Lee Child – (Jack Reacher: 8) „Die Abschussliste“

Samstag, 5. August 2017

(Blanvalet, 478 S, HC)
Kaum hat Jack Reacher, Major bei der Militärpolizei, ganz nüchtern den Jahreswechsel 1989/1990 in seinem Dienstzimmer in Fort Bird verfolgt, wo er erst vor ein paar Tagen aus Panama versetzt worden war, da erhält er Meldung von dem Tod des Zweisternegenerals Kenneth Kramer. Offensichtlich ist er in dem billigen Motel, in dem er aufgefunden wurde, beim Sex mit einer Zwanzig-Dollar-Prostituierten an einem Herzinfarkt gestorben. Als Reacher Kramers Frau informieren will, ohne die näheren Begleitumstände zu erwähnen, findet er allerdings auch sie tot in ihrem Haus auf, mit einem schweren Brecheisen erschlagen, wie die Autopsie ergibt. Reacher erfährt auf Nachfrage bei seinem Kommandeur Oberst Garber, dass Kramer beim XII. Korps in Deutschland stationiert und zu einer Kommandeurstagung der Panzertruppe in Fort Irwin unterwegs war.
Doch bevor Reacher ermitteln kann, warum sich der wichtige Kommandeur fast dreihundert Meilen vom Tagungsort entfernt in einer billigen Absteige vergnügt hatte und sein Aktenkoffer gestohlen wurde, wird Garber nach Ostasien versetzt und Reacher von seinem neuen Vorgesetzten Willard von dem Fall abgezogen. Reacher und seine Partnerin, Leutnant Summer, werden das Gefühl nicht los, dass das Militär ein Komplott zu vertuschen versucht, denn wenig später werden zwei weitere Offiziere tot aufgefunden.
Um sich dem von Willard ausgestellten Haftbefehl zu entziehen, ermitteln Reacher und Summer auf eigene Faust und wühlen einiges an Staub auf …
„Frei zu sein, war ein seltsames Gefühl. Ich hatte so gut wie jede Minute meines Lebens dort verbracht, wo das Militär mich hinschickte. Jetzt kam ich mir wie ein Schulschwänzer vor. Auch hier draußen existierte eine Welt. Sie war mit ihrem eigenen Kram beschäftigt und gebärdete sich chaotisch und undiszipliniert. Ich lehnte mich zurück und beobachtete, wie sie draußen vorbeizog, bunt und stroboskopisch, Zufallsbilder, die Sonnenlicht auf einem Fluss aufblitzen.“ (S. 290) 
Eigentlich müsste „Die Abschussliste“ den Auftakt der Reihe um Jack Reacher bilden, denn zum Jahreswechsel 1989/1990, wo der tatsächlich achte Roman der Erfolgsserie zeitlich angesiedelt ist, ist Reacher noch Ermittler bei der Special Unit der Militärpolizei, wo er insgesamt dreizehn Jahre gedient hatte und als Major entlassen wurde.
Der Rückblick auf das Ende von Reachers Karriere bei der Army wartet mit vielen Hintergrundinformationen zu der US-Army auf, vor allem zu den Grabenkämpfen zwischen den verschiedenen Truppengattungen und den Strategien ihrer jeweiligen Führungskräfte, die anderen Gattungen zu diskreditieren und die eigenen Stärken in den Vordergrund zu stellen. Das wird besonders durch die auffällig vielen zeitgleichen Versetzungen von Reacher und seinen Kollegen aus anderen Stützpunkten und der offensichtlich verräterischen Tagesordnung der eingangs erwähnten Konferenz deutlich, die nicht mehr aufzufinden ist und von der andere Konferenzteilnehmer nichts wissen wollen.
Während Reachers Ermittlungen unter dem Radar lange nicht wirklich vorankommen, bleibt ihm Zeit, sich mit seinem Bruder Joe von seiner sterbenskranken Mutter in Paris zu verabschieden und dabei ein erstaunliches Geheimnis aus ihrem Leben zu erfahren. Natürlich darf Reacher mit seiner imposanten Erscheinung auch physisch wieder einige Denkzettel verpassen und seinen authentischen Charme bei Leutnant Summer wirken lassen, und natürlich kommt er nach einigen Irrwegen am Ende auch der vertrackten Auflösung der mysteriösen Todesfälle auf die Spur.
Lee Child überzeugt dabei als gnadenlos effizienter Erzähler, der nur die nötigsten Informationen in schnörkelloser Sprache und knapp formulierten Sätze packt, damit aber auch das Erzähl- und Lesetempo vorantreibt. Auch wenn für manchen Leser vielleicht etwas zu viel über die Army referiert wird, so ist „Die Abschussliste“ vor allem deshalb lesenswert, weil es deutlich macht, dass sich Reacher schon bei der Army nicht an die dort herrschenden Regeln gehalten hat, sondern seinem eigenen Gerechtigkeitssinn gefolgt ist. Das wird besonders am Ende deutlich, als sich Reacher für seine Brutalität, wegen der er angezeigt worden ist, verantworten soll.
So bietet „Die Abschussliste“ auf der einen Seite ein faszinierendes Militär-Komplott, auf der anderen Seite aber einen wertvollen Einblick in Reachers familiäre Bindungen. 
Leseprobe Lee Child - "Die Abschussliste"

Joey Goebel – „Vincent“

Montag, 31. Juli 2017

(Diogenes, 433 S., HC)
Mit IUI/Globe-Terner hat Foster Lipowitz ein gewaltiges Medienimperium geschaffen, das seine Konkurrenten weit hinter sich gelassen hat. Doch als der Firmenmogul im Alter von siebzig Jahren feststellen muss, dass er vom Krebs zerfressen wird, unternimmt er eine umfassende Inventur seines Unternehmens und ist von Schuld und Ekel erfüllt. Er gründet mit New Renaissance eine Tochtergesellschaft, die sich mit kulturell wertvollen Werken von den sinnfreien Reality-Shows, dümmlichen Sitcoms und von Special Effects und Sex geprägten Action-Streifen abheben sollen, mit denen IUI/Globe-Terner zur Verblödung des Publikums beigetragen haben.
Dem ehemaligen Schauspieler Steven Sylvain und dem wenig erfolgreichen Plattenrezensenten Harlan Eiffler obliegt es, in ihrer Position als Manager und Agent über 400 Kinder zwischen fünf und zwölf Jahren auszuwählen, die über eine besondere künstlerische Begabung verfügen und in Kokomo, Indiana, mit einem Vollstipendium auf die New Renaissance Academy gehen, wo sie zu außergewöhnlichen Autoren, Musikern und Filmemachern herangezogen werden sollen.
Einer dieser Kandidaten ist Vincent (Vater unbekannt, die Mutter eine Hure), der mit seiner depressiven Grundeinstellung wie gemacht scheint für das Projekt. Eiffler ist dafür zuständig, dem Jungen das größtmögliche Leid zuzufügen, damit Vincent stets zu großer Kunst inspiriert wird. Die Saat geht tatsächlich auf: Nachdem Eiffler erst Vincents Hund vergiftet und dann seine möglichen Freundinnen mit monatlichen Schecks in die Wüste geschickt hat, schreibt Vincent nicht nur für den charismatischen, aber sexsüchtigen Sänger Chad großartige Songs, sondern auch erfolgreiche Sitcoms.
„Vincent war nicht attraktiv. Vincent war ein übelriechendes Wrack. Wenigstens schrieb er jetzt hektisch und wie besessen, hauptsächlich von Jane inspiriert. Doch er ackerte bis zur Erschöpfung. Ich flehte ihn an, weniger zu schuften, aber er hörte nicht auf mich. Er war fest entschlossen, sich den Schmerz aus dem Leib zu schreiben. Und wenn er nicht schrieb, dachte er sich Akkordfolgen auf der Gitarre aus, die ihn zum Weinen brachten, und spielte sie immer und immer wieder.“ (S. 254) 
Joey Goebel, der selbst Punkrocker gewesen ist und als Leadsänger mit seiner Band The Mullets fünf Jahre lang durch den Mittleren Westen bis nach Los Angeles tourte, geht in seinem zweiten Roman nach „Freaks“ der spannenden Thematik nach, ob kulturelle Erzeugnisse für den Mainstream so seicht sein müssen, weil das Publikum danach verlangt, oder ob man es mit gehobener Kultur auch erreichen kann. Darüber hinaus verfolgt der Autor die interessante Frage, ob große Kunst nur dann entstehen kann, wenn der Kunstschaffende so großes Leid verspürt, dass er sich den Schmerz nur im kreativen Prozess vom Leib schaffen kann.
In dem Roman tritt Harlan Eiffler als Ich-Erzähler auf, der zunächst Vincents Kindheit als Ergebnis verschieden möglicher Samenspender und einer wild herumvögelnden Mutter rekapituliert, um dann sein Konzept von großer Kunst, die aus großem Kummer generiert wird, vorzustellen.
„Vincent“ überzeugt vor allem in der kritischen, manchmal satirisch überhöhten Auseinandersetzung mit den faden Unterhaltungserzeugnissen der heutigen Pop- und Fersehkultur, aber der Roman zeigt auch auf, wie schwer ist es, so Einfluss auf Künstler zu nehmen, dass sie inspiriert bleiben. Ob dies tatsächlich nur durch großes Leid hervorgerufen kann, mag dahingestellt sein, erfüllt für den Roman aber den Zweck, eine faszinierende Geschichte zu erzählen.
Auch wenn sein Manager Eiffler als Ich-Erzähler fungiert, steht doch Vincent selbst im Mittelpunkt einer wunderbar unterhaltsamen, erfrischend kulturkritischen Geschichte, in der es natürlich auch um die große Liebe, Drogen, Sex, Ruhm, Partys und Tod geht und dabei mal zum Schmunzeln anregt, dann wieder zu Tränen rührt.

Andrea De Carlo – „Creamtrain“

Sonntag, 30. Juli 2017

(Diogenes, 256 S., HC)
Auf Einladung seiner Urlaubsbekanntschaften, des Drehbuchautors Ron und seiner Frau Tracy, reist der 25-jährige Mailänder Giovanni nach Los Angeles, doch das Zusammenleben ist zunehmend von einem gereizten Klima geprägt, da sich Rons aktuelles Treatment offenbar nicht an den Mann bringen lässt.
Um sein Leben selbst in die Hand zu nehmen, nimmt Giovanni einen Job als Kellner in einem italienischen Restaurant an und zieht bei seiner Kollegin Jill ein, die ohnehin nach einem neuen Mitbewohner gesucht hat.
Als auch das Zusammenleben mit Jill immer problematischer wird, schmeißt Giovanni den Kellnerjob und heuert bei einer Sprachschule an, wo er der bekannten Schauspielerin Marsha Mellows Italienisch beibringt. Durch sie lernt er die bessere Gesellschaft kennen, ist aber alles andere als fasziniert von der dort durchdringenden Oberflächlichkeit.
„Ich drängte mich in eine Gruppe von Leuten, die schwatzend und lachend warteten, dass ein Kellner in grüner Jacke ihnen Cocktails servierte. Ich wollte herausfinden, wer sie waren und was sie beruflich machten, aber schließlich erschien mir die Frage ganz irrelevant. Sie waren alle so unverkennbar erfolgreich: brillant und nervig, strotzend von ganz auf sich selbst gerichteter Energie.“ (S. 244) 
Mit seinem 1981 veröffentlichten Debütroman „Creamtrain“, der vier Jahre später auch in deutscher Übersetzung erschienen ist und mit dem Premio Comisso ausgezeichnet wurde, verarbeitete der Mailänder Schriftsteller Andrea De Carlo seine Erfahrungen mit Amerika und lässt seinen jungen Protagonisten seine etwas diffuse Suche nach Glück und Anerkennung in klarer, prägnanter Sprache und mit fotorealistischer Beobachtungsgabe reflektieren.
Was Giovanni vor allem irritiert, sind die Menschen, mit denen er während seiner unterschiedlichsten Jobs zu tun hat, mit den Frauen, die nicht wirklich attraktiv, aber schon auf unbestimmte Weise interessant sind, zu denen er aber keine enge Beziehung aufbauen kann. Vor allem seine prominente Italienisch-Schülerin Marsha Mellows, die er aus dem Film „Creamtrain“ kennt, bereitet ihm Kopfzerbrechen. Wirkliche Nähe kommt bei ihren Zusammentreffen aber nicht auf, selbst als Giovanni den Mut aufbringt, sie zum Essen zu sich nach Hause einzuladen, und der Abend auf einer Schickimicki-Party ausklingt, zu der sie ihn mitnimmt.
Bei aller Irritation, die Giovanni im Umgang mit den selbstherrlichen Reichen, Erfolgreichen Arroganten empfindet, weiß er aber auch selbst nicht, wie er sich verhalten, wo er in seinem Leben überhaupt hinwill. Seine Jobs öden ihn nach kurzer Zeit an, mit den Menschen kommt er nicht klar, seine beruflichen Ambitionen scheinen in Richtung Fotografie zu gehen, doch ernsthaft bemüht ist er auch in dieser Hinsicht nicht.
„Creamtrain“ liest sich wie die ernüchternde Sicht eines Außenstehenden auf die Reichen und Schönen in Hollywood, denen offenbar an nichts mehr gelegen ist, als einander in ihrem Erfolg und in ihren Statussymbolen vergleichbar zu sein. Großartige neue Erkenntnisse darf der Leser in dieser Hinsicht allerdings kaum erwarten.
Der kurze Roman wirkt wie das Portrait eines ziellos in den USA gestrandeten jungen Europäers, der nicht mal zu sich selbst findet, sondern nur nicht mit seiner jeweiligen Umgebung zurechtkommt. Das ist durchaus unterhaltsam geschrieben, entbehrt aber jeder Spannung oder auch nur Entwicklung.

Michael Connelly – (Harry Bosch: 3) „Die Frau im Beton“

Freitag, 28. Juli 2017

(Heyne, 429 S., Tb.)
Harry Bosch steckt mal wieder in der Klemme. Der 43-jährige Detective muss sich in einem Bürgerrechtsprozess verantworten, nachdem ihn die Witwe des mutmaßlichen Puppenmacher-Mörders Norman Church verklagt hat, vor vier Jahren in unverhältnismäßiger Weise ihren Mann erschossen zu haben. Während sein eigener Anwalt Belk vor Gericht keine wirklich gute Figur macht, versucht die ambitionierte Anwältin der Klägerin, Honey Chandler, nachzuweisen, dass Bosch, da er allein gehandelt hat, die vorgebrachten Beweise manipuliert und die Schusswaffe unrechtmäßig benutzt hat, die den unbewaffneten Verdächtigen getötet hat.
Schwierig wird der Fall vor allem durch das Auftauchen einer weiteren Leiche, die nach dem Ausbrennen eines Gebäudes im Beton gefunden wird und nachweislich nach dem Tod des berüchtigten Puppenmachers ermordet wurde. Wenn er nicht gerade vor Gericht sein muss, versucht Bosch mit seinem Partner Jerry Edgar die genauen Umstände der Tat herauszufinden, und kommt zu dem Schluss, dass es einen Nachahmungstäter geben muss, der Zugang zu den Ermittlungen damals gehabt haben muss. Doch wenn dies im Prozess zur Sprache kommt, könnte dieser Täter gewarnt werden.
Unter der Leitung von Chief Irving wird eine Einsatzgruppe ins Leben gerufen, die das Muster hinter den Morden detaillierter zu entschlüsseln versucht. Derweil unterstellt Chandler Bosch ein außergewöhnliches Motiv für seine vermeintlich unangebracht forsche Tat, nämlich Rache für den nach wie unaufgeklärten Mord an seiner eigenen Mutter, die ebenfalls als Prostituierte gearbeitet hat.
„Hatte sie etwa recht? Er hatte nie bewusst darüber nachgedacht. Er war da, der Gedanke an Rache. Irgendwo verborgen, zusammen mit den verblassten Erinnerungen an seine Mutter. Aber er hatte ihn nie ins Bewusstsein geholt und untersucht. Warum war er in jener Nacht allein losgefahren? (…)
Bosch hatte sich selbst und allen anderen immer versichert, er hätte so gehandelt, weil er der Nutte nicht geglaubt hatte. Inzwischen war es seine eigene Story, die er bezweifelte.“ (S. 138) 
Auch in privater Hinsicht stellt ihn der Puppenmacher-Fall vor eine harte Probe, denn Boschs Freundin Sylvie, die er als Witwe eines seiner Kollegen kennengelernt hat, versucht vergeblich, zu Boschs inneren Wesen vorzudringen.
Mit dem dritten Band seiner bis heute enorm erfolgreichen Romanreihe und mittlerweile als von Amazon produzierten Streaming-Serie um den charismatischen Detective Harry Bosch präsentiert Pulitzer-Preisträger Michael Connelly vor allem einen packenden Gerichtsthriller, in dem nicht nur Boschs Alleingang mit tödlichem Ausgang verhandelt, sondern auch seine persönliche Vergangenheit als Kind einer Prostituierten aufgewühlt wird.
Besonders packend entwickelt sich aber die Ermittlung zum neuen Leichenfund der blonden Frau, die zwar grob ins Muster der Puppenmacher-Morde passt, aber zunehmend deutlich macht, dass es einen Nachahmungstäter aus dem engsten Kreis des damaligen Ermittlungsteams geben muss. Natürlich kommen dabei immer neue Kandidaten ins Spiel, bis die Beweislage andere Schlüsse nahelegt und der Täter nach wie vor frei herumläuft.
So ganz schlüssig sind diese Wendungen nicht immer, sind aber einfach den Konventionen des Genres geschuldet, die Connelly souverän beherrscht. Psychologisch interessanter ist dagegen die Auseinandersetzung vor Gericht, die Bosch zu kritischen Selbstreflexionen anregt.
Mit „Die Frau im Beton“ hat Connelly damals noch nicht seinen besten Bosch-Thriller abgeliefert, aber einen, der ohne Längen und mit gut gezeichneten Figuren bis zum Finale packend unterhält.

Lee Child – (Jack Reacher: 5) „In letzter Sekunde“

Samstag, 22. Juli 2017

(Blanvalet, 504 S., Tb.)
Um weiteren Problemen aus dem Weg zu gehen, türmt Jack Reacher in Lubbock, Texas, aus dem Fenster seines Hotelzimmers und versucht wie gewohnt, als Anhalter seine Reise ohne bestimmtes Ziel fortzusetzen, nachdem er am Abend zuvor – ohne dessen Identität zu kennen – einen der örtlichen Cops in der Bar aufgemischt hatte. Zu seiner Überraschung wird Reacher schon nach drei Minuten von der attraktiven Carmen Greer aufgelesen, die ihn mit nach Pecos nimmt und ihn um Hilfe bittet, ihren Ehemann Sloop aus dem Verkehr zu ziehen.
Zwar sitzt er gerade wegen Steuerhinterziehung im Gefängnis, wird aber in einer Woche entlassen. Offensichtlich hat er Carmen über Jahre hinweg geschlagen, aber ihr fehlen einfach die Mittel, zusammen mit ihrer Tochter Ellie ein neues Leben irgendwo anders anzufangen.
Reacher nimmt einen Job auf der Ranch ihrer im Echo County alteingesessenen Familie an und lernt nicht nur den Hass kennen, der der aus einfachen Verhältnissen stammenden Frau durch ihre Familie entgegenschlägt, sondern auch den ambitionierten Staatsanwalt Hack Walker, der sich zum Richter wählen lassen möchte. Dann überschlagen sich die Ereignisse: Sloop wird schon am Wochenende entlassen, sein Anwalt Al Eugene verschwindet spurlos, und Reacher wird das Gefühl nicht los, dass Sloops Bruder Bobby und die Arbeiter auf der Ranch ihm ans Leder wollen.
Kaum ist Sloop wieder zuhause, wird er erschossen und Carmen ins Gefängnis gebracht. Reacher engagiert die Anwältin Alice Aaron, um Carmen aus der verfahrenen Situation zu retten. Er selbst wird von Walker zum Deputy ernannt und beginnt, Ungereimtheiten in dem Fall zu entdecken.
„Dafür bin ich geschaffen. Die Spannung der Verfolgungsjagd. Ich bin ein Ermittler, Alice, bin stets einer gewesen und werde einer bleiben. Ein Jäger. Und als Walker mir diesen Stern gegeben hat, hat mein Verstand zu arbeiten begonnen.“ (S. 389) 
Auch im fünften Band bleibt Bestseller-Autor Lee Child seinem Jack-Reacher-Konzept treu: Der freiwillig aus dem Militärdienst ausgeschiedene Reacher wird anfangs in einer physisch ausgeprägten Szene eingeführt, aus der er natürlich als souveräner Sieger hervorgeht, ist dadurch aber gezwungen, einmal mehr als Anhalter weiterzuziehen, wobei er – wie es der Zufall so will - wieder sofort in einen vertrackten Fall hineingezogen wird.
Im Gegensatz zum letzten Band „Zeit der Rache“ hat der Autor sich diesmal zum Glück mehr Mühe mit der Konstruktion eines überzeugenden Plots gemacht, den er in gewohnt klarer Sprache mit feinem Gespür für die Atmosphäre auf einer texanischen Ranch beschreibt. Allerdings wäre eine feinere Charakterisierung der Greer-Familie wünschenswert gewesen, denn sowohl Carmens Schwiegermutter Rusty als auch ihr Schwager Bobby werden doch nur sehr grob skizziert.
Dafür wird die undurchsichtige Carmen sehr geschickt als Frau dargestellt, der Reacher zwar Glauben schenkt, von vielen anderen aus ihrem Umfeld aber als berechnende Lügnerin hingestellt wird.
Die Beziehung zwischen Reacher und der Anwältin Alice gefällt durch die knackigen Dialoge. Prägnante Action, ein packendes Finale und psychologisch interessant konstruierte Beziehungen machen „In letzter Sekunde“ zu einem durchweg kurzweiligen Lesevergnügen. 
Leseprobe Lee Child - "In letzter Sekunde"

Jason Starr – „Stalking“

Mittwoch, 19. Juli 2017

(Diogenes, 524 S., Tb.)
Obwohl der 23-jährige Bank-Angestellte Andy Barnett mit Katie Porter befreundet ist, versucht er nach wie vor auch bei anderen Frauen in Manhattan zu landen. Mit fünf anderen Jungs lebt er in einem 4-Zimmer-Apartment im Normandie Court und hat durch einen recht geringen Mietanteil genug Geld zum Ausgehen zur Verfügung. Doch Katie lässt sich nicht so leicht ins Bett bekommen, wie Andy gehofft hat, das erste Mal läuft vor allem für Katie völlig daneben. Neben so einem Rüpel wie Andy wirkt ihr alter Schulfreund Peter Wells zunächst wie der Gentleman in Person. Scheinbar zufällig treffen sich die beiden in dem Fitnessstudio, in dem Peter gerade einen Job angenommen hat.
Doch Peter, der schon mit Katies jüngeren Schwester Heather befreundet gewesen ist, die sich vor einiger Zeit das Leben genommen hat, hat die Beziehung zu Katie von langer Hand geplant und ist fest entschlossen, seine Konkurrenten gnadenlos auszuschalten.
„Wie ärgerlich, dass er nur so wenig von ihr wusste, aber er ging davon aus, dass es da schon den einen oder anderen gab. Wenn nicht Freunde, dann eben Bekannte, Schweine, die nur auf ihre Chance warteten, darauf, dass Katie eine Schulter zum Anlehnen brauchte. Die würden sich ihr bereitwillig zur Verfügung stellen, um gleich darauf Katie mit Haut und Haaren zu verschlingen. (…) Er würde alles tun, um Katie nicht zu verlieren.“ (S. 294) 
Mit seinem 2007 erschienenen Roman „The Follower“, den der Diogenes Verlag zwei Jahre später unter dem Titel „Stalking“ veröffentlichte, taucht der aus Brooklyn stammende Autor Jason Starr tief in die oberflächlichen Mechanismen von Anmach-Strategien, One-Night-Stands und Verkupplungs-Versuchen unter Freunden ein und stellt in schnörkelloser, einfacher Sprache dar, nach welchen Kriterien junge Männer und Frauen ihre Bekanntschaften aussuchen.
Besonders eindrücklich beschreibt Starr in einer Szene, wie Andy verzweifelt versucht, seine Jungfräulichkeit in Sachen Analsex zu verlieren. Dabei entlarvt er nicht nur die Naivität der Mädchen, die auf eine gute Partie hoffen, aber nicht so recht zu wissen scheinen, wie sie die Tauglichkeit ihrer Verehrer in dieser Hinsicht feststellen können, sondern auch das machomäßige Imponiergehabe der männlichen Fraktion, der es nur um das Eine zu gehen scheint.
Interessant wird der Roman allerdings erst durch den Kriminalfall, den Starr nach gut 200 Seiten entwickelt. Hier kommt die verzweifelte Katie immer weniger mit der Tatsache klar, dass Peter sich schon so auf eine gemeinsame Zukunft mit ihr vorbereitet hat und von seinem Plan nicht abzubringen ist. Auf einmal erscheinen traumatische Ereignisse aus Katies Vergangenheit in einem ganz neuen Licht.
In sprachlicher Hinsicht stellt „Stalking“ sicher keine Offenbarung dar, doch der unprätentiöse Schreibstil mit den lebendigen Dialogen macht die Lektüre des Romans zu einer kurzweiligen Angelegenheit. Auch wenn die Charakterisierung der Figuren unter der saloppen Inszenierung leidet, bietet „Stalking“ einen unterhaltsamen Mix aus Drama, Krimi-Spannung und trockenem Humor.

Lee Child – (Jack Reacher: 4) „Zeit der Rache“

Sonntag, 16. Juli 2017

(Blanvalet, 510 S., Tb.)
In einem nahezu leeren italienischen Restaurant beobachtet Jack Reacher zwei Männer, die dem Inhaber offenbar das wöchentliche Schutzgeld abnahmen. Wenig später schlägt Reacher die beiden Männer in einer Gasse krankenhausreif und erfährt, dass sie das Geld für einen skrupellosen Gangster namens Petrosian eintreiben. Als er zu seinem Haus in Garrison fährt, wird er von FBI-Agenten empfangen und in die Außenstelle New York gebracht, wo ihn der stellvertretende Direktor Alan Deerfield, die leitenden Agents Nelson Blake und James Cozo sowie die beiden Special Agents Tony Poulton und Julia Lamarr ins Verhör nehmen, die allesamt mit Serienkriminalität und organisiertem Verbrechen zu tun haben. Sie befragen Reacher zu den Frauen Amy Callan und Caroline Cooke, die er während seiner Dienstzeit beim Militär kennengelernt hat und die nun auf grausame Weise ermordet worden sind, nachdem sie ihre Vorgesetzten wegen sexueller Belästigung angezeigt und später den Dienst quittiert hatten.
Zwar halten sie Reacher nicht für den Täter, bitten ihn aber um Mitarbeit bei der Aufklärung der Morde, weil sie den Täter in den Reihen des Militärs vermuten. Der Täter lässt seine Opfer nackt in eine Wanne mit grüner Tarnfarbe steigen, wo sie unter unbekannten Umständen zu Tode kommen, und hinterlässt absolut keine Spuren.
Als auch eine dritte Frau auf die gleiche Art stirbt und jeweils genau drei Wochen zwischen den Morden liegen, haben Reacher und das FBI nur wenig Zeit. Neben dem aufreibenden Fall hat Reacher auch in privater Hinsicht Entscheidungen zu treffen. Nachdem er das Haus seines Freundes und Kommandeurs Leon Garber geerbt hat und mit seiner Tochter Jodie liiert ist, die kurz davorsteht, Partnerin in ihrer Kanzlei zu werden, fühlt sich Reacher zu sehr in seiner Freiheit eingeengt.
„Endlich ging es wieder irgendwo hin. Endlich war er wieder unterwegs. Er kam sich vor wie ein wechselwarmes Tier nach dem Winterschlaf, wenn das Blut wieder in Wallung gerät. Sein alter Wandertrieb meldete sich zu Wort. Nun bist du also wieder froh und glücklich, sagte er. Du hast sogar einen Moment lang vergessen, dass du droben in Garrison ein Haus am Hals hast.“ (S. 110) 
Mit seinem vierten Jack-Reacher-Roman folgt Lee Child seinem bewährten Rezept. Zunächst führt er Reacher als gerechtigkeitsliebenden Mann ein, der Konfrontationen auch mit mehreren Männern stets sehr überlegt angeht und aus ihnen sehr souverän als Sieger hervorgeht. Der Leser bekommt einen kurzen Abriss von Reachers Laufbahn als Major bei der Militärpolizei und der Beziehung zu Leon Garbers Tochter. Schließlich wird er zur Zusammenarbeit mit dem FBI genötigt, um einen sehr gerissenen Serienmörder zu fassen.
Doch der zunächst interessant vertrackte Fall entpuppt sich als Angelegenheit, in der absichtlich falsche Fährten gelegt worden sind, die Reacher und seine ihn begleitende junge Agentin Lisa Harper aber erst nach weiteren Morden entwirren können. Leider gelingt es Lee Child diesmal nicht sehr überzeugend, die verschiedenen Ermittlungsansätze glaubwürdig miteinander zu verknüpfen. Am Ende wirkt die Auflösung doch sehr konstruiert und unglaubwürdig. Dazu sorgen die immer wieder mal eingestreuten Inneneinsichten des Täters für einen unnötigen Bruch in der Erzähldramaturgie, so dass „Zeit der Rache“ zwar einen faszinierenden Fall präsentiert, der auch die Schwierigkeiten der Zusammenarbeit zwischen Militär und FBI thematisiert sowie Reachers Drang nach Unabhängigkeit, aber letztlich wenig schlüssig zu Ende erzählt wird.