Larry Brown – „Fay“

Donnerstag, 10. August 2017

(Heyne, 652 S., HC)
Weil sie es zuhause mit ihrem gewalttätigen Vater nicht mehr aushält, verlässt die siebzehnjährige Fay Jones ihre Geschwister und das ärmliche Leben, das sie in den Wäldern Mississippis in einer Blechhütte geführt hatte, um nach Biloxi zu gehen. Am Meer erhofft sie sich dort das Glück, das ihr bislang verwehrt worden war, doch mit zwei Dollar im schäbigen BH kann der Weg bis dorthin beschwerlich werden, zumal sie durch die frühzeitig abgebrochene Schule noch wenig von dem weiß, was in der Welt so vor sich geht.
Naiv, wie sie ist, lässt sich das attraktive Mädchen von drei jungen Männern aufgabeln und wird in ihrem Trailer-Park auch gleich belästigt. Mehr Glück scheint sie mit dem State Trooper Sam zu haben, der sie mit nach Hause nimmt, das idyllisch an einem Stausee bei Oxford liegt. Sam und seine Frau Amy nehmen Fay wie eine Tochter bei sich auf. Wie Fay bald erfährt, haben die beiden ihre Tochter Karen bei einem Autounfall verloren, seitdem haben sich Sam und Amy auseinandergelebt. Wenn Fay nicht in ihrem eigenen Laden arbeitet, betrinkt sie sich auf der heimischen Veranda, Sam hält sich mit der cholerischen Alesandra eine reiche Geliebte.
Als Amy bei einem Autounfall ums Leben kommt und Fay Sams Geliebte tötet, muss sie weiterziehen. Zwar schafft sie es tatsächlich bis nach Biloxi, landet aber in einem Strip-Lokal, wo sie von dem unberechenbaren Aaron unter die Fittiche genommen wird. Allerdings wünscht sie sich nichts mehr, als dass sie zu Sam zurückkehren kann …
„Sie konnte im Handumdrehen verschwinden. In nicht mal fünf Minuten konnte sie draußen auf der Straße sein. Doch die Straße führte nur zu Orten, die sie nicht kannte. Diesen Ort kannte sie wenigstens halbwegs. Und in diesem kurzen Moment beschloss sie zu bleiben.“ (S. 409) 
Bei dem Erfolg von Südstaaten-Autoren wie James Lee Burke, Joe R. Lansdale, Donald Ray Pollock und Daniel Woodrell mutet es fast kurios an, dass der aus Oxford, Mississippi, stammende und leider schon 2004 im Alter von 53 Jahren viel zu früh verstorbene Autor Larry Brown hierzulande noch gänzlich unbekannt ist.
Sein zweiter Roman „Joe“ wurde 2013 mit Nicolas Cage in der Hauptrolle verfilmt, doch mit „Fay“, seinem vierten Roman“, erscheint bei – natürlich – Heyne Hardcore erstmals eines seiner Bücher in deutscher Sprache.
In epischer, aber nie ermüdender Länge beschreibt Brown in schnörkelloser Prosa und authentisch knappen Dialogen den harten Weg, den ein absolut ungebildetes, aber richtig hübsches Mädchen zur Selbständigkeit geht. In diesem eindringlichen Coming-of-Age-Road-Movie lernt Fay eine ganz unterschiedliche Schar von Männern kennen, junge Typen, die ihr Opfer betrunken machen und auf eine schnelle Nummer aus sind, und Vaterfiguren, zu denen sie ambivalente Gefühle entwickelt.
Mit der Zeit weiß sich Fay durchaus zu helfen und bekommt es in kurzer Zeit mit mehr toten Menschen und Schwierigkeiten zu tun, als ihr lieb sein kann. Als sie schließlich in Biloxi ankommt, erwartet sie mitnichten das erhoffte Paradies am Strand, sondern die ernüchternde Realität eines Strip-Clubs, in dem sie zum Glück nicht arbeiten muss.
Wie sie sich durchschlägt und die Männer in ihrem Leben verrückt macht, ist wunderbar einfühlsam geschrieben und lässt den Leser mit dem armen Mädchen auf jeder Seite mitfühlen. Abwechslung bringt Brown durch hin und wieder wechselnde Erzählperspektiven – beispielsweise von Sam oder Aaron – ins Spiel, aber es ist vor allem Browns Art, die Figuren und den amerikanischen Süden so lebendig zu zeichnen, dass „Fay“ so ein beeindruckendes Lesevergnügen darstellt.
Bleibt zu hoffen, dass auch Browns übrige Werk von Heyne (Hardcore) – gern in ebenso feiner Ausstattung – veröffentlicht wird. 
Leseprobe Larry Brown - "Fay"

Lee Child – (Jack Reacher: 8) „Die Abschussliste“

Samstag, 5. August 2017

(Blanvalet, 478 S, HC)
Kaum hat Jack Reacher, Major bei der Militärpolizei, ganz nüchtern den Jahreswechsel 1989/1990 in seinem Dienstzimmer in Fort Bird verfolgt, wo er erst vor ein paar Tagen aus Panama versetzt worden war, da erhält er Meldung von dem Tod des Zweisternegenerals Kenneth Kramer. Offensichtlich ist er in dem billigen Motel, in dem er aufgefunden wurde, beim Sex mit einer Zwanzig-Dollar-Prostituierten an einem Herzinfarkt gestorben. Als Reacher Kramers Frau informieren will, ohne die näheren Begleitumstände zu erwähnen, findet er allerdings auch sie tot in ihrem Haus auf, mit einem schweren Brecheisen erschlagen, wie die Autopsie ergibt. Reacher erfährt auf Nachfrage bei seinem Kommandeur Oberst Garber, dass Kramer beim XII. Korps in Deutschland stationiert und zu einer Kommandeurstagung der Panzertruppe in Fort Irwin unterwegs war.
Doch bevor Reacher ermitteln kann, warum sich der wichtige Kommandeur fast dreihundert Meilen vom Tagungsort entfernt in einer billigen Absteige vergnügt hatte und sein Aktenkoffer gestohlen wurde, wird Garber nach Ostasien versetzt und Reacher von seinem neuen Vorgesetzten Willard von dem Fall abgezogen. Reacher und seine Partnerin, Leutnant Summer, werden das Gefühl nicht los, dass das Militär ein Komplott zu vertuschen versucht, denn wenig später werden zwei weitere Offiziere tot aufgefunden.
Um sich dem von Willard ausgestellten Haftbefehl zu entziehen, ermitteln Reacher und Summer auf eigene Faust und wühlen einiges an Staub auf …
„Frei zu sein, war ein seltsames Gefühl. Ich hatte so gut wie jede Minute meines Lebens dort verbracht, wo das Militär mich hinschickte. Jetzt kam ich mir wie ein Schulschwänzer vor. Auch hier draußen existierte eine Welt. Sie war mit ihrem eigenen Kram beschäftigt und gebärdete sich chaotisch und undiszipliniert. Ich lehnte mich zurück und beobachtete, wie sie draußen vorbeizog, bunt und stroboskopisch, Zufallsbilder, die Sonnenlicht auf einem Fluss aufblitzen.“ (S. 290) 
Eigentlich müsste „Die Abschussliste“ den Auftakt der Reihe um Jack Reacher bilden, denn zum Jahreswechsel 1989/1990, wo der tatsächlich achte Roman der Erfolgsserie zeitlich angesiedelt ist, ist Reacher noch Ermittler bei der Special Unit der Militärpolizei, wo er insgesamt dreizehn Jahre gedient hatte und als Major entlassen wurde.
Der Rückblick auf das Ende von Reachers Karriere bei der Army wartet mit vielen Hintergrundinformationen zu der US-Army auf, vor allem zu den Grabenkämpfen zwischen den verschiedenen Truppengattungen und den Strategien ihrer jeweiligen Führungskräfte, die anderen Gattungen zu diskreditieren und die eigenen Stärken in den Vordergrund zu stellen. Das wird besonders durch die auffällig vielen zeitgleichen Versetzungen von Reacher und seinen Kollegen aus anderen Stützpunkten und der offensichtlich verräterischen Tagesordnung der eingangs erwähnten Konferenz deutlich, die nicht mehr aufzufinden ist und von der andere Konferenzteilnehmer nichts wissen wollen.
Während Reachers Ermittlungen unter dem Radar lange nicht wirklich vorankommen, bleibt ihm Zeit, sich mit seinem Bruder Joe von seiner sterbenskranken Mutter in Paris zu verabschieden und dabei ein erstaunliches Geheimnis aus ihrem Leben zu erfahren. Natürlich darf Reacher mit seiner imposanten Erscheinung auch physisch wieder einige Denkzettel verpassen und seinen authentischen Charme bei Leutnant Summer wirken lassen, und natürlich kommt er nach einigen Irrwegen am Ende auch der vertrackten Auflösung der mysteriösen Todesfälle auf die Spur.
Lee Child überzeugt dabei als gnadenlos effizienter Erzähler, der nur die nötigsten Informationen in schnörkelloser Sprache und knapp formulierten Sätze packt, damit aber auch das Erzähl- und Lesetempo vorantreibt. Auch wenn für manchen Leser vielleicht etwas zu viel über die Army referiert wird, so ist „Die Abschussliste“ vor allem deshalb lesenswert, weil es deutlich macht, dass sich Reacher schon bei der Army nicht an die dort herrschenden Regeln gehalten hat, sondern seinem eigenen Gerechtigkeitssinn gefolgt ist. Das wird besonders am Ende deutlich, als sich Reacher für seine Brutalität, wegen der er angezeigt worden ist, verantworten soll.
So bietet „Die Abschussliste“ auf der einen Seite ein faszinierendes Militär-Komplott, auf der anderen Seite aber einen wertvollen Einblick in Reachers familiäre Bindungen. 
Leseprobe Lee Child - "Die Abschussliste"

Joey Goebel – „Vincent“

Montag, 31. Juli 2017

(Diogenes, 433 S., HC)
Mit IUI/Globe-Terner hat Foster Lipowitz ein gewaltiges Medienimperium geschaffen, das seine Konkurrenten weit hinter sich gelassen hat. Doch als der Firmenmogul im Alter von siebzig Jahren feststellen muss, dass er vom Krebs zerfressen wird, unternimmt er eine umfassende Inventur seines Unternehmens und ist von Schuld und Ekel erfüllt. Er gründet mit New Renaissance eine Tochtergesellschaft, die sich mit kulturell wertvollen Werken von den sinnfreien Reality-Shows, dümmlichen Sitcoms und von Special Effects und Sex geprägten Action-Streifen abheben sollen, mit denen IUI/Globe-Terner zur Verblödung des Publikums beigetragen haben.
Dem ehemaligen Schauspieler Steven Sylvain und dem wenig erfolgreichen Plattenrezensenten Harlan Eiffler obliegt es, in ihrer Position als Manager und Agent über 400 Kinder zwischen fünf und zwölf Jahren auszuwählen, die über eine besondere künstlerische Begabung verfügen und in Kokomo, Indiana, mit einem Vollstipendium auf die New Renaissance Academy gehen, wo sie zu außergewöhnlichen Autoren, Musikern und Filmemachern herangezogen werden sollen.
Einer dieser Kandidaten ist Vincent (Vater unbekannt, die Mutter eine Hure), der mit seiner depressiven Grundeinstellung wie gemacht scheint für das Projekt. Eiffler ist dafür zuständig, dem Jungen das größtmögliche Leid zuzufügen, damit Vincent stets zu großer Kunst inspiriert wird. Die Saat geht tatsächlich auf: Nachdem Eiffler erst Vincents Hund vergiftet und dann seine möglichen Freundinnen mit monatlichen Schecks in die Wüste geschickt hat, schreibt Vincent nicht nur für den charismatischen, aber sexsüchtigen Sänger Chad großartige Songs, sondern auch erfolgreiche Sitcoms.
„Vincent war nicht attraktiv. Vincent war ein übelriechendes Wrack. Wenigstens schrieb er jetzt hektisch und wie besessen, hauptsächlich von Jane inspiriert. Doch er ackerte bis zur Erschöpfung. Ich flehte ihn an, weniger zu schuften, aber er hörte nicht auf mich. Er war fest entschlossen, sich den Schmerz aus dem Leib zu schreiben. Und wenn er nicht schrieb, dachte er sich Akkordfolgen auf der Gitarre aus, die ihn zum Weinen brachten, und spielte sie immer und immer wieder.“ (S. 254) 
Joey Goebel, der selbst Punkrocker gewesen ist und als Leadsänger mit seiner Band The Mullets fünf Jahre lang durch den Mittleren Westen bis nach Los Angeles tourte, geht in seinem zweiten Roman nach „Freaks“ der spannenden Thematik nach, ob kulturelle Erzeugnisse für den Mainstream so seicht sein müssen, weil das Publikum danach verlangt, oder ob man es mit gehobener Kultur auch erreichen kann. Darüber hinaus verfolgt der Autor die interessante Frage, ob große Kunst nur dann entstehen kann, wenn der Kunstschaffende so großes Leid verspürt, dass er sich den Schmerz nur im kreativen Prozess vom Leib schaffen kann.
In dem Roman tritt Harlan Eiffler als Ich-Erzähler auf, der zunächst Vincents Kindheit als Ergebnis verschieden möglicher Samenspender und einer wild herumvögelnden Mutter rekapituliert, um dann sein Konzept von großer Kunst, die aus großem Kummer generiert wird, vorzustellen.
„Vincent“ überzeugt vor allem in der kritischen, manchmal satirisch überhöhten Auseinandersetzung mit den faden Unterhaltungserzeugnissen der heutigen Pop- und Fersehkultur, aber der Roman zeigt auch auf, wie schwer ist es, so Einfluss auf Künstler zu nehmen, dass sie inspiriert bleiben. Ob dies tatsächlich nur durch großes Leid hervorgerufen kann, mag dahingestellt sein, erfüllt für den Roman aber den Zweck, eine faszinierende Geschichte zu erzählen.
Auch wenn sein Manager Eiffler als Ich-Erzähler fungiert, steht doch Vincent selbst im Mittelpunkt einer wunderbar unterhaltsamen, erfrischend kulturkritischen Geschichte, in der es natürlich auch um die große Liebe, Drogen, Sex, Ruhm, Partys und Tod geht und dabei mal zum Schmunzeln anregt, dann wieder zu Tränen rührt.

Andrea De Carlo – „Creamtrain“

Sonntag, 30. Juli 2017

(Diogenes, 256 S., HC)
Auf Einladung seiner Urlaubsbekanntschaften, des Drehbuchautors Ron und seiner Frau Tracy, reist der 25-jährige Mailänder Giovanni nach Los Angeles, doch das Zusammenleben ist zunehmend von einem gereizten Klima geprägt, da sich Rons aktuelles Treatment offenbar nicht an den Mann bringen lässt.
Um sein Leben selbst in die Hand zu nehmen, nimmt Giovanni einen Job als Kellner in einem italienischen Restaurant an und zieht bei seiner Kollegin Jill ein, die ohnehin nach einem neuen Mitbewohner gesucht hat.
Als auch das Zusammenleben mit Jill immer problematischer wird, schmeißt Giovanni den Kellnerjob und heuert bei einer Sprachschule an, wo er der bekannten Schauspielerin Marsha Mellows Italienisch beibringt. Durch sie lernt er die bessere Gesellschaft kennen, ist aber alles andere als fasziniert von der dort durchdringenden Oberflächlichkeit.
„Ich drängte mich in eine Gruppe von Leuten, die schwatzend und lachend warteten, dass ein Kellner in grüner Jacke ihnen Cocktails servierte. Ich wollte herausfinden, wer sie waren und was sie beruflich machten, aber schließlich erschien mir die Frage ganz irrelevant. Sie waren alle so unverkennbar erfolgreich: brillant und nervig, strotzend von ganz auf sich selbst gerichteter Energie.“ (S. 244) 
Mit seinem 1981 veröffentlichten Debütroman „Creamtrain“, der vier Jahre später auch in deutscher Übersetzung erschienen ist und mit dem Premio Comisso ausgezeichnet wurde, verarbeitete der Mailänder Schriftsteller Andrea De Carlo seine Erfahrungen mit Amerika und lässt seinen jungen Protagonisten seine etwas diffuse Suche nach Glück und Anerkennung in klarer, prägnanter Sprache und mit fotorealistischer Beobachtungsgabe reflektieren.
Was Giovanni vor allem irritiert, sind die Menschen, mit denen er während seiner unterschiedlichsten Jobs zu tun hat, mit den Frauen, die nicht wirklich attraktiv, aber schon auf unbestimmte Weise interessant sind, zu denen er aber keine enge Beziehung aufbauen kann. Vor allem seine prominente Italienisch-Schülerin Marsha Mellows, die er aus dem Film „Creamtrain“ kennt, bereitet ihm Kopfzerbrechen. Wirkliche Nähe kommt bei ihren Zusammentreffen aber nicht auf, selbst als Giovanni den Mut aufbringt, sie zum Essen zu sich nach Hause einzuladen, und der Abend auf einer Schickimicki-Party ausklingt, zu der sie ihn mitnimmt.
Bei aller Irritation, die Giovanni im Umgang mit den selbstherrlichen Reichen, Erfolgreichen Arroganten empfindet, weiß er aber auch selbst nicht, wie er sich verhalten, wo er in seinem Leben überhaupt hinwill. Seine Jobs öden ihn nach kurzer Zeit an, mit den Menschen kommt er nicht klar, seine beruflichen Ambitionen scheinen in Richtung Fotografie zu gehen, doch ernsthaft bemüht ist er auch in dieser Hinsicht nicht.
„Creamtrain“ liest sich wie die ernüchternde Sicht eines Außenstehenden auf die Reichen und Schönen in Hollywood, denen offenbar an nichts mehr gelegen ist, als einander in ihrem Erfolg und in ihren Statussymbolen vergleichbar zu sein. Großartige neue Erkenntnisse darf der Leser in dieser Hinsicht allerdings kaum erwarten.
Der kurze Roman wirkt wie das Portrait eines ziellos in den USA gestrandeten jungen Europäers, der nicht mal zu sich selbst findet, sondern nur nicht mit seiner jeweiligen Umgebung zurechtkommt. Das ist durchaus unterhaltsam geschrieben, entbehrt aber jeder Spannung oder auch nur Entwicklung.

Michael Connelly – (Harry Bosch: 3) „Die Frau im Beton“

Freitag, 28. Juli 2017

(Heyne, 429 S., Tb.)
Harry Bosch steckt mal wieder in der Klemme. Der 43-jährige Detective muss sich in einem Bürgerrechtsprozess verantworten, nachdem ihn die Witwe des mutmaßlichen Puppenmacher-Mörders Norman Church verklagt hat, vor vier Jahren in unverhältnismäßiger Weise ihren Mann erschossen zu haben. Während sein eigener Anwalt Belk vor Gericht keine wirklich gute Figur macht, versucht die ambitionierte Anwältin der Klägerin, Honey Chandler, nachzuweisen, dass Bosch, da er allein gehandelt hat, die vorgebrachten Beweise manipuliert und die Schusswaffe unrechtmäßig benutzt hat, die den unbewaffneten Verdächtigen getötet hat.
Schwierig wird der Fall vor allem durch das Auftauchen einer weiteren Leiche, die nach dem Ausbrennen eines Gebäudes im Beton gefunden wird und nachweislich nach dem Tod des berüchtigten Puppenmachers ermordet wurde. Wenn er nicht gerade vor Gericht sein muss, versucht Bosch mit seinem Partner Jerry Edgar die genauen Umstände der Tat herauszufinden, und kommt zu dem Schluss, dass es einen Nachahmungstäter geben muss, der Zugang zu den Ermittlungen damals gehabt haben muss. Doch wenn dies im Prozess zur Sprache kommt, könnte dieser Täter gewarnt werden.
Unter der Leitung von Chief Irving wird eine Einsatzgruppe ins Leben gerufen, die das Muster hinter den Morden detaillierter zu entschlüsseln versucht. Derweil unterstellt Chandler Bosch ein außergewöhnliches Motiv für seine vermeintlich unangebracht forsche Tat, nämlich Rache für den nach wie unaufgeklärten Mord an seiner eigenen Mutter, die ebenfalls als Prostituierte gearbeitet hat.
„Hatte sie etwa recht? Er hatte nie bewusst darüber nachgedacht. Er war da, der Gedanke an Rache. Irgendwo verborgen, zusammen mit den verblassten Erinnerungen an seine Mutter. Aber er hatte ihn nie ins Bewusstsein geholt und untersucht. Warum war er in jener Nacht allein losgefahren? (…)
Bosch hatte sich selbst und allen anderen immer versichert, er hätte so gehandelt, weil er der Nutte nicht geglaubt hatte. Inzwischen war es seine eigene Story, die er bezweifelte.“ (S. 138) 
Auch in privater Hinsicht stellt ihn der Puppenmacher-Fall vor eine harte Probe, denn Boschs Freundin Sylvie, die er als Witwe eines seiner Kollegen kennengelernt hat, versucht vergeblich, zu Boschs inneren Wesen vorzudringen.
Mit dem dritten Band seiner bis heute enorm erfolgreichen Romanreihe und mittlerweile als von Amazon produzierten Streaming-Serie um den charismatischen Detective Harry Bosch präsentiert Pulitzer-Preisträger Michael Connelly vor allem einen packenden Gerichtsthriller, in dem nicht nur Boschs Alleingang mit tödlichem Ausgang verhandelt, sondern auch seine persönliche Vergangenheit als Kind einer Prostituierten aufgewühlt wird.
Besonders packend entwickelt sich aber die Ermittlung zum neuen Leichenfund der blonden Frau, die zwar grob ins Muster der Puppenmacher-Morde passt, aber zunehmend deutlich macht, dass es einen Nachahmungstäter aus dem engsten Kreis des damaligen Ermittlungsteams geben muss. Natürlich kommen dabei immer neue Kandidaten ins Spiel, bis die Beweislage andere Schlüsse nahelegt und der Täter nach wie vor frei herumläuft.
So ganz schlüssig sind diese Wendungen nicht immer, sind aber einfach den Konventionen des Genres geschuldet, die Connelly souverän beherrscht. Psychologisch interessanter ist dagegen die Auseinandersetzung vor Gericht, die Bosch zu kritischen Selbstreflexionen anregt.
Mit „Die Frau im Beton“ hat Connelly damals noch nicht seinen besten Bosch-Thriller abgeliefert, aber einen, der ohne Längen und mit gut gezeichneten Figuren bis zum Finale packend unterhält.

Lee Child – (Jack Reacher: 5) „In letzter Sekunde“

Samstag, 22. Juli 2017

(Blanvalet, 504 S., Tb.)
Um weiteren Problemen aus dem Weg zu gehen, türmt Jack Reacher in Lubbock, Texas, aus dem Fenster seines Hotelzimmers und versucht wie gewohnt, als Anhalter seine Reise ohne bestimmtes Ziel fortzusetzen, nachdem er am Abend zuvor – ohne dessen Identität zu kennen – einen der örtlichen Cops in der Bar aufgemischt hatte. Zu seiner Überraschung wird Reacher schon nach drei Minuten von der attraktiven Carmen Greer aufgelesen, die ihn mit nach Pecos nimmt und ihn um Hilfe bittet, ihren Ehemann Sloop aus dem Verkehr zu ziehen.
Zwar sitzt er gerade wegen Steuerhinterziehung im Gefängnis, wird aber in einer Woche entlassen. Offensichtlich hat er Carmen über Jahre hinweg geschlagen, aber ihr fehlen einfach die Mittel, zusammen mit ihrer Tochter Ellie ein neues Leben irgendwo anders anzufangen.
Reacher nimmt einen Job auf der Ranch ihrer im Echo County alteingesessenen Familie an und lernt nicht nur den Hass kennen, der der aus einfachen Verhältnissen stammenden Frau durch ihre Familie entgegenschlägt, sondern auch den ambitionierten Staatsanwalt Hack Walker, der sich zum Richter wählen lassen möchte. Dann überschlagen sich die Ereignisse: Sloop wird schon am Wochenende entlassen, sein Anwalt Al Eugene verschwindet spurlos, und Reacher wird das Gefühl nicht los, dass Sloops Bruder Bobby und die Arbeiter auf der Ranch ihm ans Leder wollen.
Kaum ist Sloop wieder zuhause, wird er erschossen und Carmen ins Gefängnis gebracht. Reacher engagiert die Anwältin Alice Aaron, um Carmen aus der verfahrenen Situation zu retten. Er selbst wird von Walker zum Deputy ernannt und beginnt, Ungereimtheiten in dem Fall zu entdecken.
„Dafür bin ich geschaffen. Die Spannung der Verfolgungsjagd. Ich bin ein Ermittler, Alice, bin stets einer gewesen und werde einer bleiben. Ein Jäger. Und als Walker mir diesen Stern gegeben hat, hat mein Verstand zu arbeiten begonnen.“ (S. 389) 
Auch im fünften Band bleibt Bestseller-Autor Lee Child seinem Jack-Reacher-Konzept treu: Der freiwillig aus dem Militärdienst ausgeschiedene Reacher wird anfangs in einer physisch ausgeprägten Szene eingeführt, aus der er natürlich als souveräner Sieger hervorgeht, ist dadurch aber gezwungen, einmal mehr als Anhalter weiterzuziehen, wobei er – wie es der Zufall so will - wieder sofort in einen vertrackten Fall hineingezogen wird.
Im Gegensatz zum letzten Band „Zeit der Rache“ hat der Autor sich diesmal zum Glück mehr Mühe mit der Konstruktion eines überzeugenden Plots gemacht, den er in gewohnt klarer Sprache mit feinem Gespür für die Atmosphäre auf einer texanischen Ranch beschreibt. Allerdings wäre eine feinere Charakterisierung der Greer-Familie wünschenswert gewesen, denn sowohl Carmens Schwiegermutter Rusty als auch ihr Schwager Bobby werden doch nur sehr grob skizziert.
Dafür wird die undurchsichtige Carmen sehr geschickt als Frau dargestellt, der Reacher zwar Glauben schenkt, von vielen anderen aus ihrem Umfeld aber als berechnende Lügnerin hingestellt wird.
Die Beziehung zwischen Reacher und der Anwältin Alice gefällt durch die knackigen Dialoge. Prägnante Action, ein packendes Finale und psychologisch interessant konstruierte Beziehungen machen „In letzter Sekunde“ zu einem durchweg kurzweiligen Lesevergnügen. 
Leseprobe Lee Child - "In letzter Sekunde"

Jason Starr – „Stalking“

Mittwoch, 19. Juli 2017

(Diogenes, 524 S., Tb.)
Obwohl der 23-jährige Bank-Angestellte Andy Barnett mit Katie Porter befreundet ist, versucht er nach wie vor auch bei anderen Frauen in Manhattan zu landen. Mit fünf anderen Jungs lebt er in einem 4-Zimmer-Apartment im Normandie Court und hat durch einen recht geringen Mietanteil genug Geld zum Ausgehen zur Verfügung. Doch Katie lässt sich nicht so leicht ins Bett bekommen, wie Andy gehofft hat, das erste Mal läuft vor allem für Katie völlig daneben. Neben so einem Rüpel wie Andy wirkt ihr alter Schulfreund Peter Wells zunächst wie der Gentleman in Person. Scheinbar zufällig treffen sich die beiden in dem Fitnessstudio, in dem Peter gerade einen Job angenommen hat.
Doch Peter, der schon mit Katies jüngeren Schwester Heather befreundet gewesen ist, die sich vor einiger Zeit das Leben genommen hat, hat die Beziehung zu Katie von langer Hand geplant und ist fest entschlossen, seine Konkurrenten gnadenlos auszuschalten.
„Wie ärgerlich, dass er nur so wenig von ihr wusste, aber er ging davon aus, dass es da schon den einen oder anderen gab. Wenn nicht Freunde, dann eben Bekannte, Schweine, die nur auf ihre Chance warteten, darauf, dass Katie eine Schulter zum Anlehnen brauchte. Die würden sich ihr bereitwillig zur Verfügung stellen, um gleich darauf Katie mit Haut und Haaren zu verschlingen. (…) Er würde alles tun, um Katie nicht zu verlieren.“ (S. 294) 
Mit seinem 2007 erschienenen Roman „The Follower“, den der Diogenes Verlag zwei Jahre später unter dem Titel „Stalking“ veröffentlichte, taucht der aus Brooklyn stammende Autor Jason Starr tief in die oberflächlichen Mechanismen von Anmach-Strategien, One-Night-Stands und Verkupplungs-Versuchen unter Freunden ein und stellt in schnörkelloser, einfacher Sprache dar, nach welchen Kriterien junge Männer und Frauen ihre Bekanntschaften aussuchen.
Besonders eindrücklich beschreibt Starr in einer Szene, wie Andy verzweifelt versucht, seine Jungfräulichkeit in Sachen Analsex zu verlieren. Dabei entlarvt er nicht nur die Naivität der Mädchen, die auf eine gute Partie hoffen, aber nicht so recht zu wissen scheinen, wie sie die Tauglichkeit ihrer Verehrer in dieser Hinsicht feststellen können, sondern auch das machomäßige Imponiergehabe der männlichen Fraktion, der es nur um das Eine zu gehen scheint.
Interessant wird der Roman allerdings erst durch den Kriminalfall, den Starr nach gut 200 Seiten entwickelt. Hier kommt die verzweifelte Katie immer weniger mit der Tatsache klar, dass Peter sich schon so auf eine gemeinsame Zukunft mit ihr vorbereitet hat und von seinem Plan nicht abzubringen ist. Auf einmal erscheinen traumatische Ereignisse aus Katies Vergangenheit in einem ganz neuen Licht.
In sprachlicher Hinsicht stellt „Stalking“ sicher keine Offenbarung dar, doch der unprätentiöse Schreibstil mit den lebendigen Dialogen macht die Lektüre des Romans zu einer kurzweiligen Angelegenheit. Auch wenn die Charakterisierung der Figuren unter der saloppen Inszenierung leidet, bietet „Stalking“ einen unterhaltsamen Mix aus Drama, Krimi-Spannung und trockenem Humor.

Lee Child – (Jack Reacher: 4) „Zeit der Rache“

Sonntag, 16. Juli 2017

(Blanvalet, 510 S., Tb.)
In einem nahezu leeren italienischen Restaurant beobachtet Jack Reacher zwei Männer, die dem Inhaber offenbar das wöchentliche Schutzgeld abnahmen. Wenig später schlägt Reacher die beiden Männer in einer Gasse krankenhausreif und erfährt, dass sie das Geld für einen skrupellosen Gangster namens Petrosian eintreiben. Als er zu seinem Haus in Garrison fährt, wird er von FBI-Agenten empfangen und in die Außenstelle New York gebracht, wo ihn der stellvertretende Direktor Alan Deerfield, die leitenden Agents Nelson Blake und James Cozo sowie die beiden Special Agents Tony Poulton und Julia Lamarr ins Verhör nehmen, die allesamt mit Serienkriminalität und organisiertem Verbrechen zu tun haben. Sie befragen Reacher zu den Frauen Amy Callan und Caroline Cooke, die er während seiner Dienstzeit beim Militär kennengelernt hat und die nun auf grausame Weise ermordet worden sind, nachdem sie ihre Vorgesetzten wegen sexueller Belästigung angezeigt und später den Dienst quittiert hatten.
Zwar halten sie Reacher nicht für den Täter, bitten ihn aber um Mitarbeit bei der Aufklärung der Morde, weil sie den Täter in den Reihen des Militärs vermuten. Der Täter lässt seine Opfer nackt in eine Wanne mit grüner Tarnfarbe steigen, wo sie unter unbekannten Umständen zu Tode kommen, und hinterlässt absolut keine Spuren.
Als auch eine dritte Frau auf die gleiche Art stirbt und jeweils genau drei Wochen zwischen den Morden liegen, haben Reacher und das FBI nur wenig Zeit. Neben dem aufreibenden Fall hat Reacher auch in privater Hinsicht Entscheidungen zu treffen. Nachdem er das Haus seines Freundes und Kommandeurs Leon Garber geerbt hat und mit seiner Tochter Jodie liiert ist, die kurz davorsteht, Partnerin in ihrer Kanzlei zu werden, fühlt sich Reacher zu sehr in seiner Freiheit eingeengt.
„Endlich ging es wieder irgendwo hin. Endlich war er wieder unterwegs. Er kam sich vor wie ein wechselwarmes Tier nach dem Winterschlaf, wenn das Blut wieder in Wallung gerät. Sein alter Wandertrieb meldete sich zu Wort. Nun bist du also wieder froh und glücklich, sagte er. Du hast sogar einen Moment lang vergessen, dass du droben in Garrison ein Haus am Hals hast.“ (S. 110) 
Mit seinem vierten Jack-Reacher-Roman folgt Lee Child seinem bewährten Rezept. Zunächst führt er Reacher als gerechtigkeitsliebenden Mann ein, der Konfrontationen auch mit mehreren Männern stets sehr überlegt angeht und aus ihnen sehr souverän als Sieger hervorgeht. Der Leser bekommt einen kurzen Abriss von Reachers Laufbahn als Major bei der Militärpolizei und der Beziehung zu Leon Garbers Tochter. Schließlich wird er zur Zusammenarbeit mit dem FBI genötigt, um einen sehr gerissenen Serienmörder zu fassen.
Doch der zunächst interessant vertrackte Fall entpuppt sich als Angelegenheit, in der absichtlich falsche Fährten gelegt worden sind, die Reacher und seine ihn begleitende junge Agentin Lisa Harper aber erst nach weiteren Morden entwirren können. Leider gelingt es Lee Child diesmal nicht sehr überzeugend, die verschiedenen Ermittlungsansätze glaubwürdig miteinander zu verknüpfen. Am Ende wirkt die Auflösung doch sehr konstruiert und unglaubwürdig. Dazu sorgen die immer wieder mal eingestreuten Inneneinsichten des Täters für einen unnötigen Bruch in der Erzähldramaturgie, so dass „Zeit der Rache“ zwar einen faszinierenden Fall präsentiert, der auch die Schwierigkeiten der Zusammenarbeit zwischen Militär und FBI thematisiert sowie Reachers Drang nach Unabhängigkeit, aber letztlich wenig schlüssig zu Ende erzählt wird.

Joey Goebel – „Heartland“

Donnerstag, 13. Juli 2017

(Diogenes, 714 S., Tb.)
Blue Gene ist das schwarze Schaf der superreichen Mapother-Familie, die ihren Reichtum dem florierenden Tabakunternehmen in dem beschaulichen Bashford zu verdanken hat. Statt den geplanten Weg einer Ausbildung an einer privaten Elite-Uni einzuschlagen, zog es der mittlerweile 27-Jährige vor, den Kontakt zu seiner Familie abzubrechen, sein millionenschweres Erbe nicht anzurühren und eine Karriere als einfacher Verkäufer im örtlichen Wal-Mart zu verfolgen. Mittlerweile lebt er in einem Trailer-Park und verkauft (oder verschenkt) seine in der Kindheit gesammelten Spielzeuge – vor allem Action-Figuren – auf dem Flohmarkt.
Als seine Mutter Elisabeth ihn dort aufsucht, ahnt Blue Gene, dass sie nicht ohne Grund aufgekreuzt ist: Blue Gene möchte sich doch mit seinem Bruder John und seinem Vater Henry wieder versöhnen und vor allem John dabei unterstützen, ihn in dem kommenden Wahlkampf zu unterstützen, wo John gegen seinen Konkurrenten Frick als Kongressabgeordneter kandidiert.
Um sich die Stimmen des einfachen Volkes zu sichern, soll Blue Gene demonstrieren, dass John tatsächlich das Wohl seiner Angestellten und Wähler im Sinn hat und nicht nur hohle Sprüche klopft. Der Plan scheint aufzugehen, denn John Mapother liegt bald in den Umfragen vorn, doch dann sorgt durch ein Missgeschick die Aufdeckung eines dunklen Familiengeheimnisses für Turbulenzen. Blue Gene fängt wieder an, sein eigenes Ding durchzuziehen.
Mit der Sängerin Jackie Stepchild, für die Blue Gene mehr als freundschaftliche Gefühle empfindet, verwendet er nun sein Erbe dazu, das leerstehende Gebäude des alten Wal-Marts zu kaufen und armen Menschen zu helfen, wie z.B. seinem alten Kindermädchen Bernice. Doch diese Gemeinnützigkeit können John und Henry in ihrem Wahlkampf überhaupt nicht gebrauchen, und Blue Gene muss sich fragen, was der traditionelle Begriff Familie für ihn überhaupt noch bedeutet.
„Diese Wörter haben immer Vorrang, weil sie die Ideen verkörpern, die man sein Leben lang wertschätzen soll, so hat man es uns gelehrt. Und das alles ist gut und schön, aber was macht man, wenn man herausfindet, dass Wörter wie Mom, Dad, Bruder und Familie eigentlich gar nicht in das Bild passen, das man ein Vierteljahrhundert für richtig hielt?“ (S. 450) 
Der 1980 in Henderson, Kentucky, geborene und lebende Joey Goebel hat schon mit seinen ersten Romanen „Vincent“ und „Freaks“ eindrucksvoll bewiesen, dass er eine interessante neue Stimme in der amerikanischen Literatur darstellt. Mit dem 2008 und hierzulande ein Jahr später veröffentlichten Epos „Heartland“ dringt Goebel tief in die Psyche der amerikanischen Gesellschaft ein und seziert im Mikrokosmos einer elitären Familie und eines atypischen Wahlkampfs die traditionellen Werte, die in jedem Wahlkampf thematisiert werden.
Dabei entlarvt der Autor auf ebenso kluge wie humorvolle Weise die Doppelmoral konservativer Politiker und ihrer proklamierten Werte. Besonders in den Diskussionen zwischen Familienoberhaupt Henry und seinen Söhnen John und Eugene, aber auch im späteren Wahlkampf, in dem die Punkrockerin Jackie auch eine Rolle spielt, wird deutlich, wie sehr Freiheit mit Geld und Macht einhergeht. Goebel portraitiert das überschaubare Figuren-Ensemble mit viel Liebe zum Detail und psychologischem Feingefühl. Seine klare Sprache und sein Sinn für humorvolle Pointen machen „Heartland“ zu einer erfrischenden Lektüre, bei der kritisch die Mechanismen der Macht hinterfragt werden dürfen.

Dennis Lehane – (Kenzie & Gennaro: 2) „Dunkelheit, nimm meine Hand“

Dienstag, 11. Juli 2017

(Diogenes, 511 S., Pb.)
Kaum haben Angie Gennaro & Patrick Kenzie einen spektakulären Fall zu den Akten gelegt, erhalten sie einen Anruf von Eric Gault, der an der Bryce University Kriminologie unterrichtet und bei dem Kenzie damals an der University of Massachusetts ein paar Kurse belegt hatte. Erics Freundin, die renommierte Bostoner Psychologin Diandra Warren, will das Ermittler-Duo engagieren, weil sie vor einiger Zeit Besuch von einer jungen Frau bekam, die sich als Moira Kenzie und Freundin von Kevin Hurlihy vorstellte, der sie allerdings zu bedrohen schien und vor drei Wochen auch Diandra anrief, um ihr Angst einzujagen.
Gestern erhielt sie dann einen Brief mit dem Foto ihres Sohnes Jason. Kennzie und Gennaro willigen ein, Jason für einige Zeit zu beschatten, und ermitteln im Dunstkreis von Fat Freddy Constantine, dem Paten der Bostoner Mafia. Als mit Kara Rider eine alte Bekannte von Kenzie verstümmelt und gekreuzigt aufgefunden wird, führt die Spur zu einem Serienkiller, der allerdings seit Jahren im Gefängnis sitzt.
Je mehr Gennaro & Kenzie mit ihrem Aufpasser Bubba im Dreck wühlen, umso mehr häufen sich die bestialischen Morde, und Kenzie selbst gerät ins Visier des skrupellosen Killers, der in den Briefen, die er an den Ermittler adressiert hat, seine kranke Psyche offenbart.
„Ein ganz normaler Mensch, der jeden Morgen aufsteht, zur Arbeit geht und sich im Grunde für einen guten Kerl hält, hat mehr als genug Böses in sich. Vielleicht betrügt er seine Frau, vielleicht behandelt er seine Kollegen schäbig, vielleicht glaubt er insgeheim, dass es den einen oder anderen Menschenschlag gibt, der ihm unterlegen ist.
Meistens muss er sich damit nicht auseinandersetzen, dafür sorgt schon unsere Fähigkeit, uns vor uns selbst zu rechtfertigen (…)
Doch der Mann, der diesen Brief geschrieben hatte, hatte sich dem Bösen hingegeben. Er ergötzte sich am Leid anderer. Er versuchte nicht, Herr über seinen Hass zu werden. Er schwelgte darin.“ (S. 345f.) 
Bevor Dennis Lehane zu Beginn der 2000er Jahre mit seinen (erfolgreich von Clint Eastwood und Martin Scorsese verfilmten) Romanen „Mystic River“ und „Shutter Island“ zum internationalen Bestseller-Autoren avancierte, veröffentlichte er eine Reihe von fünf Romanen um die beiden Bostoner Ermittler Kenzie & Gennaro (2010 folgte mit „Moonlight Mile“ ein sechster und der bislang letzte Band der Reihe), die glücklicherweise nach und nach durch den Schweizer Diogenes-Verlag in neuer Übersetzung wiederveröffentlicht werden.
In „Dunkelheit, nimm meine Hand“ hat es das sympathische Duo, das sich auch persönlich sehr nahesteht, mit einer Reihe von besonders grausamen Morden zu tun, bei denen auch das FBI nicht recht weiterkommt. Lehane arbeitet nicht nur den Plot sehr detailliert aus, sondern taucht vor allem auch tief in das Leben und die Vergangenheit des Ich-Erzählers Patrick Kenzie ein, in die Beziehungen zu seinem Vater, zu seiner Kollegin und Freundin Angie Gennaro und schließlich zu seiner aktuellen Lebensgefährtin Grace und deren Tochter Mae.
Am Ende des packenden Thriller-Dramas, das auf komplexe Weise Polizei-Korruption, Mafia-Verbrechen und persönliche Schicksale miteinander verknüpft, haben sich dunkle Geheimnisse ans Tageslicht begeben, sind Überzeugungen verloren gegangen und Menschen und ihre Beziehungen zueinander nicht mehr so, wie sie vorher waren. Und Dennis Lehane ist fraglos ein Meister darin, die Gründe für diese tiefgreifenden Veränderungen glaubwürdig zu inszenieren. Auf die nächsten – neu übersetzten - Fälle von Kenzie & Gennaro darf sich der Krimi-Freund mehr als freuen! 
Leseprobe Dennis Lehane - "Dunkelheit, nimm meine Hand"

Lee Child – (Jack Reacher: 16) „Der letzte Befehl“

Sonntag, 2. Juli 2017

(Blanvalet, 448 S., HC)
Der Elite-Militärpolizist Jack Reacher wird von seinem Kommandeur Leon Garber im März 1997 nach Mississippi in die Kleinstadt Carter Crossing geschickt, wo er den Mord an der siebenundzwanzigjährigen Zivilistin Janice May Chapman untersuchen soll. Das Pentagon interessiert sich deshalb für den Fall, weil es durch Fort Kelham auch ein Army-Standort ist, wo nicht nur Ranger ausgebildet werden, sondern auch zwei Kompanien aus dem 75th Ranger Regiment stationiert sind, die sich bei heimlichen einmonatigen Einsätzen im Kosovo abwechseln.
Da Chapman drei Tage nach Rückkehr von Kompanie Bravo aus dem Kosovo vergewaltigt und verstümmelt worden ist, als die heimgekehrten Ranger ihren einwöchigen Urlaub angetreten haben, liegt der Verdacht nahe, dass ein Ranger für ihren Tod verantwortlich sein könnte.
Während Reachers Kollege Duncan Munro in Fort Kelham ermittelt, soll Reacher selbst verdeckt auf der zivilen Seite auf Spurensuche gehen, allerdings wird er nach seiner Ankunft gleich vom County Sheriff, der attraktiven Elizabeth Devereux, enttarnt, die sechzehn Jahre bei den Marines gedient hat. Reacher erfährt, dass vor Chapman zwei weitere schöne Frauen auf ähnliche Weise ermordet worden sind und dass alle drei Frauen ein Verhältnis mit dem Senatorensohn Reed Riley gehabt haben, der in Fort Kelham stationiert ist.
Doch bei ihren gemeinsamen Nachforschungen, während der sich die beiden Ermittler auch persönlich näherkommen, werden ihnen durch das Pentagon zunehmend Steine in den Weg gelegt, so dass Reacher den Verdacht nicht loswird, dass in Carter Crossing etwas von höchster Stelle aus vertuscht werden soll. Schließlich scheint Reacher selbst zur Zielscheibe zu werden …
„Diese Leute wussten genau, wann ich wohin wollte.
Was bedeutete, dass sie mir um zwölf Uhr oder kurz davor im Pentagon oder schon davor auflauern würden. Im Bauch des Ungeheuers. Viel gefährlicher als hier. Keine drei Meilen entfernt, aber eine völlig andere Welt in Bezug auf die Methoden, mit denen sie dort arbeiten würden.“ (S. 327) 
Mit seinem 16. Roman um den taffen Militärpolizisten Jack Reacher unternimmt Bestseller-Autor Lee Child eine interessante Reise in die Vergangenheit seines Helden, nämlich in das Jahr 1997, als Reacher durch die Vorfälle im Militärstandort Carter Crossing seine Karriere bei der Army beenden muss. Nach so vielen erfolgreichen, packenden und auch zweimal verfilmten Romanen, in denen wir Jack Reacher nur als Ex-Militärpolizisten kennengelernt haben, der fortan ohne festen Wohnsitz und nennenswerte Habe durch die USA reist und immer wieder in heikle Situationen gerät, erfährt der Leser endlich etwas aus Reachers aktiven Dienstzeit.
Davon abgesehen bietet „Der letzte Befehl“ alle Qualitäten, die die Jack-Reacher-Romane international so beliebt gemacht haben, einen charismatischen Protagonisten, der als Ich-Erzähler messerscharf Informationen sammelt, sie in Zusammenhänge stellt und schnell, aber überlegt darauf reagiert. Durch die kurzen Sätze, die knackig-präzise Sprache, die auf den Punkt brillanten Analysen und die schnörkellos effektiv inszenierte Action fesselt der Thriller von der ersten Seite an und bietet neben kluger Ermittlungsarbeit auch würzige Zutaten wie Misstrauen, Korruption und Erotik.
Leseprobe Lee Child - "Der letzte Befehl"

Don Winslow – „Corruption“

Montag, 26. Juni 2017

(Droemer, 541 S., HC)
Zusammen mit seinen Kollegen Phil Russo, Billy O‘Neill und Big Monty, die ihm wie Brüder sind, kämpft der altgediente und allseits hochgeachtete Detective Denny Malone in der Manhattan North Special Taskforce, der gefeierten Elitetruppe des NYPD, an allen möglichen Fronten gegen Drogen-, Waffen- und Menschenhandel, gegen sexuelle Gewalt, Einbrüche und Überfälle, doch vor allem gegen Drogen und Waffen, die die meisten Toten fordern.
Sie müssen sich nicht rechtfertigen, wie sie die Stadt sauber halten, nur sollte die sorgsam geschmierte Allianz zwischen staatlichen Stellen und organisiertem Verbrechen nicht in Mitleidenschaft geraten.
In seinen achtzehn Dienstjahren ist auch Malone vom rechten Weg abgekommen, schließlich muss das Haus abbezahlt und die College-Ausbildung der Kinder finanziert werden. Als er bei einer Razzia jedoch den Drogenboss Peña erschießt und sich die siebzig Kilo mexikanisches Black Tar Heroin unter den Nagel reißt, herrscht Ausnahmezustand im nördlichen Manhattan, zumal ein Cop angeklagt wird, einen schwarzen Dealer einfach erschossen zu haben.
Malones Truppe hat alle Hände voll zu tun, einen Waffendeal zu stoppen, den DeVon Carter eingefädelt hat, um Krieg gegen die Dominikaner zu führen, was Malones Vorgesetzter Captain Sykes unbedingt verhindern will, und die Gangstermeute zur Ruhe anzuhalten – schließlich verdient jeder an den Verbrechen mit. Doch dann unterläuft Malone ein Fehler und er gerät in die Fänge des FBI. Um einen annehmbaren Deal zu bekommen, muss er nicht nur Richter, die sich kaufen lassen, verraten, sondern auch seine Kollegen und Freunde …
„Du hast die Korruption eingeatmet, seit deinem ersten Streifengang. So wie du den Tod eingeatmet hast, damals im September. Die Korruption liegt nicht nur in der Luft. Sie gehört zur DNA dieser Stadt.
Auch zu deiner.
Ja, schieb’s nur auf die City. Schieb es auf New York.
Schieb es auf den Job.
Drück dich um die harte Frage: Wie bist du dahin gekommen?
Ganz normal. Schritt für Schritt.“ (S. 393f.)
Mit Romanen wie „Tage der Toten“, „Zeit des Zorns“ und „Das Kartell“ hat sich der amerikanische Autor Don Winslow als Meister des gut recherchierten Thrillers, vor allem im Drogenmilieu, etabliert. Mit „Corruption“ legt er nun den ultimativen Cop-Thriller vor, eine bitterböse Abrechnung mit einer allumfassenden Korruption, bei der Gangster, Richter, Cops, Anwälte und Bürgermeister gemeinsame Sache machen, um jeweils ein schönes Stück vom Kuchen abzubekommen und seine Schäfchen ins Trockene zu bringen.
Die Gesetzmäßigkeiten dieser Praxis beschreibt Winslow ebenso detailliert wie einleuchtend. Dazu beschreibt er seinen Antihelden Denny Malone als charismatische Mischung aus Hero-Cop und dirty Cop, als liebenden Familienvater, von dem seine Frau Sheila aber nichts mehr wissen will und der eine Affäre mit der schwarzen Krankenschwester Claudette unterhält; als verantwortungsvollen Vorgesetzten, der darauf achtet, dass die Frauen und Familien versorgt sind, wenn den Männern etwas zustößt.
Eindringlich und actionreich beschreibt Winslow die Gefahren, in die sich die Elite-Cops bei ihren Einsätzen begeben; den Zusammenhalt des Teams, das bei besonderen Gelegenheiten einen von Malone verordneten Bowling-Abend verbringt und es dabei ordentlich krachen lässt; die Verlockungen des Geldes, das den Familien eine bessere Zukunft verspricht; den Rassismus, der immer wieder für Unruhen auf den Straßen sorgt.
Ebenso überzeugend stellt der Autor den schmalen Grat dar, den Malones Truppe in Ausübung ihres Dienstes beschreitet, wenn Geldumschläge entgegengenommen und verteilt werden, damit die Geschäfte weiter ihren geregelten Gang gehen können.
„Corruption“ ist ein unwiderstehlicher Pageturner, der geradezu nach einer Verfilmung schreit. Es ist ein harter und kompromissloser Cop-Thriller, der in knackiger Sprache gnadenlos aufdeckt, wie eng staatliche Stellen auf jeder Ebene und das Gangster-Milieu miteinander verknüpft sind und sich gegenseitig stützen. Im großartigen Finale wirft Winslow noch mal eine gehörige Portion moralische Komplexität, geschickte Wendungen und einen actionreichen Showdown in die Waage, dass es eine helle Lesefreude ist.

Stewart O’Nan – „Ganz alltägliche Leute“

Freitag, 23. Juni 2017

(Rowohlt, 320 S., Pb.)
East Liberty ist sicher kein Vorzeigeviertel in Pittsburgh, und anno 1998 schon gar kein sicheres. Als bei einer Graffitiaktion Bean und sein Freund Chris von der Brücke fallen, überlebt Chris schwerverletzt, muss aber fortan im Rollstuhl sitzen, während Bean bei dem Unfall ums Leben kommt, in den Zeitungen aber nur als vierter Jugendlicher erwähnt wird, der in einer Woche in East Liberty ums Leben kam, als sei er nur ein weiteres Opfer der Drogenkriminalität.
Chris hat aber auch damit zu kämpfen, dass in sexueller Hinsicht laut ärztlicher Auskunft organisch alles bei ihm in Ordnung sein soll, das Liebesleben mit seiner Freundin Vanessa trotzdem zum Erliegen gekommen ist. Vanessa wiederum strebt nach einem besseren Leben, arbeitet im Pancake House, belegt stundenweise einen Kurs an der Uni, wo sie Amerikaner afrikanischer Herkunft zu seinen Erfahrungen befragen soll, und gibt ihren Sohn Rashaan in die Obhut von Miss Fisk, die offensichtlich manchmal verqueres Zeugs erzählt.
Chris‘ Mutter vermutet derweil, dass ihr Mann Harold eine Affäre mit einer Jüngeren hat und ist voller Selbstzweifel …
„Sie hatte seine Lügen lange hingenommen, auch als sie gespürt hatte, dass er sich von ihr entfernte, sich ihrer Ehe entzog und zu einer anderen Frau flüchtete. Sie hatte sich etwas vorgemacht, hatte erst so getan, als ob es nicht wirklich passierte, und dann, als ob er bald klar sehen und zu ihr zurückkehren würde. Jetzt sah sie deutlich, dass er keinen Grund hatte, zu ihr zurückzukehren, dass sein Leben ohne sie viel einfacher war, und da begriff sie, warum er angefangen hatte fremdzugehen.“ (S. 288) 
Auf diese Weise erzählt Stewart O’Nan („Engel im Schnee“, „Emily, allein“) vom Leben so einiger Einwohner des Schwarzenviertels East Liberty in Pittsburgh, von Knastkarrieren und der viel diskutierten Martin-Robinson-Express-Busspur, die für die Pendler von Penn Hills gedacht ist, aber letztlich die Ansiedlung wichtiger Industriezweige und damit die Schaffung neuer Arbeitsplätze verhindert. O’Nan schreibt wie gewohnt sehr einfühlsam von den Gedanken und Empfindungen seiner Figuren, dieser „ganz alltäglichen Leute“ mit ihren so gewöhnlichen Träumen und Sorgen und Ängsten. Allerdings gelingt es ihm nicht, all diese Einzelschicksale zu einer interessanten Geschichte zusammenzufügen. Dazu springt er zu oft von einer Person zur anderen, lässt eine stimmige Dramaturgie und sinnvolle Handlungen und Entwicklungen vermissen.
Am Ende hat der Leser zwar durchaus Einblicke in die alltäglichen Sorgen und Nöte von weniger privilegierten Schwarzen gewonnen, aber keine lesenswerte Geschichte präsentiert bekommen, die Anteilnahme oder Sympathie für die Charaktere hervorruft.

Cormac McCarthy – „Die Straße“

Dienstag, 20. Juni 2017

(Rowohlt, 253 S., Tb.)
Seit Monaten, vielleicht Jahren schon bewegen sich Vater und Sohn durch eine völlig zerstörte Welt. Die Ursache der Apokalypse ist unbekannt, wird zumindest nicht thematisiert. Gewiss ist nur das allgegenwärtige Zelt aus Asche, das selbst den Schnee schwarz färbt. Vater und Sohn sind auf dem Weg nach Süden, zur Küste, wo es nur besser sein kann als in der kalten Gegend, durch die sie so lange Zeit schon wandern, einen Einkaufswagen mit ihren immer spärlicher werdenden Vorräten vor sich herschiebend. Unterwegs begegnen sie nur sporadisch Menschen, die der Mann in die „Guten“ – wie sie selbst – und die „Bösen“ einteilt, die anderen Menschen ihre Vorräte stehlen und sogar vor Kannibalismus nicht zurückschrecken.
Als der Sohn einmal in die Hände einer Kannibalenhorde gelangt, kann sein Vater ihn mit einem Kopfschuss aus der Waffe des Kannibalen befreien, und so lässt sie die Angst vor weiteren unliebsamen Begegnungen mit den „Bösen“ sehr vorsichtig vorangehen, doch einzelnen Wanderern, denen es offenbar schlechter als ihnen geht, wird auch – zumindest vorübergehend - geholfen. Schließlich muss das „Feuer bewahrt“ werden, der moralische Kompass im Inneren. Doch der Weg in den Süden gestaltet sich bei der Kälte und Nässe schwierig und ermüdend, die ersehnte Küste dann doch nicht als das heilsbringende Paradies.
„Im grauen Licht ging er hinaus, blieb stehen und erkannte einen Moment lang die absolute Wahrheit der Welt. Das kalte, unerbittliche Kreisen der hinterlassenschaftslosen Erde. Erbarmungslose Dunkelheit. Die blinden Hunde der Sonne in ihrem Lauf. Das alles vernichtende Vakuum des Universums. Und irgendwo zwei gehetzte Tiere, die zitterten wie Füchse in ihrem Bau. Geliehene Zeit, geliehene Welt und geliehene Augen, um sie zu betrauern.“ (S. 118) 
Als der Mann mit einem Pfeil angeschossen wird, entzündet sich das Bein. Der Tod ist nur noch eine Frage der Zeit, das Schicksal des Jungen ungewiss …
„Die Straße“ ist der bislang letzte Roman des amerikanischen Autors Cormac McCarthy („Kein Land für alte Männer“, „All die schönen Pferde“) und wurde 2007 u.a. mit dem Pulitzer Preis ausgezeichnet. Einmal mehr erweist sich der großartige Stilist und Chronist der menschlichen Abgründe als brillanter Erzähler, dessen Geschichte vom Überlebenskampf eines Mannes mit seinem Sohn wirklich zu Herzen geht. Die spärlich eingestreuten Dialoge zeugen von dem Grundvertrauen, das der gutmütige Sohn in seinen aufrichtigen Vater setzt, immer wieder müssen jedoch beide einander vergewissern, ob ihre Gedanken, Träume und Geschichten okay sind.
Nur schwach erinnert sich der Mann an seine Frau, die sich zu Beginn der Katastrophe das Leben genommen und die Verantwortung für die Rettung ihres Sohnes in die Hände des Vaters abgegeben hat. Wie die beiden monatelang durch die Schlangen von rostigen und verkohlten Autos und aschebedeckte, vereinsamte Landstriche wandern, zeugt von einem starken Überlebenswillen und ist rührend inszeniert, aber auch von alttestamentarischer Wucht.
McCarthy beschränkt sich bei seinem eindringlichen Werk auf die Beschreibung der dystopischen Welt, durch die seine beiden Protagonisten streifen und verliert kein Wert über die Ursache für die Katastrophe. Der Leser kann sich denken, dass der Mensch dafür verantwortlich ist, ob durch einen Atomkrieg oder die Umweltzerstörung oder einen terroristischen Anschlag, ist schließlich nebensächlich und ändert nichts am Ergebnis.
So wie McCarthy die Apokalypse beschreibt, kann dem Leser nur angst und bange werden, denn die Reduzierung des Figuren-Ensembles auf nahezu ein Vater-Sohn-Gespann macht die Geschichte sehr persönlich und emotional, dass jeder für sich angeregt sein sollte, sein Bestes zu tun, um die Menschheit nicht vor die Hunde gehen zu lassen.

Cormac McCarthy – „Ein Kind Gottes“

Montag, 19. Juni 2017

(Rowohlt, 192 S., Pb.)
Sevier County, Tennessee, in den 1960er Jahren. Der 27-jährige Lester Ballard, ein kleiner, unsauberer, unrasierter und verbissen wirkender Mann mit sächsischem und keltischem Blut, sieht vom Scheunentor aus zu, wie die Farm, auf der er aufgewachsen ist und immer noch lebt, versteigert wird. Als er den Auktionator beschimpft, wird Lester niedergeschlagen. Er kommt in einem verwahrlosten Zwei-Zimmer-Häuschen unter, doch als er dieses versehentlich niederbrennt, ist Lester obdachlos und wandert ziellos durch die Wälder.
Einzig zum Whiskeybrenner Fred Kirby und dem Müllhaldenbesitzer Reubel pflegt er gelegentlich Kontakt. Sobald er jedoch junge Frauen – in Begleitung oder ohne – in abgeschiedener Umgebung entdeckt, wird Lester zum Tier. Erregt vom Sex, dessen Zeuge er ist, ejakuliert er und bringt dann die ahnungslosen Opfer um, wobei er zu den toten Frauen eine besondere Beziehung pflegt. Doch sein Tun bleibt nicht unentdeckt, und Lester ist gezwungen, sich noch tiefer in den Wäldern und Höhlen zu verstecken.
„Er beobachtete die ins Winzige verkleinerten Vorgänge im Tal, die grauen, sich unterm Pflug mit schwarzen Rippenmustern überziehenden Felder, die grüne Decke, die die Bäume langsam über alles breiteten. Während er da hockte, ließ er den Kopf zwischen die Knie sinken und begann zu weinen.“ (S. 165) 
Nach „Der Feldhüter“ (1965) und „Draußen im Dunkel“ (1968) ist „Ein Kind Gottes“ (1974) der erst dritte Roman des mittlerweile mit dem Faulkner Award, dem American Academy Award, dem National Book Award, dem National Book Critics Circle Award und schließlich für „Die Straße“ auch mit dem Pulitzer Preis ausgezeichneten amerikanischen Schriftstellers Cormac McCarthy, und doch sind in diesem Werk schon die sprachliche Brillanz und das finstere Menschenbild angelegt, das sich vor allem in „Kein Land für alte Männer“ wiederfindet, das durch die Oscar-prämierte Verfilmung der Coen-Brüder berühmt geworden ist.
„Ein Kind Gottes“ wirkt wie ein düsteres Vorspielt zu dem späteren Meisterwerk, denn auch hier scheint das Wesen eines Mannes ganz darauf ausgerichtet zu sein, abscheuliche Taten zu vollbringen. McCarthy verurteilt aber weder dieses abseitige Verhalten, noch psychologisiert er es. Als einzige Hintergrundinfo zur Lebensgeschichte von Lester Ballard bekommt der Leser die Tatsache präsentiert, dass Lester seinen Vater vom Strick schneiden musste, nachdem sich dieser erhängt und somit den Verkauf der Farm initiiert hatte. Ansonsten weist nichts darauf hin, warum Lester die Neigungen verspürt, die er so ungehemmt auslebt und die McCarthy mit gnadenloser Präzision beschreibt.
Kein Wunder also, dass die Verfilmung von und mit James Franco eine FSK-18-Einstufung erhielt. Von einem „Kind Gottes“, wie der Titel suggeriert, kann bei Lester Ballard also kaum die Rede sein, hier kommt dem Leser eher der Teufel in den Sinn. Wie McCarthy auf der einen Seite die prachtvolle Natur beschreibt und im Gegensatz dazu das schändliche Treiben seines Antihelden inszeniert, fesselt ungemein. Die Geschichte fasziniert ebenso wie sie abstößt – das ist einfach große Literatur.
Leseprobe Cormac McCarthy - "Ein Kind Gottes"

Paul Auster – „Die Erfindung der Einsamkeit“

Sonntag, 18. Juni 2017

(Rowohlt, 248 S., Tb.)
Bevor Paul Auster mit seiner experimentellen Krimi-Trilogie „Die New-York-Trilogie“ weltweit für Aufsehen sorgte, veröffentlichte er bereits einige Lyrik-Bände und auch das aus zwei Essays bestehende Buch „Die Erfindung der Einsamkeit“, mit dem der Autor vor allem den Tod seines Vaters verarbeitet und dabei ausführlich Themen wie Erinnerung, Einsamkeit, Leben und Tod und Zufall beleuchtet.
In „Portrait eines Unsichtbaren“ versucht Auster den Spuren seines Vaters zu folgen, den er Zeit seines Lebens eigentlich nicht gekannt, der sich seinem Sohn immer irgendwie entzogen hat. Drei Wochen nach dem plötzlichen Tod seines Vaters beginnt Auster, seine Erinnerungen niederzuschreiben, beginnend mit der telefonischen Nachricht, die ihn an einem Sonntagmorgen um 8 Uhr erreichte, der dreistündigen Fahrt nach New Jersey, dem Wissen, dass er über seinen Vater schreiben müsse. Was Auster dabei rückblickend irritiert, ist die Erkenntnis, dass sein Vater keine Spuren hinterlassen hatte, weder Frau noch Familie, die auf ihn angewiesen wäre.
„Seine Lebensweise hatte die Welt auf seinen Tod vorbereitet – war eine Art vorweggenommener Tod gewesen -, und falls und wenn man sich seiner erinnerte, dann nur undeutlich, allenfalls undeutlich.“ (S. 13) 
Er empfand keine Leidenschaft und war eigentlich unsichtbar, für andere ebenso wie für sich selbst wahrscheinlich auch. Nachdem Auster ständig versucht hatte, den abwesenden Vater zu finden, glaubt er, ihn auch nach dessen Tod suchen zu müssen. In den Schubladen der Schränke in dem Haus, das der Vater kurz vor seinem Tod noch verkauft hatte, stößt Auster auf Dinge, die er zwar nicht sehen oder wissen will, die aber nichtsdestotrotz für ihn Überbleibsel von Gedanken und Bewusstsein und Entscheidungen darstellen, darunter auch Schnappschüsse von den Flitterwochen seiner Eltern, ein Aktenschrank voller ungültiger Schecks aus dem Jahr 1953. Auster räumt das Haus für den künftigen Besitzer und ist als Möbelhändler, Spediteur und Überbringer schlechter Nachrichten tätig. Wie der Zufall es will, stößt Auster bei seinen Nachforschungen auf die Geschichte, wie sein Großvater Harry von dessen Ehefrau erschossen wurde. Am Ende eignet sich Auster zwar einige Gegenstände seines Vaters an, doch erzeugen auch sie nur die Illusion, mit seinem Vater vertraut zu sein, hat dieser doch nichts mehr damit zu tun. Und so bleibt dem Autor nur eins, nämlich über das Sterben nachzudenken und die Erinnerung an die Toten lebendig zu halten.
In „Das Buch der Erinnerung“ bezeichnet sich Auster kurz als A. und beginnt in der dritten Person über seine Arbeit als Übersetzer von französischen Autoren wie Blanchot und Mallarmé zu schreiben, über klassische Erinnerungstechniken, es folgen durchnummerierte Bücher der Erinnerung, in denen er beispielsweise über Heiligabend 1979 schreibt, über die karge Einrichtung seiner Wohnung, das Schnarchen seines Nachbarn.
Um in dieser Umgebung Frieden zu finden, muss er sich tiefer in sich selbst vergraben, aber je mehr er gräbt, umso mehr braucht er sich selbst auf. Interessant sind vor allem die Überlegungen zur Einsamkeit in Zusammenhang mit Jonas Aufenthalt im Wal und parallel dazu der von Gepetto im Bauch des Haifischs und die Frage, ob man seinen Vater retten muss, um ein richtiger Junge werden zu können. Weitere Exkurse führen zu Emily Dickinson, über die Natur des Zufalls, wie er als Übersetzer Worte zu anderen Worten werden und in seinem Innern ein unermessliches Babel entstehen lässt.  
Auster äußert in „Die Erfindung der Einsamkeit“ kluge Gedanken zu Themen, die seinen Lesern auch in den meisten der späteren Werke immer wiederbegegnen. Wie er dabei mit Ideen und Worten jongliert, Zufall und Sinn miteinander verknüpft, ist nicht immer leicht nachzuvollziehen, regt aber stets zum Nachsinnen an.

Ernst Hofacker – „1967 – Als Pop unsere Welt für immer veränderte“

Montag, 12. Juni 2017

(Reclam, 272 S., HC)
Die 1960er Jahre waren ein turbulentes wie wegweisendes Jahrzehnt. Ein halbes Jahrhundert später sind der Vietnamkrieg, die Studentenunruhen, die Morde an John F. Kennedy und Martin Luther King, die Kuba-Krise und die Bürgerrechtsbewegung der USA nach wie vor immer wieder Thema in gesellschaftspolitischen Diskursen. Warum gerade das Jahr 1967 aus diesem bewegenden Jahrzehnt so heraussticht, macht der renommierte Musikjournalist Ernst Hofacker („Rolling Stone“, „Musikexpress“) in seinem kurzweilig zu lesenden, fachkundig recherchierten und klug geschriebenen Buch „1967 – Als Pop unsere Welt für immer veränderte“ ebenso ausführlich wie kontextuell deutlich.
Natürlich gehört das legendäre Monterey International Pop Festival ebenso zu den Eckpunkten in Hofackers kulturhistorischen Rückblick wie die Karriere der Beatles, die 1967 ihr gefeiertes Meisterwerk „Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band“ veröffentlichten, der Rolling Stones, Bob Dylan und Jimi Hendrix.
Es war das Jahr, in dem laut Branchenmagazin „Billboard“ erstmals mehr LPs als Singles verkauft wurden, die Beatles mit ihrem programmatischen Hit „All you need is Love“ den sprichwörtlichen „Summer of Love“ einläuteten und die erste Ausgabe des „Rolling Stone“-Magazins erschien. Der Autor beschreibt eindrücklich, wie eine zunehmend kritische Studentengeneration heranwuchs, die sich von staubtrockenen gesellschaftlichen Normen zu emanzipieren begann und auf eine revolutionäre Umgestaltung der Machtverhältnisse hinarbeitete. Bei dem Monterey-Festival, das unter dem Motto „Music, Love & Flowers“ stand, erlebten die 50000 bis 90000 Zuschauer nicht nur Stars wie Otis Redding, Jimi Hendrix, Janis Joplin, The Who und Ravi Shankar, sondern auch einen Paradigmenwechsel.
„Es ebnete einer neuen musikalischen Sprache den Weg in den Mainstream und forcierte damit den ganz gewöhnlichen Professionalisierungsprozess einer Subkultur, ihrer Strukturen und Akteure. Dass diese Subkultur fortan mit schicken Verkaufslabels versehen und zur tragenden Säule eines umsatzstarken Marktsegments entwickelt wurde, war ebenso wenig zu vermeiden wie die damit einhergehende allmähliche Verwässerung ihrer Inhalte.“ (S. 79) 
In der Folge setzt sich Hofacker besonders mit der Rolle der Schwarzen Musik und Künstlern wie dem erwähnten Otis Redding, James Brown und Aretha Franklin auseinander, geht dem Mythos von „Big Pink“ nach, jenem legendären Haus, in dessen Keller Bob Dylan und The Band das Fundament für das legten, was als Alternative Country und Americana Einzug in die Musikgeschichte halten sollte.
Ausführlich werden die besonderen Beiträge von The Velvet Underground, Jimi Hendrix und The Beatles zur Musikkultur jener Zeit gewürdigt, die wechselseitige Inspiration zwischen Beach-Boys-Mastermind Brian Wilson und den Beatles, bevor auch die bis dato von der Beat Generation kaum berührte Bundesrepublik auf die Einflüsse aus den USA und London reagierte.
Die künstlich arrangierte Gruppe Monks nimmt laut Hofacker eine Schlüsselstellung ein und wird als Wegbereiter für den Krautrock ebenso wie für den Industrial, Punk und Indie-Rock gepriesen. Das Magical Mystery Year 1967 wird abschließend ausführlich in den kulturhistorischen Kontext gestellt, als Aufbäumen einer ganzen Generation gegen das Establishment, auch wenn ab 1968 die zuvor von dort ausgebrochenen Menschen wieder in die Mitte der Gesellschaft zurückgeführt wurden.
All das beschreibt Hofacker mit fundierten Hintergrundverweisen und geradezu leidenschaftlich in seiner Liebe zur Musik und ihren Schöpfern, wobei jede musikalische Neuerung in ihren gesellschaftspolitischen Kontext gestellt wird, ob es sich um die Pop-Art bei Andy Warhol und seinen Einfluss als Mentor auf die Velvet Underground oder den Bauhaus-Stil auf die deutsche Band Monks handelt.
Viele schöne Fotos und ein ausführliches Literaturverzeichnis runden diesen schmuck gestalteten Hochglanzband wunderbar ab. 
Leseprobe Ernst Hofacker - "1967 - Als Pop unsere Welt für immer veränderte"

Annie Proulx – „Aus hartem Holz“

Mittwoch, 7. Juni 2017

(Luchterhand, 894 S., HC)
Im Jahre 1693 machen sich die beiden Franzosen René Sel und Charles Duquet auf die abenteuerliche Reise nach Neufrankreich, dem heutigen östlichen Kanada, wo sie von einem besseren Leben träumen. Fasziniert von den endlosen Wäldern voller Baumriesen und undurchdringlicher Wildnis, schlagen sie sich als Holzfäller durch. Nach drei Jahren bei ihrem Dienstherrn Claude Trépagny steht ihnen dann eigenes Land zu.
Während Sel sich geduldig abmüht und schließlich mit Mari die indianische Geliebte seines Herrn heiratet, macht sich Duquet frühzeitig aus dem Staub, handelt zunächst mit Pelzen und Fellen, die er den Indianern für gepanschten Rum und Whiskey abgekauft hat und gründet in Boston seine eigene Holzhandlung. Bald unterhält Duke & Sons geschäftliche Beziehungen nach Europa, China und Neuseeland. Während Maris – und teilweise auch Sels - Kinder Elphège, Theotiste, Achille, Noë und Zoë die Tradition der Mi’kmaq fortführen, führen Duquet und seine beiden Brüder das Abholzen der nordamerikanischen Wälder in großem Stil fort …
„Armenius Breitsprecher starrte schweigend ins Feuer. Nicht zum ersten Mal stellte er fest, dass Duke & Sons gierig genug war, um den gesamten Kontinent abzuholzen. Und er half ihnen dabei. Er verabscheute die amerikanische Kahlschlagpolitik, die aberwitzige Verschwendung von gesundem, wertvollem Holz, die Zerstörung des Bodens, die unweigerlich folgende Erosion, die Vernichtung des Lebens in den Wäldern ohne einen Gedanken an die Zukunft.“ (S. 580) 
Bereits mit ihrem ersten Roman „Postkarten“ (1992) erhielt die heute 82-jährige Annie Proulx den renommierten PEN/Faulkner Award, für das von Lasse Halmström erfolgreich verfilmte Nachfolgewerk „Schiffsmeldungen“ sogar den Pulitzer Preis und den National Book Award. Seither ist Proulx aus der nordamerikanischen Literaturszene nicht mehr wegzudenken. Allerdings hat es mehr als zehn Jahre gebraucht, dass sie nach „Mitten in Amerika“ mit „Aus hartem Holz“ einen neuen Roman vorlegt, der es wahrlich in sich hat.
Auf knapp 900 Seiten entwickelt die in Seattle lebende Autorin gleich zwei Familiengeschichten, die sie über drei Jahrhunderte begleitet. Während die Sels auf der einen Seite durch die Heirat auch immer ihre indianischen Wurzeln pflegen und sich der Natur nur zur Befriedigung ihrer eigenen überschaubaren Bedürfnisse bedienen, sehen Charles Duke, seine beiden Brüder und all ihre Nachfahren in dem unerschöpflich erscheinenden Holzvorrat nur eine Gelddruckmaschinerie, über deren Nachhaltigkeit gar nicht nachgedacht werden muss.
Gerade im ersten Drittel des monumentalen Romans gelingt es Proulx, die besondere Aufbruchstimmung einzufangen, die die beiden Franzosen in die neue Welt mitbringen. Das Figurenensemble bleibt noch überschaubar, wird aber durch die zahlreichen Kinder, Adoptionen und Kindeskinder zunehmend komplexer und verwirrender. Das Leben der Siedler, Holzfäller, indianischen Ureinwohner und Händler beschreibt die Autorin absolut realistisch, doch erhebt sie schnell und wiederkehrend den moralischen Zeigefinger, weist dezidiert auf den fortschreitenden Raubbau und die gnadenlosen Umweltsünden hin, die sich allein aus der Gesinnung des Duke-Clans und seiner Handlungen erschließen.
Zum Ende hin scheint Proulx dann doch etwas die Luft auszugehen, nachdem schon in den vorangegangenen Hunderten von Seiten eigentlich schon alles gesagt worden ist und die Fasern der Sel- und Duke-Stammbäume kaum noch nachzuvollziehen sind. So wirkt „Aus hartem Holz“ gleichermaßen wie ein Familien- und Entwicklungsroman, wie die Dokumentation einer grausamen Umweltzerstörung, aber er zeigt auch ganz schnörkellos das Leiden und Sterben armer wie reicher Menschen, Überlebens- und Gewinnmaximierungsstrategien und schließlich den verzweifelten Kampf von Umweltschützern. Über weite Strecken ist der Roman sehr lesenswert, dann aber auch über die Maßen belehrend und langatmig.
Leseprobe Annie Proulx - "Aus hartem Holz"

„Lexikon des internationalen Films 2016“

Samstag, 3. Juni 2017

(Schüren, 544 S., Pb.)
Obwohl der Großteil der Filminteressierten die für ihn relevanten Informationen aus den Weiten des World Wide Web bezieht, ist das von der Zeitschrift „Filmdienst“ und der Katholischen Filmkommission für Deutschland herausgegebene „Lexikon des internationalen Films“ zum Glück nach wie vor eines der wenigen, zudem sehr verlässlichen Informationsquelle geblieben, zumal das einzige, das noch in Printform vorliegt.
Das liegt nicht nur an dem umfassenden Rückblick auf das vergangene Filmjahr, an der Auflistung aller Filme, die in einem Jahr im Kino angelaufen und für das Heimkino (TV, DVD, Blu-ray) verfügbar gemacht worden sind (jeweils mit den relevanten Angaben zum Stab, kurzer Inhaltsangabe und Kurzkritik), sondern auch an dem informativen Mehrwert, den das redaktionell sorgfältig aufbereitete Rahmenprogramm bereitstellt.
Das besteht in der neuen Ausgabe zunächst mit dem Hinweis darauf, dass angesichts des eingangs erwähnten Nutzerverhaltens die Zeitschrift „Filmdienst“, auf deren Arbeit das „Lexikon des internationalen Films“ beruht, ab 2018 ihre Angebote nur noch online präsentieren wird, und in einem nach Monaten gegliederten Jahresrückblick, in dem nicht nur den vielen 2016 verstorbenen Filmschaffenden wie Alan Rickman, Jacques Rivette, Götz George, Bud Spencer, Garry Marshall, Andrzej Wajda und Manfred Krug gedacht wird, sondern auch ausgesuchte deutsche Filmemacherinnen, internationale Filmfestivals und besondere Filme vorgestellt werden. Es folgt die persönliche und ausführlich kommentierte Bestenliste von zehn Filmen, die die „Filmdienst“-Redakteure für das Jahr 2016 zusammengestellt hat, sowie – besonders lesenswert – ein Redaktions-Special zum Thema „TV-Serien“.
Hier wird in verschiedenen Essays z.B. darüber referiert, was heutzutage die Faszination von Serien ausmacht, wie Filmklassiker zu Serien verarbeitet werden und wie sich die Serie „Mad Men“ zu einem stilbildenden Kunstwerk entwickelte. Dazu werden 40 ausgesuchte Serien (u.a. „True Detective“, „Penny Dreadful“, „Hannibal“, „Better Call Saul“ und die drei Marvel-Serien „Daredevil“, „Jessica Jones“ und „Luke Cage“) ausführlich präsentiert.
„Offenbar wächst mit dem Gewitter der Facebook-Posts, Tweeds und YouTube-Videoschnipsel auch das Bedürfnis, sich aus eben diesem Gewitter auch einmal zurückzuziehen und sich in eine fiktive Welt zu vertiefen, die sich wie ein neuer Kontinent vor einem ausbreitet.“ (S. 58)
Schließlich ermöglicht die Struktur von Serien eine Erweiterung der Perspektiven, mit denen ein Thema oder Milieu beleuchtet werden kann, und die Freiheit zu Experimenten bei Stil und Inhalt, womit das Spielfilmformat oft nicht mithalten kann.
Nach dem lexikalischen Hauptteil werden aus dem Jahr 2016 noch herausragende Silberlinge, internationale Filmfestivals mit den Gewinnerfilmen und Register mit den Regisseuren und Originaltiteln bereitgestellt, so dass dem Filmfan nicht nur eine alphabetische Auflistung aller 2016 – immerhin gut 2000 - veröffentlichten Filme geboten wird, sondern auch ausgesuchte Essays, Infoblöcke, Biografien und Kritiken, die zur weiteren Auseinandersetzung mit Themen, Filmen und Serien anregen.