David Lagercrantz (nach Stieg Larsson) – (Millennium: 5) „Verfolgung“

Montag, 16. Oktober 2017

(Heyne, 480 S, HC)
Nachdem Lisbeth Salander sich in das Drama um die Ermordung eines Professors eingemischt, daraufhin einen achtjährigen autistischen Jungen bei sich versteckt und schließlich die Zusammenarbeit mit der Polizei verweigert hatte, wurde sie zu zwei Monaten Haft im Gefängnis von Flodberga verurteilt. Dort hat selbst der Leiter des Sicherheitstrakts, Alvar Olsen, Angst vor der herrischen Gefangenen Benito Andersson, die es mit ihrer Gang vor allem auf die junge Muslimin Faria Kazi abgesehen hat. Doch erst als Benito ihrem Opfer lebensbedrohlich nahekommt, greift Lisbeth ein und weist die skrupellose Benito ebenso brutal in die Schranken.
Durch diesen Zwischenfall gelingt es ihr, an den Computer des eingeschüchterten Olsen zu kommen und Nachforschungen in eigener Sache zu betreiben: Bei einem seiner seltenen Besuche im Krankenhaus hat Lisbeths alter Mentor, der mittlerweile schwerkranke Holger Palmgren, Unterlagen erwähnt, die darauf hindeuten, dass Lisbeth in ihrer Kindheit Opfer des Missbrauchs durch die Behörden geworden ist.
Zusammen mit Mikael Blomkvist, der durch seine Story über die Verbindung der NSA-Führungsebene mit dem organisierten Verbrechen in Russland die „Millennium“-Zeitschrift wieder populär gemacht hat, versucht sie herauszufinden, welche Verbindung zwischen ihr und dem erfolgreichen Finanzanalysten Leo Mannheimer besteht. Das geplante freie Wochenende vor dem Druck der neuen „Millennium“-Ausgabe fällt für Blomkvist also aus, doch zwischen seinen nur langsam vorankommenden Nachforschungen findet er immerhin noch Zeit, sich mit seiner alten Geliebten Malin Frode zu treffen, die ebenso wie Mannheimer bei der Investmentgesellschaft von Alfred Ögren gearbeitet hatte und nun Pressesprecherin im Außenministerium ist.
„Er war hin- und hergerissen und wusste nicht, was er als Nächstes tun sollte. Lisbeth eine verschlüsselte Nachricht schicken? Ihr berichten, worauf er gestoßen war? Leo Mannheimer konfrontieren, um herauszufinden, ob er auf der richtigen Spur war?
Er trank noch einen Espresso und fühlte plötzlich, wie sehr er Malin vermisste. Wie eine Naturgewalt war sie in null Komma nichts in sein Leben gewirbelt.“ (S. 265) 
Mit seiner auch sehr erfolgreich verfilmten, posthum ab 2005 veröffentlichten „Millennium“-Trilogie hat der schwedische, 2004 an einem Herzinfarkt verstorbene Schriftsteller Stieg Larsson die skandinavische Krimi-Szene ordentlich aufgemischt. Dass von den immerhin zehn geplanten Bänden letztlich nur ein knappes Drittel erscheinen konnte, nahm sich David Lagercrantz der Herausforderung an, die „Millennium“-Reihe fortzusetzen. Zwar konnte der 2015 veröffentlichte vierte Band „Verschwörung“ kaum an das Niveau von Larssons packenden Erzählungen heranreichen, aber doch die dem Publikum ans Herz gewachsenen Figuren von Lisbeth Salander und Mikael Blomkvist mit glaubwürdigem Leben erfüllen.
Im nunmehr fünften Band „Verfolgung“ verknüpft Lagercrantz wieder verschiedene Erzählstränge. Es geht um eine Jagdgesellschaft bei Alfred Ögren, bei der der Psychologe Carl Seger ums Leben gekommen ist, um die Trennung von eineiigen Zwillingen, die zu Forschungszwecken bei gänzlich verschiedenen Adoptiveltern aufwuchsen, um die Qualen, die Faria Kazi in ihrer Familie erleiden musste, weil sie sich mit einem Jungen verabredet hatte, und natürlich um Lisbeths Kindheit, deren Geheimnis nun aufgeklärt wird.
Zwar springt der Autor mit Rückblicken immer mal wieder anderthalb Jahre zurück und schlägt überhaupt recht viele Haken in seinem vielschichtigen Plot, doch bleibt die Spannung dabei stets auf einem hohen Niveau. Leider bleiben bei so vielen Erzählsträngen die Figuren etwas blass. Sowohl Lisbeth Salander als auch Mikael Blomkvist sind immer irgendwie beschäftigt, ihre emotionalen Tiefen werden dabei kaum ausgelotet. Dennoch bietet „Verfolgung“ packenden Thrill, der das „Millennium“-Erbe durchaus würdig fortführt. 
Leseprobe David Lagercrantz - "Verfolgung"

Konstantin Sacher – „Und erlöse mich“

Samstag, 14. Oktober 2017

(Tempo, 233 S., HC)
Ein junger Ich-Erzähler, der anonym bleiben und deshalb auch nicht preisgeben will, wo er lebt, wendet sich hilfesuchend an seine Leser. Antworten wünscht er sich von ihnen, vor allem auf die Fragen: „Was soll ich von mir halten? Bin ich so sehr Egoist, dass ich nur noch mich selbst sehe?“ Um dies beurteilen zu können, berichtet der Autor von den letzten zwei Jahren seines Lebens, von seiner großen Liebe Sarah, aber auch von den Beziehungen davor und danach, wie er nach der gescheiterten Beziehung mit Sarah, die später bei einem Wohnungsbrand umgekommen ist, keinen normalen Sex mehr mit Frauen haben konnte, nur in den Po und ohne Kondom – normaler Sex hat ihn nicht mehr genug erregt. Und dann ist da noch die Sache mit der Religion. Noch bevor der Erzähler in die Details seiner ständig wechselnden Sex-Beziehungen geht, thematisiert er seinen christlichen Glauben, der zu einer Grundidee in seinem Leben zählt.
Doch bevor er sich intensiver mit seinem Glauben auseinandersetzt und seine Gedanken diesbezüglich seinen Lesern mitteilt, berichtet der Erzähler von seinem bisherigen Leben, der Kindheit in wohlhabenden Verhältnissen in einer Kleinstadt und seiner Babysitterin Jennifer, die „einen wunderbaren Hintern und tolle, große Brüste“ hatte.
Es folgen Erinnerungen über Ausflüge mit seinen Jungs zu wilden Partys und in den Puff, über One-Night-Stands und verschiedene Sex-Praktiken. Er spürt, dass ihn das wahllose Gerammel seelisch aushöhlt, doch selbst in festen Beziehungen kann er nicht von anderen Frauen ablassen. Um mit sich ins Reine zu kommen, sich selbst zu finden, folgt er dem Aufruf einer Hippie-Kommune auf einer spanischen Insel und besucht auch in der Woche Gottesdienste, freundet sich mit Pater Sebastian an und hilft ihm bei der Betreuung von Obdachlosen. Doch keinen dieser Selbstfindungstrips zieht er bis durch, sein Straucheln und seine Suche führen ihn nur zur nächsten Frau und schließlich doch wieder zum Glauben …
„Die Liebe, die einem genommen wurde, und die eigene Liebe, die ins Leere läuft, sind schlimmer als alles andere. Wenn mir die Liebe entzogen wurde, dann hilft nur noch der Glaube daran, dass sie zurückkommt, und die Hoffnung, dass der Glaube stimmt.
Es bleiben nur Glaube, Hoffnung und Liebe; und die Liebe ist garantiert nicht die größte unter ihnen!“ (S. 211) 
„Und erlöse mich“ ist der Debütroman des bei Frankfurt am Main lebenden evangelischen Theologen Konstantin Sacher und wirkt zunächst wie eine oberflächliche Schilderung wahllos aneinandergereihter sexueller Begegnungen, bei denen kein tiefes Gefühl im Spiel ist, nur fleischliche Lust und ihre Befriedigung. Die schnörkellose Prosa erinnert ein wenig an den Horror-Porn-Stil des US-amerikanischen Schriftsteller Richard Laymon („Der Keller“, „Die Jagd“), nur fehlt bei Sacher sowohl eine dramaturgische Spannung als auch die Möglichkeit zur Identifikation mit dem Erzähler, dem man im wirklichen Leben bestimmt nicht begegnen möchte.
Leider bekommt Sacher zum Ende hin auch nicht die Kurve zu einer überzeugenden Selbstreflexion. Zwar ist dem Erzähler bewusst, wie oberflächlich und moralisch verwerflich sein Verhalten gewesen ist, aber die dann doch etwas abrupt einsetzende und ausschweifende Darlegung seines Glaubens wirkt wie ein konstruierter Bruch und nicht wie die konsequente Folge einer konstruktiven Auseinandersetzung mit seinem bisherigen Lebenswandel.

Joe R. Lansdale – (Hap & Leonard: 9) „Krasse Killer“

Sonntag, 8. Oktober 2017

(Golkonda, 380 S., Pb.)
Einen Großteil ihres Einkommens verdanken Hap Collins und Leonard Pine dem Detektivbüro von Marvin Hanson. Als dieser den Job als Polizeichef annimmt, verkauft er seinen Laden an Haps Lebensgefährtin Brett – mit Hap und Leonard als ihre Vollzeitangestellten. Bei ihrem ersten Auftrag sollen die beiden Freunde für die betagte Dame Lilly Buckner ihre Enkelin Sandy finden, die ihr einst 50.000 Dollar und Wertpapiere aus dem Safe geklaut hatte, Journalismus studierte und vor fünf Jahren spurlos verschwunden ist.
Das Ermittler-Duo sucht das Autohaus Frank’s Unique Used Cars auf, wo offensichtlich nicht nur außergewöhnliche Autos, sondern mit ihnen auch exklusive Models angeboten werden, die mit ihren wohlhabenden Kunden kostspielige Reisen unternehmen, dabei gefilmt und schließlich erpresst werden. Unwillige Kunden werden, so bringen Hap und Leonards Informanten ans Tageslicht, von einem sogenannten Knipser mit einem Draht ums Leben und ihre Eier gebracht.
Doch hinter dem ganzen Unternehmen stecken weit skrupellosere Gangster der Dixie-Mafia, denen bereits das FBI auf den Fersen ist. Mit der Verstärkung von Haps alter Bekannten Vanilla Ride und den furchtlosen Booger und Jim Bob begeben sich Hap und Leonard schließlich in die Höhle des Löwen, um nicht selbst erneut ins Visier des Mobs zu gelangen, der längst eigene Anstrengungen unternommen hat, die hartnäckigen Jungs auszuschalten …
„Auf den Regalen waren auch viele alte, billig gerahmte Fotos aufgestellt. Völlig verstaubt, zeigten sie verschiedene Leute, die sich alle ähnlich sahen. Familienfotos, abwechselnd mit eingelegten Hoden. Schöne Erinnerungen, so richtig heimelig. Ich beugte mich vor und sah mir die Fotos genauer an. Es waren Fotos von aufgebahrten Toten, Männer im Anzug, Frauen im langen weißen Kleid, vielleicht sogar immer der gleiche Anzug, das gleiche Kleid für alle. Das erinnerte mich an viktorianische Fotografien von Toten, damals hatte man den kürzlich Verstorbenen ihre Sonntagsklamotten angezogen und sie so fotografiert.“ (S. 340) 
Als hätten Hap und Leonard mit ihrem zunehmend gefährlicheren Auftrag nicht genug zu tun, wird Hap auch noch mit der Bekanntschaft des jungen Mädchens Chance konfrontiert, das behauptet, Haps Tochter zu sein …
Auch in seinem neunten Band bleibt sich Joe R. Lansdale in seiner erfolgreichen Reihe um den weißen heterosexuellen Kriegsdienstverweigerer Hap und den schwarzen, homosexuellen Vietnamveteran Leonard treu, die mittlerweile auch in einer von den Amazon Studios produzierten Fernsehserie ihr Unwesen treiben dürfen.
In „Krasse Killer“ wird die Vorgeschichte der beiden Buddys nicht weiter thematisiert, aber ihre unterschiedlichen sexuellen Neigungen bieten zwischen den beiden schlagkräftigen Spaßvögeln immer wieder witzigen Gesprächsstoff, ebenso ihr Verhältnis zur Gewaltanwendung. In ihrem neuen Abenteuer haben es Hap & Leonard nicht nur mit der obligatorischen Suche nach einer Vermissten zu tun, sondern sie legen sich zunächst mit einer Biker-Gang und schließlich mit der Dixie-Mafia an, ohne ihrem eigentlichen Ziel wirklich nahezukommen. Diesen Plot inszeniert Lansdale mit so viel Witz, Tempo und Action, dass das Buch nach einer Verfilmung nur so schreit – wenigstens in einer Staffel der dazugehörigen Amazon-Serie.
Vor allem das Finale hat es in sich und bringt dabei auch zutiefst menschliche Regungen zutage. Toll!

Jo Nesbø – (Harry Hole: 11) „Durst“

Freitag, 6. Oktober 2017

(Ullstein, 624 S., HC/eBook)
Um mehr Zeit für seine Familie zu haben, hat sich Spezialfahnder Harry Hole aus dem aktiven Dienst zurückgezogen und einen Job als Dozent an der Polizeihochschule Oslo angenommen, wo er als prominenter Spezialist für Serienmorde den Polizeinachwuchs in seinen Vorlesungen und Seminaren an die Ermittlungsarbeit heranführt. Doch dann wird Holes Jagdinstinkt geweckt, als er von den Vampiristenmorden erfährt, die schnell die nationalen, dann auch internationalen Schlagzeilen bestimmen.
Der Täter scheint seine weiblichen Opfer über die Dating-Plattform Tinder kennenzulernen und sie mit Hilfe eines Metallgebisses nicht nur tödlich zu verletzen, sondern auch ihr Blut zu trinken. Unter den Opfern befindet sich auch die Kellnerin Marte Ruud aus Harry Holes Stammkneipe.
Da Polizeichef Mikael Bellman kurz davor steht, Justizminister zu werden, will er den Fall schnell gelöst haben und lässt er eine Sondereinheit gründen, die unter Leitung von Harry Hole parallel zu der Truppe von Kriminalkommissarin Katrine Bratt ermitteln soll. Vor allem der in Akademikerkreisen belächelte Vampiristen-Experte Hallstein Smith entwickelt sich zu einer großen Hilfe bei der Jagd auf den Killer, dessen Vorgehen Hole an Valentin Gjertsen erinnert, der vor vier Jahren auf spektakuläre Weise aus dem Gefängnis ausgebrochen war und sich diversen plastischen Operationen unterzogen hatte, weshalb er bis heute untertauchen konnte.
„‚Ich glaube nicht, dass es nicht Valentin Gjertsen ist. Obwohl mir dieser Gedanke tatsächlich auch schon gekommen ist. Ein Mörder begeht zwei Morde, ohne auch nur eine Spur zu hinterlassen. Das erfordert Planung und einen kühlen Kopf. Und dann überfällt er plötzlich jemanden und verteilt wie nichts Spuren und Beweise? Das ist auffällig, als legte der Betreffende es darauf an, seine Identität preiszugeben. Und das weckt dann natürlich den Verdacht, dass uns da jemand manipulieren und auf eine falsche Fährte führen will.‘“ (Pos. 3557) 
Auch in dem elften Band seiner populären Reihe um den charismatischen Spezialermittler Harry Hole gelingt es dem norwegischen Bestseller-Autor Jo Nesbø, den Leser von Beginn an mit einem faszinierenden Fall zu fesseln, der mit ungewöhnlicher Prämisse ausgestattet ist. Durch den Vampiristen-Experten Hallstein Smith erhalten wir einen kurzen Abriss über die Vampir-Mythologie und die psychische Disposition von Vampiristen, darüber hinaus bekommen wir Einblicke in das komplexe Beziehungsgeflecht, in das Hole mit seiner Frau Rakel, ihrem Sohn Oleg, der nun auch an der Polizeihochschule studiert, und seiner Kollegin Katrine Bratt vertrickt ist, die sich gerade von ihrem Kollegen, den Kriminaltechniker Bjørn Holm, getrennt hat.
Die Ermittlungen nehmen mit jedem weiteren Mord an Fahrt auf. Dabei verdichten sich die Hinweise, dass die Polizei und die Sondereinheit an der Nase herumgeführt werden. Zum Ende hin schlägt der Plot einige schon irrwitzig anmutende Kapriolen, die sicher für dramaturgische Spannung sorgen, aber auch zu konstruiert wirken, um wirklich überzeugen zu können.
Was „Durst“ neben dem an sich interessanten Thema besonders auszeichnet, sind eher die persönlichen Aspekte, die allerdings oft nur angerissen werden, aber im Vergleich zu anderen Reihen im Thriller-Genre sind Nesbøs Figuren gut gezeichnet und verleihen dem Werk eine angenehme psychologische Tiefe.
Leseprobe Jo Nesbø - "Durst"

Andrea De Carlo – „Ein fast perfektes Wunder“

Sonntag, 1. Oktober 2017

(Diogenes, 400 S., HC)
Als ein Blackout, der den öffentlichen Verkehr, die Telekommunikation, Sicherheitssysteme und Computernetzwerke und die Stromversorgung im gesamten Stadtgebiet von Fayence in der Provence-Alpes-Côte d‘Azur lahmlegt, droht Milena Migliari auf ihren Eiskreationen sitzenzubleiben. Nachdem sie eher vergeblich versucht hat, das Eis an Passanten zu verschenken, kommt ihr der unerwartete Auftrag mehr als gelegen, zehn Kilo mit all ihren Eissorten nach Callian zu bringen. Dort versucht der Rockmusiker Nick Cruickshank, sich mit seiner Band Bebonkers auf ein Benefiz-Konzert im Aerodrom und seine Hochzeit mit der Anti-Leder-Designerin Aileen vorzubereiten, begleitet von Journalisten, einem Kameramann und einem Fotografen des „Star Life“-Magazins.
Als er von Milenas Eis kostet, ist er hin und weg, wenig später sucht der Bebonkers-Frontmann, der auf zwei gescheiterte Ehen und fünf Kinder zurückblickt, Milena in ihrer Eisdiele „La Merveille Imparfaite“.
Was in den wenigen Momenten der kurzen Begegnungen auf Nicks Anwesen in Les Vieux Oliviers und in Milenas Eisdiele mit ihnen geschieht, ist beiden Beteiligten ein Rätsel. Schließlich bereitet sich Milena mit ihrer Lebensgefährtin Viviane gerade auf die künstliche Befruchtung vor, doch ein Baby auszutragen kommt Milena momentan wenig erstrebenswert vor. Auch Nick ist sich im Unklaren über die Beziehung mit der selbstbewussten Aileen, die alles, was mit der Band zu tun hat, im Griff zu haben scheint. Überrascht von der merkwürdig intensiven Anziehung, die Milena und Nick füreinander empfinden, lassen sie sich auf etwas ein, das ihnen ebenso fremd wie selbstverständlich, aufregend und vertraut erscheint.
„Was war dieser Kuss? Ein Fluchtversuch? Ein Überrumpelungsversuch? Eine Verzweiflungstat? Er war jedenfalls etwas absolut Unerwartetes: Ihm schien, als erkenne er sie von wer weiß welchem Punkt in Zeit und Raum und erkenne auch sich selbst oder einen Teil von sich, den er verloren hatte. Oder längst nicht mehr suchte.“ (S. 304) 
Andrea De Carlo („Zwei von zwei“, „Creamtrain“) bringt in seinem neuen Roman „Ein fast perfektes Wunder“ zwei außergewöhnlich kreative Menschen zusammen, die jeder für sich in ihrem ganz eigenen Kosmos leben - Nick in der schimmernd-glitzernden Welt der Rockmusik, die ihm nicht nur viel Geld, sondern auch die Anbetung durch unzählige Fans beschert hat; Milena in ihrer Eisdiele, die sie nach ihrer Flucht vor enttäuschten Liebesbeziehungen aus Italien in die französische Provinz gegründet hat, wo sie so außergewöhnliche Eissorten wie Kaki und Brustbeere kreiert.
Minutiös schildert er abwechselnd aus Nicks und Milenas Perspektive, wie sie mit ihrem Alltag, ihren Mitmenschen und Herausforderungen umgehen, wie das Zusammentreffen zwischen ihnen etliche Fragen darüber aufwirft, ob die gegenwärtigen Lebens- und Liebesumstände so aufrechterhalten sollten.
Sprachlich präsentiert sich De Carlo einmal mehr als großer Fabulierkünstler, vor allem in der Beschreibung der Geschmacksempfindungen bei der Verkostung von Milenas Eis, aber auch in der Kartierung der Gefühlswelten und der Fragestellungen, die die Beziehung zwischen Nick und Milena begleiten. So manch ein Leser wird sich mit Freuden oder Stirnrunzeln selbst und sein (Gefühls-) Leben hinterfragen wollen. Ein größeres Lob kann man einem Autor kaum zollen. 
Leseprobe Andrea De Carlo - "Ein fast perfektes Wunder"

Stephen King – „Es“

Samstag, 30. September 2017

(Heyne, 860 S., Jumbo)
Im Herbst 1957 wurde der sechsjährige George Denbrough tot, mit ausgerissenem Arm, an einem Gully aufgefunden. Sein bettlägeriger älterer Bruder William hatte ihm zuvor ein Boot aus Papier gebastelt und mit ihm zusammen wasserdicht gemacht. Mit diesem Boot machte sich Georgie im Regenmantel auf den Weg, das mit Paraffin bestrichene Papierschiffchen an der Kante zwischen Straße und Bürgersteig im Strom dahinschwimmen zu lassen, der sich durch vier Tage wolkenbruchartigen Regen entwickelt hat. 27 Jahre später kommt Adrian Mellon unter ähnlichen Umständen ums Leben. Zeugen meinten einen Clown unter der Brücke am Tatort gesehen zu haben, der wie eine Mischung aus Ronald McDonald und dem Fernsehclown Bozo wirkte.
Mike Hanlon, Bibliothekar in Derry, ahnt, dass „Es“ zurückgekommen ist, eine unheimliche Macht, der seine Freunde Bill Benbrough, Stanley Uris, Richard Tozier, Eddie Kaspbrak und Beverly Marsh damals nur dadurch in die Flucht schlagen konnten, weil sie als Freunde zusammengehalten haben. Während alle außer Mike als Erwachsene Derry verlassen haben, um erfolgreicher Komiker (Richie), Schriftsteller (Bill), Architekt (Ben), Modedesignerin (Bev) oder Prominenten-Chauffeur (Eddie) zu werden, hat Mike eine Chronik über die Welle von Gewaltverbrechen erstellt, die in regelmäßigen 27-Jahres-Zyklen Derry heimsuchen – und zwar seit nachweisbar sehr langer Zeit. Als Mike und seine Freunde damals „Es“ besiegt, aber nicht getötet hatten, schworen sie sich, wieder zusammenzukommen, sollte „Es“ zurückkehren.
Mike ruft seine alten Freunde an, die mit Ausnahme von Stan tatsächlich ihre Verpflichtungen liegen lassen und nach Derry kommen, um ihr Versprechen einzulösen. Schnell zeigt sich, dass Mike mit seiner Befürchtung recht gehabt hat: „Es“ hat nach wie vor allerlei Tricks auf Lager, seine Gegner mit ihren ureigensten Ängsten zu konfrontieren …
„Er wusste es nicht, aber er glaubte – ebenso wie er glaubte, dass alle Morde auf ein und dasselbe Konto gingen -, dass Derry sich tatsächlich verändert hatte, und dass diese Veränderung mit dem Tod seines Bruders begonnen hatte. Die Schreckensvisionen in seinem Kopf hatten ihren Ursprung in seiner tief verborgenen Überzeugung, dass in Derry jetzt alles Mögliche passieren konnte. Alles.“ (S. 168) 
Im Jahr seines 70. Geburtstages erlebt Stephen King eine bemerkenswerte Renaissance seiner Werke. Der „King of Horror“ schreibt nicht nur unermüdlich weiter, sondern durfte auch verfolgen, dass in diesem Jahr nach „The Dark Tower“ auch sein bereits 1990 durch Tommy Lee Wallace verfilmtes Epos „Es“ erneut eine filmische Adaption erfahren hat, diesmal für die große Leinwand und weitaus gruseliger als der frühere Fernseh-Zweiteiler.
Als Stephen King 1986 „Es“ veröffentlichte, konnte er bereits mit u.a. „Carrie“, „Shining“, „The Stand“, „Friedhof der Kuscheltiere“ und „Der Talisman“ (zusammen mit Peter Straub) auf etliche Bestseller zurückblicken. Aber erst mit „Es“ schuf Stephen King eine über mehrere Zeitebenen perfekt ausbalancierte Geschichte, die vor allem durch die sehr sorgfältige Zeichnung der sympathischen Figuren brilliert, die King jeweils mit sehr ausführlichem Hintergrund ausgestattet hat.
Geschickt verleiht er dem Grauen in Derry durch einen verführerischen Clown Gestalt und macht für die Kinder das Leben in der an sich idyllischen Kleinstadt zum Alptraum, zu dem nicht zuletzt der bösartige Henry Bowers mit seiner Clique mit ihren durchaus brutalen Gemeinheiten beitragen. Stück für Stück enthüllt Stephen King vor allem durch seinen Chronisten Mike Hanlon die Geschichte des Bösen in Derry, das es auf überdurchschnittlich viele Kinder abgesehen hat. Obwohl King selbst innerhalb eines Satzes von Kapitel zu Kapitel zwischen den Zeiten springt, hält er die Spannung immer aufrecht. Das gelingt ihm vor allem durch die minutiös geschilderten Biografien der „Club der Verlierer“-Mitglieder mit ihren ganz individuellen Geschichten, psychischen Dispositionen, Träumen und Ängsten, mit ihren persönlichen Beziehungen, Berufen und Problemen, so dass der Leser sich mitten im Geschehen erlebt und zusammen mit den Figuren zwischen den 1950er und 1980er Jahre hin- und herspringt.
Wenn zum Ende hin deutlich wird, wie es den Kindern damals gelang, „Es“ zu besiegen, wirkt das Vorgehen nicht gerade nachvollziehbar, aber King erweist sich als dermaßen souveräner und mitreißender Erzähler, dass der Spruch, dass ungewöhnliche Situationen ungewöhnliche Maßnahmen erfordern, in dieser Hinsicht auch auf „Es“ zutrifft.
Als ich den Roman 1986 – nach meinem Abitur - zum ersten Mal gelesen hatte, war ich so gefesselt, dass ich fortan – und bis heute – ein großer Fan von Stephen King wurde, der zugleich meine Lust zunächst an der Schauerliteratur und so am Lesen im Allgemeinen geweckt hat, womit ich ihm mehr als nur dankbar bin. Dreißig Jahre später hat das Horror-Epos für mich nichts an seiner Faszination eingebüßt, die auf die permanent gruselige Atmosphäre und die geschickte Dramaturgie zurückzuführen ist, wie sie nur Stephen King zu inszenieren vermag. 
Leseprobe Stephen King - "Es"

Ned Beauman – „Glow“

Dienstag, 26. September 2017

(Tempo, 320 S., Pb.)
Raf ist gerade dabei, sich bei einem illegalen Rave in einem Waschsalon ein Achtelgramm einer undefinierten Mischung aus Speed, Glutamat und einem noch nicht zugelassenen Medikament gegen soziale Phobie bei Hunden reinzuziehen, als er sich Hals über Kopf in Cherish verliebt, Tochter einer Burmesin und eines amerikanischen Ingenieurs, der für den international agierenden Minenkonzern Lacebark arbeitet. Wenn Raf sich nicht gerade auf irgendwelchen Raves herumtreibt und experimentelle Drogenmixturen ausprobiert, behütet er einen Staffordshire Bullterrier, der auf dem Dach eines achtzehnstöckigen Wohnhauses den Piratensender Myth FM bewacht.
Als nicht nur immer mehr Burmesen scheinbar spurlos verschwinden, sondern Raf auch beobachtet, wie mit Theo der Chef des Radiosenders durch einen geräuschlos fahrenden weißen Lieferwagen entführt wird, kommt Raf, der unter einer seltenen Schlaf-Wach-Rhythmusstörung leidet, die seinen Tag 25 Stunden dauern lässt, einer komplexen Verschwörung auf die Spur, in der auch Cherish und der Chemiker Win unklare Rollen einnehmen. Dabei geht es vor allem um die neue Droge Glow, bei deren Herstellung interessanterweise Füchse eine besondere Rolle spielen …
„Jetzt sind die Leute von Lacebark im Londoner Süden, sie infiltrieren die Stadt, sie verändern sie und verbreiten einen Nebel der Angst in den Straßen, die ihm einmal so viel bedeutet haben. Als seine Freundin ihn verlassen hatte, wurde hier für einige Zeit alles zu Scheiße, und er konnte nur dasitzen und leiden. Sieben Wochen später wird wieder alles zu Scheiße, aber diesmal kann Raf etwas dagegen unternehmen.“ (S. 152) 
Der britische Autor Ned Beauman hat nach seinem Studium in Cambridge für Zeitungen und Magazine wie „The Guardian“ und „The Daily Telegraph“ geschrieben, seit 2010 („Der Boxer“) ist er auch als Schriftsteller zu einer anerkannten Größe der europäischen Literaturszene herangewachsen und wurde für seinen zweiten Roman sogar für den Man-Booker-Prize nominiert.
Mit „Glow“, 2014 bereits als Hardcover bei Hoffmann und Campe erschienen, entführt Beauman seine Leser auf eine atemberaubende Odyssee, in der das waghalsige Erzähltempo durch exzessiven Drogenkonsum, wilde Rave-Partys und das Verschwinden von immer mehr Burmesen im Londoner Süden bestimmt wird. Rezepte gibt es dabei nicht nur für Drogencocktails, sondern auch für asiatische Gerichte, und Raf wird ebenso wie der Leser Zeuge des unerbittlichen Kampfes internationaler Großkonzerne (hier in Gestalt von Lacebark) gegen alternative Lebensformen (wie sie im Rave, Drogenkonsum und Piratensendern zum Ausdruck kommen).
So stellt sich „Glow“ einerseits als origineller Krimi dar, der durch sein irres Tempo und die mal verschnörkelt-verschachtelte, dann wieder wunderbar klare Sprache charakterisiert wird, andererseits aber als unorthodoxe Globalisierungskritik, die durch ihre ungewöhnlichen Auswüchse sehr zum Unterhaltungswert des Romans beiträgt.
Das ist bei der Lust des Autors an sprachlichen Kapriolen und dem vertrackten Plot nicht immer ein einfaches, aber bis zum Ende hin doch ein lohnendes Lesevergnügen.