Steve Hamilton – (Nick Mason: 1) „Das zweite Leben des Nick Mason“

Freitag, 5. Mai 2017

(Droemer, 335 S., Pb.)
Nach fünf Jahren und achtundzwanzig Tagen kommt Nick Mason überraschend aus dem Gefängnis frei. Dass er nicht die kompletten fünfundzwanzig Jahre für einen misslungenen Coup absitzen muss, bei dem nicht nur sein Kumpel Finn O’Malley, sondern auch ein verdeckter Ermittler ums Leben kam, hat er vor allem dem einflussreichen Gangster Darius Cole zu verdanken, der mit Mason im selben Zellenblock von Terre Haute untergebracht war und von dort weiterhin seine Geschäfte in Chicago abwickelt.
Doch Nick Mason ist alles andere als frei. Zwar hat er endlich die Möglichkeit, seine nun neunjährige Tochter Adriana wiederzusehen, aber seine Ex-Frau Gina lebt nun mit Adrianas Football-Trainer zusammen, während er selbst auf Abruf für Coles Handlanger Quintero steht, der Mason ständig im Blick hat.
Bis dahin lebt er in einem schicken Townhouse in Lincoln Park West, verdient seine zehntausend Dollar im Monat als stellvertretender Geschäftsführer eines Restaurants und findet für seinen ersten Auftrag gleich eine Pistole in der Nachttischschublade eines heruntergekommenen Motels. Nachdem er bereits so viele seiner eisernen Regeln gebrochen hat, scheint es nur eine Frage der Zeit zu sein, bis Mason wieder hinter Gitter wandert, denn nicht nur der lästige Quintero hat sich an Masons Fersen geheftet, sondern auch Detective Sandoval, der sich sehr darüber wundert, dass sein alter Partner Gary Higgins dafür gesorgt hat, dass Mason so vorzeitig aus dem Knast gekommen ist. Zu guter Letzt ruft Mason nach seinem ersten Job in Freiheit auch noch die mit allerlei Sonderrechten ausgestattete Sondereinheit S.I.S. auf den Plan.
Mason muss noch einige seiner früheren Regeln brechen, um sich seinen Weg in die Freiheit zu erkämpfen. Dazu muss er allerdings auch herausfinden, was damals im Hafen, als Finn und der Cop umgekommen sind, wirklich geschehen ist.
„Alles, was danach passiert ist, sagte Mason sich, dass ich ins Gefängnis gegangen bin und meine Familie verloren habe, dass ich Darius Cole getroffen und diesen Pakt mit ihm geschlossen habe – auch all das, was ich bisher tun musste, diesen Mann töten, planen, den nächsten zu töten …
Das alles ist auf diese eine Nacht zurückzuführen.
Die Nacht, in der wir verraten wurden.“ (S. 209) 
Mit Nick Mason hat der internationale erfolgreiche, hierzulande aber noch nicht allzu bekannte amerikanische Krimi-Autor Steve Hamilton („Der Mann aus dem Safe“) einen charismatischen Helden kreiert, der in „Das zweite Leben des Nick Mason“ sein vielversprechendes Debüt gibt. Hamilton spielt geschickt immer wieder Rückblicke und Erinnerungen aus Masons Vergangenheit ein, den Beginn seiner kriminellen Laufbahn, seine wechselhafte Beziehung zu Gina und die Liebe zu seiner Tochter, der missglückte Coup, mit dem Mason seiner Familie eigentlich ein besseres Leben ermöglichen wollte, aber mit einer 25-jährigen Haftstrafe endete, von der er wiederum nur einen Bruchteil absitzen musste. Wie sich Mason dann als Auftragskiller durchschlägt, zwischen die Fronten einer neuen Liebe, seiner Mitbewohnerin Diana, Detective Sandoval, dem S.I.S. und letztendlich auch Darius Cole gerät, ist packend und schnörkellos geschrieben, lässt den Leser mit dem charismatischen Mason bis zu Schluss mitfiebern und auf die angekündigten Fortsetzungen hoffen.
Leseprobe Steve Hamilton - "Das zweite Leben des Nick Mason"

Heinz Strunk – „Jürgen“

Donnerstag, 4. Mai 2017

(Rowohlt, 256 S., HC)
Eigentlich ist Jürgen Dose ganz zufrieden mit seinem Leben. Dass seine Mutter seit ihrem schweren Unfall, der sie ans Bett fesselt, bei ihm lebt, stört ihn kaum. Er hat ja Schwester Petra vom Pflegedienst Stadtkäfer und seinen verantwortungsvollen Job als Pförtner in einem Harburger Parkhaus mit 1400 Stellplätzen und – nicht zu vergessen – seinen Kumpel Bernd „Bernie“ Würmer, der allerdings im Rollstuhl sitzt, bei Westsaat in der Kaltakquise arbeitet und seine Lebensaufgabe darin sieht, sich fortlaufend mit Jürgen zu zanken.
Ihre Freizeit verbringen sie vor allem damit, in ihrer Lieblingskneipe „Kamin 21“ abzuhängen. Was zu ihrem Glück noch fehlt, sind Frauen. Dabei haben sie gar keine so hohen Ansprüche an das schöne Geschlecht. Für Bernie ist die Haarfarbe ebenso unwichtig wie das Alter, nur zu dick und zu groß sollte sie nicht sein, während Jürgen von seiner Traumfrau erwartet, keine Amalgamzähne zu haben, Insekten wegmachen zu können und Kniffel spielen zu wollen.
Theoretisch weiß Jürgen ganz genau, wie Frauenherzen zu gewinnen sind und dass vielerorts geradezu Männermangel herrscht (Chöre, Laientheater, Tanzkurse, Volkshochschulkurse). Er weiß, dass lächelnde Menschen auch innerlich hübscher sind, dass grinsen aber schnell dazu führt, in die Kategorie „nett, aber irre“ eingestuft zu werden. Hände sind wie Musikinstrumente der Seele und sollten bewusst eingesetzt werden, und bei Unterhaltungen sind Körpersprache und Klang der Stimme wichtiger als der Inhalt. Und schließlich gibt es diverse bewährte Strategien, um einen Flirt zu beginnen.
„Wenn man registriert, dass die Frau einen heimlich mustert, denkt man sich ‚Haha, erwischt‘ und setzt dazu den entsprechenden Gesichtsausdruck auf. Die Frau fühlt sich ertappt, und schon ist der schönste Flirt am Laufen. So wird aus einem Teufelskreis ein Gotteskreis. Immer dranbleiben, immer bohren, immer sägen, bis die Kiste fliegt. Aber man darf nicht zu lange zögern, sondern muss einfach machen.“ (S. 52) 
Und so melden sich Bernie und Jürgen zunächst zu einem Speed-Dating an, wo sie für 19 Euro nicht nur Mineralwasser, gelbe und weiße Brause gestellt bekommen (aber keine Zeit haben, davon auch zu kosten), sondern wahre „Augenpralinen“, von denen allerdings niemand Interesse an Jürgen und Bernd findet. Doch bevor die beiden liebeshungrigen Singles die Flinte ins Korn werfen, eröffnet sich schon die nächste großartige Chance: Die Partnervermittlung Eurolove verweist auf ihre 100%ige Erfolgsquote und fährt mit einer Busladung anderer Schicksalsgenossen nach Breslau, wo unzählige heiratswillige Polinnen auf sie warten.
Als Jürgen die schwerbusige Dominika, die eigentlich für Bernd gedacht war, auf das Zimmer nimmt und ihr bei Schaumwein näherkommt, scheint er am Ziel seiner Träume angelangt zu sein, doch die Rechnung hat er mal wieder ohne Bernd gemacht …
Seit seinem Debütroman „Fleisch ist mein Gemüse“ hat sich der Hamburger Schauspieler, Autor und Musiker Heinz Strunk in seinen Büchern den ganz normalen Menschen gewidmet, die der Volksmund durchaus als Loser und arme Willis bezeichnen würde.
Mit Jürgen Dose hat Strunk einmal mehr einen an sich sehr netten, freundlichen und genügsamen Protagonisten erdacht, der sich durch etliche Tiefschläge und Enttäuschungen gerade im Liebesleben nicht aus dem Konzept bringen lässt und unbeirrt weiter nach einer Frau in seinem Leben sucht, die weder seine Mutter noch Schwester Petra ist. Dabei versteht es Strunk wie immer, mit viel Sympathie für seine Figuren ihren biederen Alltag und ganz normalen Sehnsüchte mit einer Mischung aus Humor und Melancholie zu beschreiben, so dass man Jürgen wirklich von Herzen wünscht, endlich ans Ziel seiner einfachen Träume zu gelangen. 
Leseprobe Heinz Strunk - "Jürgen"

Robert B. Parker – (Spenser: 39) „Spenser und der Cree-Indianer“

Dienstag, 2. Mai 2017

(Pendragon, 206 S., Tb.)
Der schwergewichtige Schauspieler Jeremy Franklin „Jumbo“ Nelson ist ein Kotzbrocken, wie er im Buche steht. Als er verdächtigt wird, die zwanzigjährige Dawn Lapota in seinem Bostoner Hotelzimmer bei experimentellen Sexspielchen erwürgt zu haben, setzt Polizeichef Martin Quirk den Privatdetektiv Spenser auf den Fall an, der wiederum von der Anwältin des Filmstudios bezahlt wird.
Laut Jumbos Aussage hat sich das Mädchen selbst erwürgt, als er selbst – voll mit Koks und Alkohol - die Toilette aufsuchen musste. Da sich außer ihm nur sein Bodyguard, der Cree-Indianer Zebulon „Z.“ Sixkill, zur Tatzeit in der Nähe befand, erhofft sich Spenser, von ihm den Tathergang geschildert zu bekommen. Er trainiert mit dem kräftig gebauten, aber untrainierten Indianer und gewinnt allmählich sein Vertrauen.
Wenig später machen Spenser und Sixkill die Bekanntschaft von zwei Männern, die die Investitionen, die die Mafia offensichtlich in Jumbos Filmgeschäfte getätigt hat, zu schützen. Um ihrem Ansinnen Nachdruck zu verleihen, schicken sie einen kompromisslosen Killer nach Boston. Davon sind weder Spenser noch seine Freundin Susan besonders begeistert, aber beide wissen, dass Spenser nicht der wäre, der er ist, wenn er vor drohender Gefahr kuschen würde …
Der 2010 verstorbene Robert B. Parker, der ganz offiziell in die Fußstapfen des großen Raymond Chandler treten durfte, hat 1973 mit „Die Schnauze voll Gerechtigkeit“ (aka „Das gestohlene Manuskript“) die Bühne für einen charismatischen Protagonisten namens Spenser geschaffen, der nicht nur auf eine Karriere als ehemaliger Schwergewichts-Profiboxer zurückblicken kann, sondern auch kurz bei der Polizei tätig gewesen ist. Mit „Spenser und der Cree-Indianer“ erscheint nun posthum der bereits 39. Band der erfolgreichen Reihe, die sogar als Vorlage für die beiden Fernsehserien „Spenser“ und „Hawk“ diente.
Wie üblich hält sich Parker nicht lang mit einer Einführung auf, sondern konfrontiert seinen Helden gleich mit dem prominenten Fall eines unter Mordverdacht stehenden Schauspielers, auf den die Mafia ein besonderes Auge hat. An seiner Seite entwickelt sich Jumbos ehemaliger Bodyguard Sixkill zu einem interessanten Sparringspartner nicht nur beim Training, sondern auch in den spritzigen Dialogen, die auch das Verhältnis zwischen Spenser und seiner langjährigen Freundin Susan Silverman prägen. Dazu gibt es kleine Einblicke in das Filmgeschäft und kursive Abschnitte, in denen mit vereinzelten Flashbacks der persönliche Hintergrund des Indianers aufgearbeitet wird.
Alles in allem bietet „Spenser und der Cree-Indianer“ einen rasanten Plot, bei dem weder handfeste Action noch packende Spannung und knackige Dialoge zu kurz kommen, faszinierende Figuren und auch ein wenig Gefühl:
„Ich saß da und dachte an Susan und mich und an unsere gemeinsame Zeit, was ich gerne tat. Ich hatte immer das Gefühl, es wäre völlig ausreichend, einfach mit ihr zusammen zu sein, und dass alles andere, gut oder schlecht, nur Hintergrundrauschen war.“ (S. 33)

Gareth Murphy – „Cowboys & Indies“

Montag, 1. Mai 2017

(Heyne Hardcore, 480 S., Tb.)
Mehr als 150 Jahre liegen zwischen der Erfindung des „Phonautographen“ oder Klangschreibers und der heute zu beobachtenden weitreichenden Digitalisierung der Musikwelt, die auf der anderen Seite die erfolgreiche Renaissance der Langspielplatte aus Vinyl feiert.
Der aus Irland stammende und in Paris lebende Autor Gareth Murphy hat sich der Herkules-Aufgabe gewidmet, die Entstehung der Musikindustrie, wie wir sie seit den 1960er Jahren mit der Beatlemania, dem Siegeszug von Elvis, den Rolling Stones und Bob Dylan kennengelernt haben, aus ungewohnter Perspektive aufzurollen, nämlich aus der Sicht sogenannter record men, die mit ihrem einzigartigen Gespür für neue Entwicklungen, Stars und Hits stets die treibenden Kräfte hinter dem zuweilen gigantisch aufgeblasenen Musikzirkus gewesen sind.
Murphy geht bei seiner „abenteuerlichen Reise ins Herz der Musikindustrie“ – so der Untertitel seiner umfassenden Geschichtslektion – streng chronologisch vor, beginnt etwas sehr ausufernd mit den Erfindungen von Klangaufzeichnungsgeräten und -schreibern, Patentstreitigkeiten und der Notwendigkeit, zu der entwickelten Hardware auch den entsprechenden Musikkatalog voranzubringen. Wir erleben mit der Geburt von His Master’s Voice und Columbia die Gründung der heute bekannten Musikindustrie, die Ende der 1920er Jahre mit der Verbreitung des Radios ihre erste große Krise bewältigen musste, mit John Hammond aber auch einen engagierten record man hervorbrachte, der zunächst für den britischen Melody Maker über die amerikanische Jazz-Szene schrieb und sich dann einen Namen als Produzenten von Stars wie Billie Holiday, Benny Goodman, Aretha Franklin, Count Basie und Bob Dylan machte, dem der Autor etwas mehr Aufmerksamkeit und Raum in seinem Buch schenkt.
Die weiteren Stationen decken Phil Spector und sein „Wall of Sound“ und die dem Baby-Boom zu verdankenden „Sixties“ ab, wobei die Karriere der Beatles und ihr Manager Brian Epstein wiederum ausführlicher beleuchtet werden. Je mehr sich die Majors wie EMI, Columbia, Capitol, CBS, Warner, Island, Atlantic bei Mega-Acts wie Led Zeppelin und Pink Floyd überboten, desto mehr kamen den Indies die Rolle zu, wirklich neue musikalische Strömungen zu entdecken, die über Plattenläden wie Rough Trade und Labels wie Factory, Mute, 4AD einem neugierigen Publikum zugänglich gemacht wurden.
„Praktisch hinter jedem stilbildenden Label versteckt sich eine sehr spezifische Geschichte, die gewöhnlich tief im Charakter des jugendlichen Gründers verankert ist. Dies sind die Schirmherren der musikalischen Gegenwart, dies sind die Propheten, die die Geschichte des Musikgeschäfts verinnerlicht haben und sich gleichzeitig in der Rolle des Richters und Schutzengels sehen.“ (S. 10f.) 
Gareth Murphy gelingt mit „Cowboys & Indies“ das seltene Kunststück, die eher unbekannte Seite des Musikgeschäfts, nämlich aus der Sicht der Manager, Talentscouts, Produzenten und Labelgründer zu rekapitulieren – und zwar chronologisch in ihrem soziokulturellen Kontext.
Natürlich kommt bei einer so turbulenten und umfassenden Geschichte einiges zu kurz, aber anhand von einigen wegweisenden record men und den Grabenkämpfen, die Majors wie Indies um ihr Überleben ausfechten mussten, entsteht ein umfassendes wie buntes Werk, das zuletzt auch die Herausforderungen durch die Digitalisierung thematisiert, auch wenn diese – wie viele andere Impulse – nur angerissen werden. Vor allem die exzentrischen Eigenheiten vieler record men und ihr schon geschäftsschädigendes Gebaren wird eindrücklich beschrieben.
Die vielen eingestreuten Zitate und Dialoge verleihen dem Buch fast schon den Charakter eines Augenzeugenberichts, machen es auf jeden Fall zu einem kurzweiligen Lesevergnügen, das durch eine weiterführende Bibliographie abgerundet wird. 
Leseprobe Gareth Murphy - "Cowboys & Indies"

John Katzenbach – „Die Grausamen“

Sonntag, 30. April 2017

(Droemer, 570 S., Pb.)
Seit Gabriel „Gabe“ Dickinson bei einem Segelausflug unverschuldet seinen Schwager verloren hat, weil dieser gegen jede Vernunft schwimmend das scheinbar rettende Ufer erreichen wollte, ist er nur noch ein Schatten seiner selbst und dem Alkohol verfallen, als er auch noch von seiner Frau verlassen worden ist. Von seinem Chef wird er kurzerhand in die eigens für ihn eingerichtete Abteilung „Cold Cases“ abgeschoben. Im sogenannten „Verlies“ wühlt er sich zusammen mit seiner neuen und ebenfalls traumatisierten Kollegin Marta Rodriguez-Johnson durch nicht abgeschlossene Fälle aus der Vergangenheit, wobei das angeschlagene Duo Weisung erhalten hat, bei Hinweisen die entsprechenden Akten in die Hände der Kollegen von der Mordkommission zu übergeben.
Überraschenderweise stoßen Gabe und Marta nach kurzer Zeit tatsächlich auf einen Fall, der sie nicht zur Ruhe kommen lässt. Vor zwanzig Jahren ist die dreizehnjährige Tessa Gibson auf dem kurzen Heimweg von ihrer Freundin nicht zuhause angekommen. Ausgedehnte Suchaktionen in dem noblen Viertel fördern nur ihren blutbefleckten Rucksack zutage, von Tessa selbst fehlt bis heute jede Spur.
Besonders merkwürdig ist allerdings der Umstand, dass kurze Zeit nach Tessas Verschwinden vier brutale Morde an jungen Männern verübt worden sind, die ebenfalls nicht aufgeklärt worden sind – obwohl die damaligen Top-Detectives O’Hara und Martin die Ermittlungen geleitet haben.
Als Gabe und Marta die beiden pensionierten Detectives aufsuchen, wecken sie schlafende Hunde und werden immer wieder von ihren aufgebrachten Vorgesetzten zurückgepfiffen. Doch gerade der einstige Bürohengst Gabe mutiert zu einem forschen Ermittler, der kein Blatt mehr vor den Mund nimmt.
„Wenn er zusammen mit Marta unterwegs war und mit den Leuten über Tessa oder die toten Vier sprach, wenn er den Ermittler spielte, der er eigentlich nicht war, schlüpfte er in eine andere Haut. Er war wie ein unbeschriebenes Blatt und konnte für ein paar Stunden seine quälende Vergangenheit hinter sich zu lassen. Auch wenn ich mich nicht gerade wie ein Profi dabei anstelle, Leute zu befragen, gibt es mir wenigstens das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun.“ (S. 281)
Mit Psycho-Thrillern wie „Der Patient“, „Die Anstalt“ und „Der Psychiater“ hat sich der ehemalige Polizeireporter John Katzenbach einen Stammplatz auf internationalen Bestseller-Listen gesichert. Mit seinem neuen Roman „Die Grausamen“ liefert er nun seinen ersten Krimi ab und folgt dabei den erfolgreichen Spuren von Jussi Adler-Olsens Reihe um das Kopenhagener „Sonderdezernat Q“, das sich wie Gabe Dickinson und Marta Rodriguez-Johnson um alte ungeklärte Fälle kümmert.
Dabei sind ihm mit den psychisch labilen Protagonisten ganz starke Figuren gelungen, die ihre tragischen menschlichen Verluste einfach nicht verwinden können, hier der auf See umgekommene Schwager, dort der versehentlich in Ausübung des Dienstes im dunklen Keller erschossene Partner. Wie sich das „Cold Cases“-Duo aber schnell zusammenrauft und Gefallen an der zunächst unliebsamen neuen Aufgabe findet, ist ebenso stark von Katzenbach in Szene gesetzt wie das Erwachen des Ermittler-Instinktes, mit dem Gabe und Marta ordentlich Staub aufwirbeln.
Die kalten Fälle sind dazu packend geschrieben und erhalten durch gelegentliche Rückblenden immer wieder eine neue Perspektive. „Die Grausamen“ bietet so fesselnde Spannung, dass man nur hoffen kann, dass Katzenbach Gabe und Marta eine ganze Reihe widmet, denn selten hat die Kriminalliteratur so eindringlich gezeichnete Ermittler gesehen.
Leseprobe John Katzenbach - "Die Grausamen"

Gay Talese – „Der Voyeur“

Dienstag, 25. April 2017

(Tempo, 224 S., HC)
Als Gerald Foos erfährt, dass der renommierte Autor Gay Talese („Ehre deinen Vater“) in seinem nächsten Buch „Du sollst begehren“ eine landesweite Studie zum Sexualleben der Amerikaner thematisiert, schreibt er ihm im Januar 1980 einen Brief, in dem er wichtige Informationen zum Thema anbietet. Seit fünfzehn Jahren sei Foos nämlich mit seiner Frau Donna Besitzer eines kleinen Motels in Aurora, Colorado, dessen Kundenstamm als repräsentativer Querschnitt der amerikanischen Bevölkerung gelten darf. Das Besondere an den einundzwanzig Zimmern des mittelständischen Hauses sind die speziell angefertigten Lüftungsgitter in der Decke, die es Foos erlauben, seine voyeuristischen Neigungen zu befriedigen und dabei die Frage zu beantworten, wie sich Menschen in ihrem ganz privaten Umfeld sexuell verhalten.
Foos hat seit den späten 1960er Jahren präzise Aufzeichnungen über seine Beobachtungen angestellt und diese analysiert. Foos ist fest davon überzeugt, dass seine Notizen von großem Interesse sowohl für die Menschheit im Allgemeinen als auch für Sexualforscher im Besonderen sein könnten.
Talese selbst ist allerdings skeptisch. Ihm ist klar, dass er, wenn er Foos‘ Story veröffentlichen würde wollen, auch dessen tatsächlichen Namen nennen müsste, aber dadurch würde Foos in den Fokus der Strafverfolgung rücken. Tatsächlich trifft sich Talese mit dem Voyeur und lässt sich Foos‘ Aufzeichnungen in kleinen Teilen zukommen. Darin beschreibt Foos ausführlich die Sexualpraktiken seiner von ihm ausspionierten Gäste, konventionellen Sex zwischen Ehepartnern oder Geliebten, gleichgeschlechtlichen Sex, Gruppensex, Masturbation, einen signifikanten Anstieg von Oralsex nach dem Kinoerfolg des Pornofilms „Deep Throat“ (1972).
Bei der Durchsicht von Foos‘ Aufzeichnungen stellt sich Talese aber auch einige Fragen:
„Wieso hat er all das schriftlich festgehalten? Genügt es einem Voyeur nicht, Lust zu verspüren und ein Gefühl der Macht zu empfinden? Wozu der Akt der Niederschrift? War das eine Form der Kontaktaufnahme, indem Voyeure sich anderen offenbarten, wie es Foos zuerst mit seiner Frau und dann mit mir getan hatte, um sich schließlich als anonymer Chronist an ein größeres Publikum zu wenden?“ (S. 91) 
Talese, der in den frühen 1960er Jahren für die The New York Times geschrieben hatte, für seine im Esquire veröffentlichten Portraits über Joe DiMaggio, Dean Martin und Frank Sinatra berühmt geworden ist und als Mitbegründer des literarischen Journalismus zählt, zitiert in seinem Buch „Der Voyeur“ nicht nur ausführlich aus Foos‘ Briefen und Aufzeichnungen, sondern rekapituliert auch den persönlichen Hintergrund von Gerald Foos und muss immer wieder feststellen, dass er seiner Quelle nicht unbedingt glauben kann.
Immer wieder stößt er auf Ungereimtheiten in Foos‘ Darstellungen. Das betrifft vor allem einen Vorfall, der sich 1977 ereignet haben soll, bei dem Foos den Mord an einem seiner weiblichen Gäste beobachtet haben will. Zunächst dachte er, dass die Frau noch lebt, am nächsten Morgen wurde sie allerdings tot aufgefunden. Merkwürdig ist nur, dass Talese bei seinen Recherchen später keine Aufzeichnungen weder in den Medien noch bei den zuständigen Polizeistellen fand. Talese selbst wird, nachdem er in einem „New Yorker“-Artikel über sein geplantes Buch berichtet, vorgeworfen, durch sein Schweigen zu einem Mitverschwörer geworden zu sein.
Das Thema ist bei aller Unsicherheit über die Echtheit aller geschilderten Daten dennoch so interessant, dass Steven Spielberg sich sogleich die Filmrechte sicherte. Man mag von der voyeuristischen Praxis, die hier ausführlich geschildert wird, halten, was man will, aber „Der Voyeur“ bietet tatsächlich einen interessanten, gut geschriebenen Einblick in das Sexualverhalten der Amerikaner und den Wandel, den der Sex durch die Erfindung der Pille, Pornofilme und die Hippie-Bewegung erfahren hat.

Jussi Adler-Olsen – (Carl Mørck 7) „Selfies“

Sonntag, 23. April 2017

(dtv, 576 S., HC)
Die Sozialarbeiterin Anne-Line Svendsen hat schon so einige schlechte Entscheidungen in ihrem Leben getroffen, auch in beruflicher Hinsicht. Da sie bei Männern stets die falsche Wahl getroffen hat, lebt sie als übergewichtiger Single in Kopenhagen und übt ihren Job zunehmend mit Widerwillen aus. Bei Sozial-Schmarotzern wie Michelle Hansen, Denise F. Zimmermann und Jazmine Jørgensen, die nicht bereit sind, für ihren Lebensunterhalt etwas zu tun und sich immer dreistere Tricks einfallen lassen, um das System zu hintergehen, dreht sich ihr der Magen um.
Nachdem ihr bei einer Routineuntersuchung Brustkrebs diagnostiziert wurde, scheint Anneli, wie sich selbst gern nennt, nichts mehr zu verlieren zu haben, und schmiedet einen perfiden Plan, die drei durch gemeinsames Schicksal geschmiedete Freundinnen, mit geklauten Autos zu überfahren. Auf der anderen Seite beschließen die drei jungen Frau, sich ebenfalls ihrer ätzenden Sachbearbeiterin zu entledigen …
Währenddessen steht Vizepolizeikommissar Carl Mørck unter besonderem Druck. Scheinbar sind unerklärlich niedrige Aufklärungsquoten des Sonderdezernats Q zum Polizeipräsidenten gelangt, so dass das im Keller untergebrachte Dezernat für ungelöste alte Fälle davorsteht, aufgelöst oder zumindest personell reduziert zu werden. Da erhält Mørck einen Anruf seines ehemaligen, mittlerweile pensionierten Kollegen Marcus Jacobsen, der einen Zusammenhang zwischen dem jüngsten Mord an der 67-jährigen Rigmor Zimmermann und einem ganz ähnlichen Fall erkennt, als vor zwölf Jahren die Lehrerin Stephanie Gundersen unter ähnlichen Umständen ums Leben kam. Interessanterweise war die Zimmermann die direkte Nachbarin von Rose Knudsen, der psychisch angeschlagenen, aber sehr geschätzten Kollegin in Mørcks kleinen Team. Als der vermeintliche Unfalltod ihres herrschsüchtigen und sadistischen Vaters wieder aufgerollt wird, geht es Rose so schlecht, dass sie sich das Leben nehmen will …
„Er seufzte. Ein unerträglicher Gedanke, dass diese Frau, die sie alle so gut zu kennen glaubten, mit so zerstörerischen, alles überschatteten Gefühlen zu kämpfen hatte. Gefühlen, die sie nur durch harsches Auftreten in den Griff zu bekommen glaubte.
Und trotz all der Düsternis in ihrem Innern hatte sie immer noch die Kraft gefunden, ihn, Carl, zu trösten, wenn er selbst niedergeschlagen war.“ (S. 191f.) 
Seit 2007 begeistert der dänische Schriftsteller Jussi Adler-Olsen die internationale Krimileserschaft mit seiner Reihe um Carl Mørck und dem von ihm geleiteten Sonderdezernat Q – allerdings in unterschiedlicher Qualität. Dass der siebte Band „Selfies“ leider der bislang unausgereifteste ist, liegt nicht nur an dem ambitionierten, aber missglückten Unterfangen, gleich fünf Mordfälle auf unterschiedlichen Ebenen aufzuklären, sondern gleich zu Anfang an der wenig überzeugenden und sehr klischeehaften Einführung der drei Unterschicht-Schlampen mit den dafür typischen Namen Michelle, Denise und Jazmine.
Wie die drei jungen Frauen zu Freundinnen werden und ebenso wie ihre Sachbearbeiterin gegenseitig Mordgelüste entwickeln, hat Adler-Olsen sehr oberflächlich inszeniert. Der Fokus auf diese unglaubwürdige Konstellation führt leider dazu, dass die anderen vom Sonderdezernat Q – teilweise in Zusammenarbeit mit der regulären Mordkommission aus dem zweiten Stock – bearbeiteten Fälle nur angerissen werden.
Vor allem das plötzliche Verschwinden von Rose und die Beschäftigung mit ihrem im Stahlwerk umgekommenen Vater erhält so nicht die Aufmerksamkeit, die die sympathische Rose mit ihren massiven psychischen Problemen verdient hätte. Zu allem Überfluss müssen sich Carl Mørck und Co. auch noch mit dem übereifrigen Fernsehteam von Station 3 herumplagen.
So bleiben nicht nur die übrigen Mitstreiter des Dezernats Q eher blass, sondern finden die einzelnen Fälle eher im Galopp ihre Auflösung.
Adler-Olsen würde sich in Zukunft sich selbst und seinen Lesern wie Kritikern sicher einen Gefallen tun, wenn er sich mehr auf seine sympathischen Ermittler des Sonderdezernats und auf weniger als eine Handvoll Fälle konzentrieren würde, um so mehr erzählerische Tiefe und Spannung zu erzeugen.
Leseprobe Jussi Adler-Olsen - "Selfies"