewisse Startkapital. Der Deal, den ihr Benny anbietet, klingt allzu verlockend, doch wenn die Mafia im Spiel ist, sind oft tödliche Komplikationen vorprogrammiert.  
Stroby beweist ein feines Händchen bei der Charakterisierung seiner Figuren, die er in einem äußerst realen Setting agieren lässt. Doch während Martin Scorsese aus dem spektakulären Lufthansa-Raub in seinem grandiosen Gangster-Epos „GoodFellas“ thematisierte, formt Stroby aus dem wahren Fall einen temporeichen Hardboiled-Thriller, der ohne Umschweife und unnötige Nebenhandlungen eine fesselnde Jagd nach den verschwundenen Millionen inszeniert.
Leseprobe Wallace Stroby - "Geld ist nicht genug"

Cynan Jones – „Alles, was ich am Strand gefunden habe“

Samstag, 11. März 2017

(Liebeskind, 237 S., HC)
Der polnische Emigrant Grzegorz hat in einer walisischen Küstenstadt auf ein besseres Leben für sich und seine Familie gehofft, kommt mit seiner Arbeit in einem Schlachthof aber mehr schlecht als recht gerade so über die Runden. Da kommt ihm das Angebot, als Fahrer eines Bootes für eine Kurierfahrt etwas hinzuzuverdienen, mehr als gelegen.
Auch der einheimische Garnelen-Fischer Hold träumt von einem glücklicheren Leben, trauert aber auch seinem besten Freund Danny nach, der vor drei Jahren gestorben ist und Hold das Versprechen abnahm, sich um seinen Sohn Jake zu kümmern, aber er kann nicht verhindern, dass das Haus, in dem der Junge mit seiner Mutter Cara lebte, wahrscheinlich verkauft werden muss.
Ebenso wie Grzegorz wartet Hold auf die einmalige Chance, aus seinem Leben etwas zu machen, genug Geld zu verdienen, um für Cara und Jake sorgen zu können. Als er am Strand ein Boot mit einer Männerleiche entdeckt, fallen ihm drei Drogen-Päckchen in die Hände.
„Er hatte dieses Bild von Cara vor sich gehabt, wie sie mit dem Hals in einem Netz steckte und sich bis zur Erschöpfung abkämpfte. Von seiner Mutter. Greif zu, dachte er. Greif zu und versuch, etwas daraus zu machen. Sonst stehst du wieder nur da und schaust zu.“ (S. 100) 
Doch als Hold die Drogen zu Geld machen will, läuft die Sache aus dem Ruder …
Aus der Perspektive zweier Männer, die nichts anderes vom Leben kennen, als zu arbeiten und mit ihrem kümmerlichen Lohn weit davon entfernt sind, ihre Träume verwirklichen zu können, beschreibt der walisische Schriftsteller Cynan Jones („Graben“) den harten Überlebenskampf und von den Träumen, irgendwie an so viel Geld zu kommen, dass das Elend hinter sich gelassen werden kann.
Die Handlung gerät dabei fast in den Hintergrund und wird auch nicht mit Tempo vorangetrieben. Der verpatzte Drogendeal dient nur als Aufhänger für das vermeintliche Glück, das Grzegorz und dann Hold unerwartet in die Hände fällt, aber letztlich nicht erfüllt wird. Jones fokussiert seine Erzählung eher auf die nachdenklich-melancholische Stimmung, in der die beiden Arbeiter verzweifelt nach einer Möglichkeit suchen, ihre Familien ordentlich versorgen zu können.
Indem Jones sein Figuren-Ensemble auf ein Minimum beschränkt und sehr tief in ihre emotionalen Gefilde eintaucht, entsteht ein Roman von fesselnder Eindringlichkeit, die vor allem durch die wunderbare Sprache evoziert wird.
Leseprobe Cynan Jones - "Alles, was ich am Strand gefunden habe"

Paul Auster – „4 3 2 1“

Montag, 6. März 2017

(Rowohlt, 1259 S., HC)
Als Enkel des aus Minsk stammenden Großvaters Isaac Reznikoff, der über Warschau, Berlin und Hamburg am Neujahrstag 1900 nach New York kam und sich fortan nach einem Missverständnis bei der Immigration Ichabod Ferguson nannte, wächst Archibald „Archie“ Ferguson im Newark der fünfziger Jahre auf.
Sein Vater Stanley, der tüchtigste von insgesamt drei Ferguson-Jungen, lernte 1943 seine damals 21-jährige Frau Rose Adler kennen, die bei dem Portraitfotografen Emanuel Schneiderman arbeitete, während er das lange Zeit erfolgreiche Geschäft Three Brothers Home World führte, bis es sich durch die kriminelle Energie seines Bruders Lew buchstäblich in Rauch aufgelöst hat, wobei er selbst in den Flammen umkam. Doch was wäre geschehen, wenn Stanley Ferguson nicht im Lagerhaus seines Geschäfts verbrannt wäre?
Dies ist nur eine der möglichen Weggabelungen im Leben von Archie Ferguson, der sich in den fünfziger Jahren für Baseball und Basketball begeistert, nach dem tragischen Autounfall mit seiner Tante Mildred aber an zwei Fingern verstümmelt wurde und seitdem eine Karriere als Journalist bzw. Autor einschlägt, sich in seine Cousine Amy verliebt (oder in die Schwester eines Freundes), aber seine ersten sexuellen Erfahrungen mit einem Jungen macht und auch später keine eindeutigen Präferenzen bei der Partnerwahl hegt.
Die Sommerferien verbringt er mit anderen jüdischen Jugendlichen im Camp Paradise, wo er seinen guten Freund Artie Federman durch ein Hirnaneurysma verliert. Archie beginnt sich für klassische Musik, große Literatur oder grandiose Filme zu interessieren – je nachdem, wie sich die Wege seines Lebens ausgestalten. Ferguson erlebt die Wahl John F. Kennedys, die Kuba-Krise, die Attentate auf Kennedy und Martin Luther King, reist nach Paris und wird Walt-Whitman-Stipendiat an der Universität von Princeton.
„Er war nicht mehr der Junge, der mit vierzehn als schwachköpfiger Niemand Sohlenverwandte geschrieben hatte, doch er trug diesen Jungen noch immer in sich und spürte, dass sie beide einen langen gemeinsamen Weg vor sich hatten. Das Fremde mit dem Vertrauten verbinden: Das war es, was Ferguson anstrebte, die Welt so genau beobachten wie der hingebungsvollste Realist und sie trotzdem durch eine andere, leicht verzerrte Linse sehen, denn wer Bücher las, die nur auf Vertrautes eingingen, erfuhr zwangsläufig, was er schon wusste …“ (S. 659) 
Auch wenn Paul Austers neuer Roman „4 3 2 1“ weit umfangreicher ist als viele seiner bisherigen Bücher zusammen, bleibt er seinen bevorzugten Themen doch treu und verknüpft sie auf atemberaubend virtuose Weise. Es ist vor allem ein grandioser Coming-of-Age-Roman, der nicht nur eine Entwicklungsgeschichte beschreibt, sondern derer gleich vier. Der bei Auster so beliebt eingesetzte Zufall und seine Auswirkungen auf das weitere Geschehen und die Geschichte werden in „4 3 2 1“ zu gleich vier Lebensentwürfen ausgestaltet, die nebeneinandergestellt werden und stets interessante Züge annehmen.
Vor dem Hintergrund großer politischer Ereignisse wie dem Vietnamkrieg, Bürgerrechtsbewegungen, Rassenkonflikten und Studentenunruhen, politischen Skandalen und Hiroshima entdeckt Archie Ferguson seine zügellose sexuelle Begierde, seine Liebe zu den großen kulturellen Errungenschaften, bewertet seine Beziehungen zu seinen Eltern, Freunden und Verwandten immer wieder neu und versucht letztlich nur, unter stets schwierigen Umständen und nach schweren emotionalen Rückschlägen seinen Weg und sein Glück zu finden.
Zwar verliert der Roman im letzten Viertel doch etwas an Schwung, aber die Idee, einen jungen Menschen über zwanzig Jahre lang auf vier verschiedenen Wege zu begleiten, ihn an der Columbia oder in Princeton studieren, ihn als Journalist oder Schriftsteller arbeiten und diese oder jene Menschen lieben zu lassen, ist in seiner Detailverliebtheit, in der sprachlichen Ausgestaltung und unter ausführlicher Einbeziehung all der politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Begleiterscheinungen einfach großartig.
 Leseprobe Paul Auster - "4 3 2 1"

Anthony McCarten – „Licht“

Mittwoch, 22. Februar 2017

(Diogenes, 364 S., HC)
New York im Jahr 1878. Der schwerhörige Erfinder Thomas Alva Edison arbeitet im Alter von 32 Jahren an der Erfindung der Glühbirne. Als der berühmte Bankier John Pierpont Morgan – der von der Times sogar als „Napoleon der Wall Street“ bezeichnet wird - im Dezember in der New York Times vom Triumph des großen Erfinders liest, sieht er bereits das große Geschäft vor Augen, das die Elektrifizierung der Stadt verspricht.
Doch das Projekt ist noch weit davon entfernt, in die Praxis umgesetzt zu werden, denn bislang hält die Leuchtkraft einer Birne nur für zwei Stunden an. Edison schickt einen Mann auf der Suche nach dem idealen Glühfaden durch die ganze Welt, hat aber auch mit dem hartnäckigen Konkurrenten Nikola Tesla zu kämpfen, der bei jeder Gelegenheit öffentlich proklamiert, dass sein Wechselstrom viel besser sei als der von Edison bevorzugte Gleichstrom.
Was Edison aber wirklich entsetzt, ist die Tatsache, dass sein Stromkonzept auch zur humaneren Hinrichtung von Menschen eingesetzt werden soll …
„Er dachte an die Ketzer der Wissenschaft im Laufe der Geschichte, verurteilt für Ansichten oder Entdeckungen, die als Verbrechen galten, Leute, die sich weigerten, zu widerrufen oder zu leugnen. Jetzt spürte er deutlich, was für einen Preis solche Leute für ihre Tapferkeit und Aufrichtigkeit bezahlt hatten. Und wie stand er im Vergleich zu solchen Männern da? Wer war er im Vergleich zu einem Galileo oder Giordano Bruno?“ (S. 272) 
Der neuseeländische Autor Anthony McCarten, der durch das Theaterstück bzw. das Drehbuch zum (unautorisierten) Film „The Full Monty – Ganz oder gar nicht“ und international bekannt geworden ist, hat auch mit seinen Romanen „Englischer Harem“, „funny girl“ oder „Liebe am anderen Ende der Welt“ weltweit Publikum und Kritiker begeistern können.
Auch der 2012 erschienene Roman „Brilliance“ ist 2010 zunächst als Theaterstück konzipiert gewesen, bevor er jetzt bei Diogenes unter dem Titel „Licht“ in deutscher Übersetzung erscheint. Auf den Ausführungen von Edisons Biografen und Historikern basierend schildert der Roman das beschwerliche Leben eines großen Mannes, der mit seinen Erfindungen stets das Leben der Menschen erleichtern wollte, aber nicht zuletzt durch den teuflischen Pakt mit dem Finanzier J. P. Morgan mit zunehmenden Alter erkennen musste, dass seine Erfindungen ein Eigenleben entwickelten, dem er nichts entgegenzusetzen hatte.
Wie in seinen vorangegangenen Werken erweist sich McCarten in „Licht“ einmal mehr als sehr Erzähler außergewöhnlicher Schicksale. Zwar könnte er bei der Charakterisierung seiner Figuren, die sich bei „Licht“ nahezu auf Edison und Morgan beschränkt, noch mehr in die Tiefe gehen und auch den Interessenkonflikt zwischen den beiden Männern deutlicher herausarbeiten, aber bei aller knackiger Dramaturgie wird doch deutlich, wie sehr Edisons Herzensangelegenheiten (vor allem seine beiden Ehen) und vor allem sein Gewissen unter der gnadenlosen Kommerzialisierung seiner Erfindungen leiden.
Auf der anderen Seite wird gerade im Finale sehr pointiert herausgestellt, wie die skrupellosen Geschäftsinteressen mächtiger Bankiers die Geschicke der Welt leiten.
McCarten präsentiert mit „Licht“ die etwas andere, leicht zu konsumierende Biografie eines außergewöhnlichen Mannes, der unter dem Druck der übermächtigen Geschäftswelt zusammenbricht.
Leseprobe Anthony McCarten - "Licht"

Gerhard Henschel - (Martin Schlosser: 7) „Arbeiterroman“

Sonntag, 19. Februar 2017

(Hoffmann und Campe, 527 S., HC)
Nach dem Abbruch seines Studiums beginnt für den 25-jährigen Martin Schlosser 1988 der Ernst des Lebens. Um die Miete seiner Wohnung in Oldenburg bezahlen zu können, jobbt er als Hilfsarbeiter in der Spedition für neun Mark die Stunde, während seine Freundin Andrea immerhin eine Mark mehr bekommt, wenn sie putzen geht. Eigentlich will Schlosser sein Prosadebüt mit dem Arbeitstitel „Die Weißheit der Indianer“ bei einem Verlag unterbringen, doch trotz etlicher Absagen lässt er sich nicht unterkriegen und bekommt mit seinen Kurzgeschichten und Reportagen immerhin beim „Alltag“ einen Fuß in die Tür.
Zwischen der Plackerei in der Spedition und dem Schreiben von Reportagen über das Leben im friesischen Jever und Kaffeefahrten verbringt Schlosser seine Zeit mit dem Lesen von „Der Spiegel“, „Frankfurter Rundschau“, „taz“, „Kowalski“, „Titanic“, „konkret“ und Karheinz Deschners „Kriminalgeschichte des Christentums“ sowie Romanen von Eckhard Henscheid, John Le Carré und Walter Jens. Vor allem hält ihn aber seine Familie auf Trab.
Seine Mutter möchte aus Meppen wegziehen, was der Vater überhaupt nicht versteht, dann bringt sich sein Cousin Gustav um, und der Mutter geht es mit ihrem Lymphdrüsenkrebs immer schlechter. Schließlich zieht Schlosser mit seiner Andrea nach Heidmühle, wo Schlosser nun in einer Kneipe jobbt und die Folgen der Wiedervereinigung am eigenen Leib zu spüren bekommt.
 „Die DDR-Menschen, die sich im Fernsehen äußerten, sahen fast alle so aus, als ob sie sich um eine Nebenrolle in einer Parodie auf die TV-Serie Miami Vice bewerben wollten. Sie trugen sonderbare Formfleischfrisuren und hatten sich gruselige Oberlippenbärte wachsen lassen, die in mir den Verdacht erweckten, daß die realsozialistische Mangelwirtschaft auch dem Bartwuchs hinderlich gewesen sei.“ (S. 410)
Aufmerksam verfolgt Schlosser das Zeitgeschehen und steht auch einer spirituellen Weiterentwicklung offen gegenüber, während seine Freundin Andrea vielleicht doch nicht mehr mit Kindern arbeiten, sondern als Bauchtänzerin Karriere machen möchte …
Nach „Kindheitsroman“, „Jugendroman“, „Liebesroman“, „Abenteuerroman“, „Bildungsroman“ und „Künstlerroman“ legt der bei Hamburg lebende Schriftsteller Gerhard Henschel mit „Arbeiterroman“ bereits den siebten Band der großartigen Chronik seines Ich-Erzählers und Alter Egos Martin Schlosser vor.
Wie gewohnt gehen in kurzen Absätzen Alltagsbeschreibungen und -bewältigung, Familien- und Liebesprobleme, Lese- und Hörgewohnheiten sowie geistvolle Kommentare zum Zeitgeschehen fast nahtlos ineinander über und bilden so über einen Zeitraum von über einem Jahr umfassend sowohl Schlossers (alias Henschels) Kampf um die Anerkennung als Autor (inklusive Aufnahme bei der Künstlersozialkasse) als auch familiäre Auseinandersetzungen ab.
Besonders amüsant fallen aber vor allem seine Beobachtungen und Kommentare zu politischen Entwicklungen wie der Auflösung der DDR und kulturgeschichtlichen Anekdoten wie den Themen, die in der NDR Talk Show oder im Feuilleton der Tages- und Wochenzeitungen abgehandelt werden. Das ist so lebendig geschrieben, als würde der Leser die Jahre 1988 bis 1990 noch einmal live miterleben und dazu die humorvoll-bissigen, aber durchaus treffenden Analysen zum Zeitgeschehen gleich mitgeliefert bekommen.

Philippe Djian – „Blau wie die Hölle“

Sonntag, 12. Februar 2017

(Diogenes, 394 S., Tb.)
Auf dem Weg zu seiner Freundin Lucie wird Henri an einer Autobahnraststätte abgesetzt, wo er Zeuge wird, wie der Fahrer eines Buick den Laden betritt, die Toilette in Brand setzt und den Moment, als der Barkeeper das Feuer löschen will, zum Ausräumen der Kasse nutzt. Henri begleitet den Typen namens Ned kurzerhand auf seiner Flucht, aber die beiden haben unverzüglich den wirklich fiesen Bullen Franck in seinem Mercedes im Nacken.
Seit ihm seine geliebte Frau Lili vor sechs Tagen den Laufpass gab, kennt der ohnehin cholerische Cop keine Gnade mehr. Nachdem er mit seinem Kollegen Willy den Buick von der Straße gedrängt und die beiden flüchtigen Männer in Gewahrsam genommen hat, schleppt er seine Gefangenen direkt nach Hause, kettet sie im Badezimmer an und wartet darauf, dass Lili zu ihm zurückkommt.
Doch als sie mit Carol, seiner Tochter aus erster Ehe, aufkreuzt, fliehen die beiden Frauen mit Ned und Henri, worauf eine wilde Verfolgungsjagd über Landesgrenzen hinweg ihren Lauf nimmt …
In der Zwischenzeit tröstet sich Franck mit allen Frauen, die ihm während der Verfolgung von Ned und Henri über den Weg laufen.
„Er zuckte mit den Schultern, jetzt, wo sie ihre Spalte verbarg, blieb nichts mehr, für den Bruchteil einer Sekunden hatte er sich von ihr angezogen gefühlt, er hätte sie aufgespießt, doch gleichzeitig hätte er sich um ihre Tränen gekümmert, er hätte es versucht, aber es war vorbei, er tigerte mit seinem Glas durch das Zimmer, und als er zum Sofa zurückkam, hatte er sie völlig vergessen, sie war still, er streckte sich aus und legte einen Arm über seine Stirn, die Gedanken kamen zuhauf, die Bilder prasselten auf ihn ein, ohne jeden Bezug, sie überlappten sich, betäubten ihn.“ (S. 274) 
1986 war ein extrem gutes Jahr für den französischen Schriftsteller Philippe Djian, da wurden nämlich sowohl sein 1982 veröffentlichter Debütroman „Blau wie die Hölle“ durch Yves Boisset als auch sein dritter Roman „Betty Blue – 37,2 Grad am Morgen“ (1985) durch Jean-Jacques Beineix verfilmt. Tatsächlich präsentiert sich „Blau wie die Hölle“ wie ein atemberaubender Trip zwischen Godards Kultfilm „Atemlos“, Sam Peckinpahs „Getaway“ und David Lynchs „Wild at Heart“.
Der Roman stellt einen wilden Mix aus Sex und Gewalt dar, wobei der klassische Road-Movie-Plot nur das Gerüst darstellt, an dem sich die kaputten Typen, Männer wie Frauen, entlanghangeln, vielmehr hetzen, denn echte Verschnaufpausen sind weder den Flüchtenden noch den Cops vergönnt.
Das wahnwitzige Tempo der Handlung findet seine Entsprechung in Djians flotter Schreiber und einem coolen Stil, der sich in Sätzen voller Kommata oder auch ohne Satzzeichen konzentriert. Es bleibt bei dieser Hatz durch ein unbekanntes, aber an die USA erinnerndes Land, wobei eine Grenze in die Wüste überquert wird, auch dem Leser kaum Zeit, sich mit den Figuren auseinanderzusetzen, denen nichts wirklich heilig oder auch nur wichtig scheint. Was man begehrt, nimmt man sich einfach. Dieser Nihilismus wirkt dabei ebenso erfrischend wie anstrengend, auf der Suche nach Bedeutung wird der Leser schier verzweifeln. Aber wer das Tempo von „Blau wie die Hölle“ mitgehen kann, wird mit grober Action und ebenso grobem Sex belohnt.

Clive Barker – „Gyre“

Samstag, 11. Februar 2017

(Heyne, 599 S., Jumbo)
Als der 26-jährige Versicherungsangestellte Calhoun Mooney die ausgebüchste Nummer 33 der etwa vierzig Tauben seines Vaters wieder einfangen will, stürzt er bei einem waghalsigen Einfangmanöver vom Fenstersims eines Hauses in der Rue Street und einem außergewöhnlichen Teppich entgegen, der gerade vom Grundstück getragen wird. In ihm erkennt Cal eine fantastische Welt, die ein immerwährendes Abenteuer verheißt. Doch hinter diesem gewebten Kunstwerk sind auch der 52-jährige zwielichtige Händler Shadwell und die Zauberin Immacolata her, die die verkommene Welt der Menschen wie ihre bösartigen Schwestern als Königreich der Cuckoo bezeichnet. Immaculata hat es sich zur Aufgabe gemacht, das Volk der Seher zu vernichten, aus dem sie einst verbannt worden ist, die Fuge zu finden und ihr lichtes Herz zu brechen. Sie will mit Shadwell zusammen die Fuge zur Auktion anbieten und die vier in der Fuge lebenden Familien des Volkes der Seher in die Sklaverei verkaufen oder zu einem trostlosen Dasein verdammen.
Die als Seherin begabte Mimi Laschenski hat bis zu ihrem Todestag über die Fuge gewacht, die in dem geheimnisvollen Teppich gewebt ist, und Legenden nach sich zog, in denen Dichtung und Wahrheit nicht mehr auseinandergehalten werden konnten. Nun ist es an ihrer Enkelin Suzanna, die vor der mutwilligen Zerstörung bedrohte Webwelt zu retten.
Zunächst steht ihr dabei Cal zur Seite, der einen wahnsinnigen Dichter als Großvater hatte und deshalb für die Welt der Fuge empfänglich ist. In einem gemeinsamen Traum erscheinen Suzanna und Cal die fünf märchenhaften, verschiedenen Familien der Seher entstammende Gestalten Lilia Pellicia, Frederick Cammell, Apolline Dubois, Jerichau St. Louis und das Baby Nimrod, die dem kleinen Stück des Teppichs entstiegen sind, das sich bei seinem Transport gelöst hat. Nach einem fürchterlichen Tumult, der sich bei der geplanten Auktion des Teppichs entfacht hat, kann Suzanna mit Jerichau und dem Teppich fliehen, doch nun haben sie nicht nur Shadwell und Immacolata im Nacken, sondern auch den bösartig-gierigen Inspektor Hobart.
Shadwell verkleidet sich als Prophet und zettelt mit seinen Gefolgsleuten einen Heiligen Krieg an, um die Fuge unter den Händen derjenigen sterben zu lassen, die ausgezogen sind, um sie zu retten …
„Es war, als hätte seine Maskerade ihm tatsächlich prophetische Gaben verliehen. Er hatte die Webarbeit gefunden, wie er gesagt hatte, und er hatte sie ihren Bewahrern abgenommen; er hatte seine Anhänger ins Herz der Fuge geführt und alle, die sich ihm widersetzt hatten, mit fast übernatürlicher Geschwindigkeit zum Schweigen gebracht. Bei seinem derzeitigen hohen Status gab es keinen anderen Weg nach oben mehr als den zur Göttlichkeit, und das Mittel dazu war von dort sichtbar, wo er stand.“ (S. 359) 
Mitte der 1980er Jahre sorgte der aus Liverpool stammende und in vielerlei künstlerischen Disziplinen beheimatete Clive Barker mit den sechs „Büchern des Blutes“ für eine nachhaltige Revitalisierung des Horror-Genres. Auch wenn viele der – meist leider unterirdischen - Verfilmungen vor allem seiner Kurzgeschichten wie „Underworld“, „Rawhead Rex“ und „Hellraiser“ Barkers hervorragenden Ruf in diesem Genre zementierten, entwickelte sich Barker vor allem als Autor phantastischer Werke weiter und präsentierte nach seinem Debütroman „Spiel des Verderbens“ 1987 sein erstes Epos „Weaveworld“, das hierzulande 1992 unter dem mysteriösen Titel „Gyre“ veröffentlicht worden ist.
Barker erweist sich mit diesem Werk als der wahrscheinlich visionärste Autor seiner Zunft. Scheinbar mühelos entwirft er ganze Welten, die inner- und unterhalb unserer wahrgenommenen Welt existieren und nur eine Fuge von ihr entfernt sind. „Gyre“ ist dabei Schöpfungsgeschichte und Apokalypse in einem, ein von entfesselten Imaginationen geprägtes Fantasy-Werk, das Bezug auf die Evangelien der Bibel aber auch auf die mystischen Traditionen der Welt nimmt und die Kraft von Liebe, Hoffnung und Träumen beschwört. Sein von höchst originellen, kaum mit dem Verstand fassbaren Ideen überquellender Stil regt auf nahezu jeder Seite die Fantasie des Lesers an, dass der Geschichte selbst oft schwer zu folgen ist.
Zwar bleibt das Figuren-Ensemble übersichtlich, doch machen die Charaktere so viele Transformationen durch, dass in jeder Kreatur unzählige weitere zu schlummern scheinen, jede davon so vielgestaltig, dass sie das Vorstellungsvermögen zu sprengen droht. Clive Barker hat in „Gyre“ fraglos seiner eigenen Vorstellungskraft keine Grenzen gesetzt, aber bei aller brillanter Fabulierkunst verliert er doch immer wieder die Dramaturgie seines komplexen Plots aus den Augen, so dass sich der Leser eher in den ausschweifenden Visionen verliert, als von der eigentlichen Geschichte gefesselt zu bleiben.
In späteren Epen wie der „Abarat“-Reihe, „Imagica“ und „Jenseits des Bösen“ ist es Barker besser gelungen, dieses Ungleichgewicht befriedigend zu lösen. Nichtsdestotrotz bietet „Gyre“ einfach eine grandiose Fülle an sprachlichen Zaubereien und fantasievollen Figuren und Settings, dass es eine Wonne ist, Barkers Visionen zu folgen.

James Lee Burke – (Dave Robicheaux: 13) „Straße der Gewalt“

Montag, 6. Februar 2017

(Pendragon, 520 S., Pb.)
In der Woche nach Labor Day versucht Dave Robicheaux, Detective der Mordkommission beim Iberia Parish Sheriff’s Department, den Mann zu finden, der vor drei Monaten seinen langjährigen Freund, den nicht ganz unbescholtenen Priester Jimmie Dolan, brutal zusammengeschlagen hat. Die erste Spur führt zu Gunner Ardoin, einem Crystal vertickenden Kleinganoven und Darsteller in einigen Pornos von Fat Sammy Figorelli, doch eine Bundesbeamte namens Clotile Arceneaux macht Robicheaux auf den Blues-Musiker Junior Crudup aufmerksam, der in den 1950er Jahren im Angola-Staatsgefängnis verschwunden ist. Doch bis er durch einen Mitgefangenen über Crudups unrühmlicher Geschichte in Kenntnis gesetzt wird, macht sich weiterhin Gewalt in den Straßen des ansonsten so ruhigen New Iberia breit.
Zunächst wird die minderjährige Tochter von Dr. Parks bei einem Autounfall getötet, nachdem ihr verbotenerweise in einem Daiquiri-Laden von Castille LeJeune Alkohol verkauft worden war. Dann wird der Pächter des besagten Ladens erschossen, die schlampig entsorgte Tatwaffe führt zu einem von LeJeunes Angestellten, Will Guillot.
Und schließlich wird ein Mafioso namens Frank Dellacroce ermordet, für den der Clan Robicheaux verantwortlich macht und der zwei skrupellose Killer auf ihn ansetzt. Unklar ist, wie Merchie und seine Frau Theo Flannigan ins Bild passen, ebenso der berüchtigte IRA-Killer Max Coll.
„Ich hatte meinen Arbeitsplatz mit der Bereitschaft verlassen, Merchie den Tag zu versauen, und nun hatte ich es geschafft, ihn in meinem Kopf mit seinem Schwiegervater in Verbindung zu bringen und den Grausamkeiten der Rassendiskriminierung von Louisianas Vergangenheit. Wo lag meine Motivation? Einfache Antwort: Ich musste nicht darüber nachdenken, dass ich Frank Dellacroce absichtlich in Max Colls Visier bugsiert hatte.“ (S. 211) 
Auch wenn Robicheaux immer wieder von seiner Chefin Helen zur Vorsicht angehalten wird, bringt er sich mit seinem alten Kumpel, dem mittlerweile in New Orleans als Privatermittler tätigen Clete Purcel, immer wieder in teils lebensbedrohliche Schwierigkeiten und bringt einmal die Reichen und Mächtigen so gegen sich auf, dass er das Ziel seiner Ermittlungen aus den Augen zu verlieren droht … Nachdem Robicheaux seine letzte Frau Bootsie beim Brand seines Hauses verloren hat und seine Adoptivtochter Alafair aufs College geht, ist er in seinem 13. Fall ziemlich auf sich allein gestellt, doch Frauen spielen nach wie vor eine nicht unbedeutende Rolle in „Straße der Gewalt“.
Als ehemalige Geliebte, wütend-trauernde Witwen oder taffe Cops sorgen sie immer wieder für dramaturgisch auflockernde Akzente. Charakteristisch ist aber vor allem die Gewalt, die wie zäher Schleim an Robicheaux und seinem Kumpel Clete zu kleben scheint und deren Spur die beiden durch die ganze Handlung ziehen.
Mit Rückblicken auf die Zeit in Vietnam und die Beziehung zwischen dem schwarzen Musiker Crudup und seiner weißen Gönnerin Andrea LeJeune wird der Plot ebenso aufgelockert wie durch die diversen Killer, deren Auftraggeber lange im Dunklen bleiben.
James Lee Burke gelingt es einmal mehr, den charismatischen Vietnam-Veteran, Anonymen Alkoholiker und Detective Dave Robicheaux durch eine undurchsichtige Handlung zu bugsieren und dabei jede Menge Prügel und deftige Sprüche einzuflechten. Das ist zwar alles allzu vertraut, aber da auch die Nebenfiguren interessant gezeichnet sind, die Story kaum Zeit zum Durchatmen lässt und die Landschaft wieder sehr eindringlich geschildert ist, vermag auch „Straße der Gewalt“ von der ersten bis zur letzten Seite zu fesseln.

Martin Suter – „Die Zeit, die Zeit“

Samstag, 4. Februar 2017

(Diogenes, 297 S., Tb.)
Seit dem Mord an seiner Frau Laura, die vor gut einem Jahr ihren Schlüssel vergessen hatte und während sie darauf wartete, dass ihr Mann die Tür öffnet, von einem Unbekannten erschossen worden ist, hat der 42-jährige Finanzbuchhalter Peter Taler jeden Antrieb verloren, weshalb er in der Baufirma, für die er arbeitet, bereits kritisch angesprochen wurde. Nach Feierabend setzt er sich in der Regel mit seinem ersten Feierabend-Bier ans Fenster seiner im zweiten Stock gelegenen Wohnung im Gustav-Rautner-Weg 40, kocht Spaghetti Pomodoro, spielt „Back to Black“ von Amy Winehouse und versucht auch sonst, in seinem Leben das Bild jenes Abends zu konservieren, als Laura starb.
In ihrem unverändert belassenen Zimmer zündet er sogar ihre Zigaretten an und lässt sie im Aschenbecher langsam runterbrennen. In dem etwas skurrilen Nachbarn Knupp findet Taler nahezu einen Gleichgesinnten. Auch er verlor seine Frau Martha, nachdem sie aus dem Urlaub in Nigeria zurückgekehrt waren und sie nach kurzer, aber schwerer Krankheit starb. Knupp hofft allerdings, die Geschicke ändern zu können, wenn er noch einmal genau die Zustände des schicksalhaften 11. Oktober 1991 herstellen und so den Tod seiner Frau abwenden kann.
Denn nach der Theorie des 1988 verstorbenen Walter W. Kerbeler wird Zeit allein durch Veränderung definiert. Wenn aber keine Veränderung stattgefunden hat, ist auch keine Zeit vergangen. Dass auch seine Frau Kerbelers Hauptwerk „Der Irrtum Zeit“ bei einem Antiquariat in Auftrag gegeben hat, macht Taler neugierig.
Er unterstützt den alten Witwer bei seinem umfangreichen Unterfangen, die von seinem Haus erkennbare nähere Umgebung in den Zustand vor zwanzig Jahren zurückzuversetzen, beauftragt ein Gartenbauunternehmen und jemanden, der die Automodelle auftreibt, die damals auf den Parkplätzen standen, und sie entsprechend umlackiert, tauscht Pflanzen und Müllcontainer aus und überprüft anhand unzähliger Fotografien von damals die Übereinstimmungen und Abweichungen. Im Gegenzug erwartet Taler Hilfe bei der Aufklärung des Mordes an Laura, denn auf einem von Knupps Fotos ist ein verdächtiges Moped zu sehen, dessen Halter Taler unbedingt ausfindig machen will. Doch als Taler in Lauras Privatleben beginnt herumzuschnüffeln, entdeckt er eine geheime Seite an ihr, die ihn zutiefst verunsichert.
„An diesem Nachmittag hatte sich das Gefühl, mit dem er an Laura zurückdachte, verändert. Er spürte nicht mehr das Bedürfnis, ihre Leibspeisen zu kochen, ihr Parfum zu versprühen, ihre Zigaretten abzubrennen, ihre Musik zu spielen. Er wollte die Illusion, sie wäre noch da, nicht beschwören, solange ihre Beziehung zu dem Mopedmann nicht geklärt war. Und damit die zu ihm.“ (S. 180) 
Mit „Die Zeit, die Zeit“ hat der aus Zürich stammende Martin Suter einen Zeitreiseroman der besonderen Art geschrieben. Statt jedoch in die Zeit zurückzureisen, um von bestimmten Schlüsselmomenten in der Vergangenheit aus so zu handeln, dass unerwünschte Ereignisse in der Zukunft nicht eintreten – wie in Robert Zemeckis fantastischer „Zurück in die Zukunft“-Trilogie -, strebt mit Knupp zumindest einer der Protagonisten in Suters Roman danach, die Zeit einfach nicht vergehen zu lassen, so dass er von dem letztlich durch eigenes Tun bewirkte Wiederherstellung einer Situation vor zwanzig Jahren die Zukunft in andere Bahnen lenken und seine Frau am Leben lassen kann, indem sie wie von ihr gewünscht nach Nepal und nicht Afrika reisen.
Bei aller minutiösen Planung wirkt das Experiment allerdings wenig schlüssig, das Wetter und verschiedene andere Aspekte können einfach nicht wie vor zwanzig Jahren rekonstruiert werden. Doch davon abgesehen gelingt es Suter auch nicht, die beiden Witwer mit überzeugendem Leben zu füllen. In ihrem gemeinsamen Bemühen, die Erinnerung an ihre geliebten Frauen wachzuhalten, wirken sowohl Taler, vor allem aber Knupp seltsam schablonenhaft. Einzig durch die eingeflochtene Kriminalgeschichte, in der nicht nur Lauras Ermordung, sondern auch ein vor kurzer Zeit verübter ähnlicher Mord aufgeklärt werden soll, wird die Spannung hochgehalten, während das große Experiment, das eigentlich im Zentrum des Romans steht, einfach nur zum Scheitern verurteilt scheint.
So interessant das Überlistung-der-Zeit-Thema auch ist, vermag Suter dem Sujet doch keine wirklich neuen Aspekte hinzuzufügen. Seine Figuren sind dabei ebenso trocken geraten wie seine schnörkellose Sprache, die nüchtern die Handlung beschreibt, ohne emotionale Tiefen auszuloten.
Leseprobe Martin Suter - "Die Zeit, die Zeit"

Andrea De Carlo – „Wir drei“

Freitag, 3. Februar 2017

(Diogenes, 662 S., HC)
Am 12. Februar 1978 hat Livio gerade so sein Examen in Geschichte des Mittelalters bestanden. Im Gegensatz zu seinem besten Freund und Kommilitonen Marco Traversi, der keine Veranlassung gesehen hat, den Unmut der Prüfungskommission etwas abzufedern, und konsequenterweise auf das Diplom verzichtete, gab Livio klein bei und machte mit seinem Diplom zumindest seine Mutter und Großmutter zufrieden. Am Abend lernt er nach einer Feier Misia Mistrani kennen, als er die junge Frau aus einer unerfreulichen Situation mit einem jungen Mann befreit, doch bis er Misia wiedersieht, vergeht die Zeit, in der Livio teils chaotisch, teils verschlafen und unbestimmt in seinem Mailänder 42-Quadratmeter-Apartment darüber nachsinnt, was er mit seinem Diplom und seiner Zukunft anfangen soll.
Erst als sein Freund Marco beginnt, auf seine ihm eigene ungestüme, impulsive Art und Weise einen Film zu machen, in dem Misia aus einer zufälligen Besucherin zur Hauptdarstellerin avanciert, entwickelt sich eine über alle Maße dynamische Freundschaft zwischen den drei Künstlern. Marcos Film wird dank der Schützenhilfe seines Freundes Settimio zu einem Independent-Festival-Erfolg, Misia zu einer begehrten Person des öffentlichen Lebens, die jedoch kein Interesse daran hat, weitere Filme zu machen, und Livio entwickelt sich – nach entsprechender Ermutigung durch Misia – zu einem respektablen Maler.
Doch über die Jahre verlieren sich Livio, Marco und Misia immer wieder aus den Augen, verraten ihre alten Ideale und gehen bürgerliche und andere Beziehungen ein, werden Großgrundbesitzer, selbstversorgende Kommunenmitglieder und kommerzieller Filmemacher, verstreuen sich auf die Balearen, nach London und Paris und Südamerika, doch immer wieder kreuzen sich hier und da die Wege von Livio und Marco auf der einen, von Livio und Misia auf der anderen Seite.
„Ich fragte mich, woran es lag, dass ich in ihr so lange mein Frauenideal gesehen und dieses Ideal, immer wenn ich eine neue Seite ihres komplexen Wesens entdeckte, um weitere Elemente bereichert hatte; ob ihr jemals bewusst geworden war, was sie mir wirklich bedeutete, ob sie es ausgenutzt hatte; ob sie wusste, dass ich alle anderen Frauen in meinem Leben ständig mit ihr verglichen hatte, nur um jedesmal festzustellen, wie schlecht sie dabei abschnitten; ob sie sich vorstellen konnte, welch schreckliches Gefühl des Mangels sie immer wieder in mir verursacht hatte.“ (S. 562) 
Livio, der Ich-Erzähler in De Carlos 1997 bzw. 1999 in deutscher Sprache veröffentlichten Roman „Wir drei“, wirkt ähnlich Philippe Djians Protagonisten wie ein Alter Ego des Mailänder Schriftstellers, der in einem Interview verkündete, er könne nur über die Gefühle schreiben, die er selbst empfunden habe. Ähnlich wie De Carlo, der sich in Mailand nie so recht heimisch gefühlt hat und sich stets dem gönnerhaften Literatur- und Kulturmarkt zu entziehen versuchte, der ihn vereinnahmen wollte, fühlen sich auch die drei Künstler in „Wir drei“ nirgends heimisch und wandeln eher orientierungslos zwischen eigenem hehren Anspruch und den gesellschaftlichen Konventionen und Gesetzen des Kulturmarkts umher, legen sich nie fest, lösen Verträge und persönliche Bindungen, wie es ihnen gerade in den Kram passt.
So spannend und interessant es ist, De Carlos lebendig gezeichnete Figuren durch ihre schillernden und abwechslungsreichen Leben zu verfolgen, so gelingt es dem Autor doch zu selten, echtes Mitgefühl für die jeweiligen Nöte und Leiden seiner Helden aufzubringen; zu rastlos und beliebig lassen sie sich durch die Jahrzehnte und vollkommen unterschiedliche Lebensentwürfe treiben. Nichtsdestotrotz bekommt der geduldige Leser im Rahmen des 660 Seiten dicken Epos Einblicke in die fundamentalsten Existenzfragen von Künstler-Persönlichkeiten und die Mechanismen und Fundamente von Freundschaften, die jenseits amouröser Verquickungen Jahrzehnte, Kontinente und unterschiedliche Ansichten überdauern.