John Williams – „Nichts als die Nacht“

Montag, 23. Oktober 2017

(dtv, 157 S., HC)
Da der 24-jährige Arthur Maxley wöchentlich einen Scheck von dem Anwalt seines Vaters bekommt, kann er sich in San Francisco ganz dem Müßiggang und den Partys widmen. Statt sich auf das Studium zu konzentrieren, trinkt der junge Mann abends regelmäßig einen über den Durst. Der überraschende Besuch seines Vaters in der Stadt wühlt allerdings alte Wunden auf. Vor drei Jahren besuchte Arthur noch das College in Boston, bis ein tragischer Vorfall in der Familie den Vater durch die Welt, nach Australien und Südamerika ziehen ließ, nächste Station Bombay. Die Zeit bis zur Abreise will er gern nutzen, um das unterkühlte Verhältnis zu seinem Sohn zu verbessern, indem er beispielsweise seine Kontakte nutzen könnte, um Arthur einen Studienplatz zu verschaffen. Doch Arthur vermag sich aus seiner Lethargie nicht zu lösen, und als er die junge weibliche Begleitung seines Vaters kennenlernt, ist jeder weitere Versuch einer Annäherung endgültig zum Scheitern verurteilt.
Stattdessen zieht der junge Mann weiter ziellos durch die Straßen und Bars, muss einen Kommilitonen in die Schranken weisen, der den solventen Arthur um ein Darlehen anbettelt, lernt eine junge Frau kennen, für die er zunächst eine tiefe Zuneigung entwickelt, doch dann brechen die Erinnerungen an seine Mutter überraschend an die Oberfläche seines Bewusstseins und führen zu einem erschütternden Gewaltexzess.
„Warum war er an diesen Ort gekommen? Dies war keine Zuflucht, und er hatte das auch geahnt. Welch sinnloser Umstand hatte ihn weiter und weiter geführt, tiefer und immer tiefer hinein in etwas, das ihm nun wie ein verschlungenes Labyrinth vorkam, das frei von jeglicher Ordnung und Bedeutung schien?
Dann aber glaubte er plötzlich, dass ihm nie ein Vorwurf für das gemacht werden konnte, was immer ihm auch im Laufe seines Lebens widerfuhr.“ (S. 90) 
Nicht mal einen Tag im Leben von Arthur Maxley, des Protagonisten in John Williams‘ Schriftsteller-Debüt aus dem Jahre 1948, deckt die Geschichte in „Nichts als die Nacht“ ab, aber die kurze Zeitspanne aus dem Leben des jungen Tunichtguts reicht vollkommen aus, die Tragödie abzubilden, die vor drei Jahren ihren Lauf nahm, die Maxley-Familie brutal auseinanderreißen sollte und den Sohn traumatisiert und ohne Ambitionen im Leben zurückließ.
Was damals genau geschah, erfährt der Leser erst zum Ende der verstörenden Novelle – bis dahin muss er sich mit einer aus Andeutungen und Erinnerungsfetzen gespeisten Ahnung begnügen und dem ziellosen Treiben des Maxley-Jungen folgen, das sich auf Spaziergänge, Partys, Alkoholexzesse und Nachtclubs zu beschränken scheint. Dass „Nichts als die Nacht“ wie ein von Edgar Allan Poe, Nathaniel Hawthorne und Ambrose Bierce inspirierte Schauergeschichte wirkt und an die Existentialisten Albert Camus und Jean-Paul Sartre denken lässt, ist vor allem der düsteren Entstehungsgeschichte geschuldet.
Williams trat Anfang der 1940er Jahre dem Army Air Corps bei und schrieb das Stück, als er mit Anfang 20 nach einem Flugzeugabsturz schwer verletzt wochenlang im burmesischen Dschungel festsaß. Da kann es kaum verwundern, dass die Erzählung von Einsamkeit, Verlust, Paranoia und Gewalt geprägt ist, von Orientierungs- und Ziellosigkeit, von Traumata und Delirien.
Für einen jungen Debütanten ist die Geschichte zunächst nur oberflächlich interessant, schließlich bieten die Reflexionen eines gelangweilten jungen Müßiggängers wenig Neues. Doch wie in sehr kurzer Zeit die gesellschaftlichen Konventionen durch Arthur Maxley aufgebrochen werden und er in einen bizarrer werdenden Strudel aus Gewalt gerät, ist sprachlich sehr ausdrucksstark inszeniert worden und vermag auch gut siebzig Jahre nach der Entstehung durch seine unmittelbare Intensität zu fesseln.
In seinen späteren Meisterwerken „Stoner“ und „Butcher’s Crossing“ verfeinerte Williams seine Erzählkunst, doch als Dokument seiner frühen schriftstellerischen Begabung und Berufung ist „Nichts als die Nacht“ von unschätzbarem Wert.
 Leseprobe John Williams - "Nichts als die Nacht"

Irvine Welsh – „Kurzer Abstecher“

Freitag, 20. Oktober 2017

(Heyne, 272 S., Pb.)
Jim Francis hat sich in Kalifornien mit seiner Frau, der Kunsttherapeutin Melanie, und den beiden gemeinsamen Töchtern Grace und Eve als erfolgreicher Künstler ein komfortables Leben eingerichtet. Als er einen Anruf seiner Schwester Elspeth erhält, die ihn zur Beerdigung seines – aus der Beziehung mit June stammenden - Sohnes Sean einlädt, wird er mit einem Mal an seine weniger ruhmreiche Vergangenheit erinnert, als er unter seinem bürgerlichen Namen Francis James Begbie in Edinburghs Viertel Leith mit seinen Kumpels auf die schiefe Bahn geraten war und er für einige Jahre in den Bau wanderte.
Da Sean Opfer eines Gewaltverbrechens wurde, macht sich Francis in seiner alten Heimat auf die Suche nach dem Täter und bekommt von David „Tyrone“ Power den Namen des Gangsters Anton Miller zugeflüstert, mit dem sich Sean eingelassen haben soll.
Gegen jeden gutgemeinten Ratschlag setzt Francis sein bürgerliches Leben aufs Spiel und räumt in den Straßen und an der Werft ordentlich auf.
„Frank Begbie betritt vertrautes Terrain. Es ist die Sorte von Dominanz, die er immer schon besonders verführerisch fand. Das erhebende Gefühl, anderen harten Kerlen ihre Macht und ihr Selbstvertrauen zu rauben. Tief in seinem Inneren flammt erwartungsvolle Begeisterung auf. Doch es ist wichtig, sich diesem Gefühl nicht hinzugeben. Nicht seine Stimme zu erheben.“ (S. 142) 
Seit seinem internationalen Durchbruch mit dem Debütroman „Trainspotting“ ist der schottische Schriftsteller Irvine Welsh immer wieder zu seinen Helden Mark Renton, Francis Begbie, Sick Boy und Spud zurückgekehrt, hat die Geschichte in „Porno“ weitergeschrieben und in „Skagboys“ die Vorgeschichte erzählt. „Kurzer Abstecher“ stellt dagegen eine Art Spin-Off dar, konzentriert sich als ungewöhnlich kurzer Roman ganz auf die Figur von Francis Begbie/Jim Francis und seine scheinbare Verwandlung eines Soziopathen zum geläuterten Künstler.
Im Gegensatz zu früheren Werken verzichtet Welsh hier auf detaillierte Milieubeschreibungen, stellt aber durchaus immer wieder die beiden konträren Welten, in denen sich Francis bewegt, gegenüber. Welsh inszeniert mit „Kurze Abstecher“ eine rasante One-Man-Show, in der Francis von Beginn an mit seinen gewalttätigen Trieben zu kämpfen hat. Noch bevor er den besagten Anruf aus Schottland bekommt, macht er mit den beiden Kerlen, die Melanie und die Kinder am Strand belästigen, kurzen Prozess – ohne dass seine Familie etwas davon mitbekommt. In Schottland muss er weniger rücksichtsvoll agieren. In psychologischer Hinsicht ist dabei spannend, wie Francis Begbie immer wieder sich selbst die Frage beantworten muss, ob er durch seinen Rachefeldzug sein Familienglück aufs Spiel setzen will. Die Brutalität, mit der er allerdings zu Werke geht, um alle Gangster auszuschalten, die irgendwie mit dem Mord an Sean zu tun hatten oder Francis in die Enge treiben wollen, spricht eine eindeutige Sprache. Welsh macht es wie seinem Protagonisten mächtig Spaß, die gerechtfertigt erscheinende Brutalität auszukosten, mit der Francis seine Widersacher ausschaltet.
„Kurzer Abstecher“ bietet kurzweiligen Action-Thrill, der immer wieder von Welshs typisch schottischen Humor durchdrungen ist, der in den spritzigen Dialogen zum Ausdruck kommt.
Bei so viel Tempo kommt der Leser gar nicht dazu, Begbies frühere Weggefährten zu vermissen.
Leseprobe Irvine Welsh - "Kurzer Abstecher"

David Lagercrantz (nach Stieg Larsson) – (Millennium: 5) „Verfolgung“

Montag, 16. Oktober 2017

(Heyne, 480 S, HC)
Nachdem Lisbeth Salander sich in das Drama um die Ermordung eines Professors eingemischt, daraufhin einen achtjährigen autistischen Jungen bei sich versteckt und schließlich die Zusammenarbeit mit der Polizei verweigert hatte, wurde sie zu zwei Monaten Haft im Gefängnis von Flodberga verurteilt. Dort hat selbst der Leiter des Sicherheitstrakts, Alvar Olsen, Angst vor der herrischen Gefangenen Benito Andersson, die es mit ihrer Gang vor allem auf die junge Muslimin Faria Kazi abgesehen hat. Doch erst als Benito ihrem Opfer lebensbedrohlich nahekommt, greift Lisbeth ein und weist die skrupellose Benito ebenso brutal in die Schranken.
Durch diesen Zwischenfall gelingt es ihr, an den Computer des eingeschüchterten Olsen zu kommen und Nachforschungen in eigener Sache zu betreiben: Bei einem seiner seltenen Besuche im Krankenhaus hat Lisbeths alter Mentor, der mittlerweile schwerkranke Holger Palmgren, Unterlagen erwähnt, die darauf hindeuten, dass Lisbeth in ihrer Kindheit Opfer des Missbrauchs durch die Behörden geworden ist.
Zusammen mit Mikael Blomkvist, der durch seine Story über die Verbindung der NSA-Führungsebene mit dem organisierten Verbrechen in Russland die „Millennium“-Zeitschrift wieder populär gemacht hat, versucht sie herauszufinden, welche Verbindung zwischen ihr und dem erfolgreichen Finanzanalysten Leo Mannheimer besteht. Das geplante freie Wochenende vor dem Druck der neuen „Millennium“-Ausgabe fällt für Blomkvist also aus, doch zwischen seinen nur langsam vorankommenden Nachforschungen findet er immerhin noch Zeit, sich mit seiner alten Geliebten Malin Frode zu treffen, die ebenso wie Mannheimer bei der Investmentgesellschaft von Alfred Ögren gearbeitet hatte und nun Pressesprecherin im Außenministerium ist.
„Er war hin- und hergerissen und wusste nicht, was er als Nächstes tun sollte. Lisbeth eine verschlüsselte Nachricht schicken? Ihr berichten, worauf er gestoßen war? Leo Mannheimer konfrontieren, um herauszufinden, ob er auf der richtigen Spur war?
Er trank noch einen Espresso und fühlte plötzlich, wie sehr er Malin vermisste. Wie eine Naturgewalt war sie in null Komma nichts in sein Leben gewirbelt.“ (S. 265) 
Mit seiner auch sehr erfolgreich verfilmten, posthum ab 2005 veröffentlichten „Millennium“-Trilogie hat der schwedische, 2004 an einem Herzinfarkt verstorbene Schriftsteller Stieg Larsson die skandinavische Krimi-Szene ordentlich aufgemischt. Dass von den immerhin zehn geplanten Bänden letztlich nur ein knappes Drittel erscheinen konnte, nahm sich David Lagercrantz der Herausforderung an, die „Millennium“-Reihe fortzusetzen. Zwar konnte der 2015 veröffentlichte vierte Band „Verschwörung“ kaum an das Niveau von Larssons packenden Erzählungen heranreichen, aber doch die dem Publikum ans Herz gewachsenen Figuren von Lisbeth Salander und Mikael Blomkvist mit glaubwürdigem Leben erfüllen.
Im nunmehr fünften Band „Verfolgung“ verknüpft Lagercrantz wieder verschiedene Erzählstränge. Es geht um eine Jagdgesellschaft bei Alfred Ögren, bei der der Psychologe Carl Seger ums Leben gekommen ist, um die Trennung von eineiigen Zwillingen, die zu Forschungszwecken bei gänzlich verschiedenen Adoptiveltern aufwuchsen, um die Qualen, die Faria Kazi in ihrer Familie erleiden musste, weil sie sich mit einem Jungen verabredet hatte, und natürlich um Lisbeths Kindheit, deren Geheimnis nun aufgeklärt wird.
Zwar springt der Autor mit Rückblicken immer mal wieder anderthalb Jahre zurück und schlägt überhaupt recht viele Haken in seinem vielschichtigen Plot, doch bleibt die Spannung dabei stets auf einem hohen Niveau. Leider bleiben bei so vielen Erzählsträngen die Figuren etwas blass. Sowohl Lisbeth Salander als auch Mikael Blomkvist sind immer irgendwie beschäftigt, ihre emotionalen Tiefen werden dabei kaum ausgelotet. Dennoch bietet „Verfolgung“ packenden Thrill, der das „Millennium“-Erbe durchaus würdig fortführt. 
Leseprobe David Lagercrantz - "Verfolgung"

Konstantin Sacher – „Und erlöse mich“

Samstag, 14. Oktober 2017

(Tempo, 233 S., HC)
Ein junger Ich-Erzähler, der anonym bleiben und deshalb auch nicht preisgeben will, wo er lebt, wendet sich hilfesuchend an seine Leser. Antworten wünscht er sich von ihnen, vor allem auf die Fragen: „Was soll ich von mir halten? Bin ich so sehr Egoist, dass ich nur noch mich selbst sehe?“ Um dies beurteilen zu können, berichtet der Autor von den letzten zwei Jahren seines Lebens, von seiner großen Liebe Sarah, aber auch von den Beziehungen davor und danach, wie er nach der gescheiterten Beziehung mit Sarah, die später bei einem Wohnungsbrand umgekommen ist, keinen normalen Sex mehr mit Frauen haben konnte, nur in den Po und ohne Kondom – normaler Sex hat ihn nicht mehr genug erregt. Und dann ist da noch die Sache mit der Religion. Noch bevor der Erzähler in die Details seiner ständig wechselnden Sex-Beziehungen geht, thematisiert er seinen christlichen Glauben, der zu einer Grundidee in seinem Leben zählt.
Doch bevor er sich intensiver mit seinem Glauben auseinandersetzt und seine Gedanken diesbezüglich seinen Lesern mitteilt, berichtet der Erzähler von seinem bisherigen Leben, der Kindheit in wohlhabenden Verhältnissen in einer Kleinstadt und seiner Babysitterin Jennifer, die „einen wunderbaren Hintern und tolle, große Brüste“ hatte.
Es folgen Erinnerungen über Ausflüge mit seinen Jungs zu wilden Partys und in den Puff, über One-Night-Stands und verschiedene Sex-Praktiken. Er spürt, dass ihn das wahllose Gerammel seelisch aushöhlt, doch selbst in festen Beziehungen kann er nicht von anderen Frauen ablassen. Um mit sich ins Reine zu kommen, sich selbst zu finden, folgt er dem Aufruf einer Hippie-Kommune auf einer spanischen Insel und besucht auch in der Woche Gottesdienste, freundet sich mit Pater Sebastian an und hilft ihm bei der Betreuung von Obdachlosen. Doch keinen dieser Selbstfindungstrips zieht er bis durch, sein Straucheln und seine Suche führen ihn nur zur nächsten Frau und schließlich doch wieder zum Glauben …
„Die Liebe, die einem genommen wurde, und die eigene Liebe, die ins Leere läuft, sind schlimmer als alles andere. Wenn mir die Liebe entzogen wurde, dann hilft nur noch der Glaube daran, dass sie zurückkommt, und die Hoffnung, dass der Glaube stimmt.
Es bleiben nur Glaube, Hoffnung und Liebe; und die Liebe ist garantiert nicht die größte unter ihnen!“ (S. 211) 
„Und erlöse mich“ ist der Debütroman des bei Frankfurt am Main lebenden evangelischen Theologen Konstantin Sacher und wirkt zunächst wie eine oberflächliche Schilderung wahllos aneinandergereihter sexueller Begegnungen, bei denen kein tiefes Gefühl im Spiel ist, nur fleischliche Lust und ihre Befriedigung. Die schnörkellose Prosa erinnert ein wenig an den Horror-Porn-Stil des US-amerikanischen Schriftsteller Richard Laymon („Der Keller“, „Die Jagd“), nur fehlt bei Sacher sowohl eine dramaturgische Spannung als auch die Möglichkeit zur Identifikation mit dem Erzähler, dem man im wirklichen Leben bestimmt nicht begegnen möchte.
Leider bekommt Sacher zum Ende hin auch nicht die Kurve zu einer überzeugenden Selbstreflexion. Zwar ist dem Erzähler bewusst, wie oberflächlich und moralisch verwerflich sein Verhalten gewesen ist, aber die dann doch etwas abrupt einsetzende und ausschweifende Darlegung seines Glaubens wirkt wie ein konstruierter Bruch und nicht wie die konsequente Folge einer konstruktiven Auseinandersetzung mit seinem bisherigen Lebenswandel.

Joe R. Lansdale – (Hap & Leonard: 9) „Krasse Killer“

Sonntag, 8. Oktober 2017

(Golkonda, 380 S., Pb.)
Einen Großteil ihres Einkommens verdanken Hap Collins und Leonard Pine dem Detektivbüro von Marvin Hanson. Als dieser den Job als Polizeichef annimmt, verkauft er seinen Laden an Haps Lebensgefährtin Brett – mit Hap und Leonard als ihre Vollzeitangestellten. Bei ihrem ersten Auftrag sollen die beiden Freunde für die betagte Dame Lilly Buckner ihre Enkelin Sandy finden, die ihr einst 50.000 Dollar und Wertpapiere aus dem Safe geklaut hatte, Journalismus studierte und vor fünf Jahren spurlos verschwunden ist.
Das Ermittler-Duo sucht das Autohaus Frank’s Unique Used Cars auf, wo offensichtlich nicht nur außergewöhnliche Autos, sondern mit ihnen auch exklusive Models angeboten werden, die mit ihren wohlhabenden Kunden kostspielige Reisen unternehmen, dabei gefilmt und schließlich erpresst werden. Unwillige Kunden werden, so bringen Hap und Leonards Informanten ans Tageslicht, von einem sogenannten Knipser mit einem Draht ums Leben und ihre Eier gebracht.
Doch hinter dem ganzen Unternehmen stecken weit skrupellosere Gangster der Dixie-Mafia, denen bereits das FBI auf den Fersen ist. Mit der Verstärkung von Haps alter Bekannten Vanilla Ride und den furchtlosen Booger und Jim Bob begeben sich Hap und Leonard schließlich in die Höhle des Löwen, um nicht selbst erneut ins Visier des Mobs zu gelangen, der längst eigene Anstrengungen unternommen hat, die hartnäckigen Jungs auszuschalten …
„Auf den Regalen waren auch viele alte, billig gerahmte Fotos aufgestellt. Völlig verstaubt, zeigten sie verschiedene Leute, die sich alle ähnlich sahen. Familienfotos, abwechselnd mit eingelegten Hoden. Schöne Erinnerungen, so richtig heimelig. Ich beugte mich vor und sah mir die Fotos genauer an. Es waren Fotos von aufgebahrten Toten, Männer im Anzug, Frauen im langen weißen Kleid, vielleicht sogar immer der gleiche Anzug, das gleiche Kleid für alle. Das erinnerte mich an viktorianische Fotografien von Toten, damals hatte man den kürzlich Verstorbenen ihre Sonntagsklamotten angezogen und sie so fotografiert.“ (S. 340) 
Als hätten Hap und Leonard mit ihrem zunehmend gefährlicheren Auftrag nicht genug zu tun, wird Hap auch noch mit der Bekanntschaft des jungen Mädchens Chance konfrontiert, das behauptet, Haps Tochter zu sein …
Auch in seinem neunten Band bleibt sich Joe R. Lansdale in seiner erfolgreichen Reihe um den weißen heterosexuellen Kriegsdienstverweigerer Hap und den schwarzen, homosexuellen Vietnamveteran Leonard treu, die mittlerweile auch in einer von den Amazon Studios produzierten Fernsehserie ihr Unwesen treiben dürfen.
In „Krasse Killer“ wird die Vorgeschichte der beiden Buddys nicht weiter thematisiert, aber ihre unterschiedlichen sexuellen Neigungen bieten zwischen den beiden schlagkräftigen Spaßvögeln immer wieder witzigen Gesprächsstoff, ebenso ihr Verhältnis zur Gewaltanwendung. In ihrem neuen Abenteuer haben es Hap & Leonard nicht nur mit der obligatorischen Suche nach einer Vermissten zu tun, sondern sie legen sich zunächst mit einer Biker-Gang und schließlich mit der Dixie-Mafia an, ohne ihrem eigentlichen Ziel wirklich nahezukommen. Diesen Plot inszeniert Lansdale mit so viel Witz, Tempo und Action, dass das Buch nach einer Verfilmung nur so schreit – wenigstens in einer Staffel der dazugehörigen Amazon-Serie.
Vor allem das Finale hat es in sich und bringt dabei auch zutiefst menschliche Regungen zutage. Toll!

Jo Nesbø – (Harry Hole: 11) „Durst“

Freitag, 6. Oktober 2017

(Ullstein, 624 S., HC/eBook)
Um mehr Zeit für seine Familie zu haben, hat sich Spezialfahnder Harry Hole aus dem aktiven Dienst zurückgezogen und einen Job als Dozent an der Polizeihochschule Oslo angenommen, wo er als prominenter Spezialist für Serienmorde den Polizeinachwuchs in seinen Vorlesungen und Seminaren an die Ermittlungsarbeit heranführt. Doch dann wird Holes Jagdinstinkt geweckt, als er von den Vampiristenmorden erfährt, die schnell die nationalen, dann auch internationalen Schlagzeilen bestimmen.
Der Täter scheint seine weiblichen Opfer über die Dating-Plattform Tinder kennenzulernen und sie mit Hilfe eines Metallgebisses nicht nur tödlich zu verletzen, sondern auch ihr Blut zu trinken. Unter den Opfern befindet sich auch die Kellnerin Marte Ruud aus Harry Holes Stammkneipe.
Da Polizeichef Mikael Bellman kurz davor steht, Justizminister zu werden, will er den Fall schnell gelöst haben und lässt er eine Sondereinheit gründen, die unter Leitung von Harry Hole parallel zu der Truppe von Kriminalkommissarin Katrine Bratt ermitteln soll. Vor allem der in Akademikerkreisen belächelte Vampiristen-Experte Hallstein Smith entwickelt sich zu einer großen Hilfe bei der Jagd auf den Killer, dessen Vorgehen Hole an Valentin Gjertsen erinnert, der vor vier Jahren auf spektakuläre Weise aus dem Gefängnis ausgebrochen war und sich diversen plastischen Operationen unterzogen hatte, weshalb er bis heute untertauchen konnte.
„‚Ich glaube nicht, dass es nicht Valentin Gjertsen ist. Obwohl mir dieser Gedanke tatsächlich auch schon gekommen ist. Ein Mörder begeht zwei Morde, ohne auch nur eine Spur zu hinterlassen. Das erfordert Planung und einen kühlen Kopf. Und dann überfällt er plötzlich jemanden und verteilt wie nichts Spuren und Beweise? Das ist auffällig, als legte der Betreffende es darauf an, seine Identität preiszugeben. Und das weckt dann natürlich den Verdacht, dass uns da jemand manipulieren und auf eine falsche Fährte führen will.‘“ (Pos. 3557) 
Auch in dem elften Band seiner populären Reihe um den charismatischen Spezialermittler Harry Hole gelingt es dem norwegischen Bestseller-Autor Jo Nesbø, den Leser von Beginn an mit einem faszinierenden Fall zu fesseln, der mit ungewöhnlicher Prämisse ausgestattet ist. Durch den Vampiristen-Experten Hallstein Smith erhalten wir einen kurzen Abriss über die Vampir-Mythologie und die psychische Disposition von Vampiristen, darüber hinaus bekommen wir Einblicke in das komplexe Beziehungsgeflecht, in das Hole mit seiner Frau Rakel, ihrem Sohn Oleg, der nun auch an der Polizeihochschule studiert, und seiner Kollegin Katrine Bratt vertrickt ist, die sich gerade von ihrem Kollegen, den Kriminaltechniker Bjørn Holm, getrennt hat.
Die Ermittlungen nehmen mit jedem weiteren Mord an Fahrt auf. Dabei verdichten sich die Hinweise, dass die Polizei und die Sondereinheit an der Nase herumgeführt werden. Zum Ende hin schlägt der Plot einige schon irrwitzig anmutende Kapriolen, die sicher für dramaturgische Spannung sorgen, aber auch zu konstruiert wirken, um wirklich überzeugen zu können.
Was „Durst“ neben dem an sich interessanten Thema besonders auszeichnet, sind eher die persönlichen Aspekte, die allerdings oft nur angerissen werden, aber im Vergleich zu anderen Reihen im Thriller-Genre sind Nesbøs Figuren gut gezeichnet und verleihen dem Werk eine angenehme psychologische Tiefe.
Leseprobe Jo Nesbø - "Durst"

Andrea De Carlo – „Ein fast perfektes Wunder“

Sonntag, 1. Oktober 2017

(Diogenes, 400 S., HC)
Als ein Blackout, der den öffentlichen Verkehr, die Telekommunikation, Sicherheitssysteme und Computernetzwerke und die Stromversorgung im gesamten Stadtgebiet von Fayence in der Provence-Alpes-Côte d‘Azur lahmlegt, droht Milena Migliari auf ihren Eiskreationen sitzenzubleiben. Nachdem sie eher vergeblich versucht hat, das Eis an Passanten zu verschenken, kommt ihr der unerwartete Auftrag mehr als gelegen, zehn Kilo mit all ihren Eissorten nach Callian zu bringen. Dort versucht der Rockmusiker Nick Cruickshank, sich mit seiner Band Bebonkers auf ein Benefiz-Konzert im Aerodrom und seine Hochzeit mit der Anti-Leder-Designerin Aileen vorzubereiten, begleitet von Journalisten, einem Kameramann und einem Fotografen des „Star Life“-Magazins.
Als er von Milenas Eis kostet, ist er hin und weg, wenig später sucht der Bebonkers-Frontmann, der auf zwei gescheiterte Ehen und fünf Kinder zurückblickt, Milena in ihrer Eisdiele „La Merveille Imparfaite“.
Was in den wenigen Momenten der kurzen Begegnungen auf Nicks Anwesen in Les Vieux Oliviers und in Milenas Eisdiele mit ihnen geschieht, ist beiden Beteiligten ein Rätsel. Schließlich bereitet sich Milena mit ihrer Lebensgefährtin Viviane gerade auf die künstliche Befruchtung vor, doch ein Baby auszutragen kommt Milena momentan wenig erstrebenswert vor. Auch Nick ist sich im Unklaren über die Beziehung mit der selbstbewussten Aileen, die alles, was mit der Band zu tun hat, im Griff zu haben scheint. Überrascht von der merkwürdig intensiven Anziehung, die Milena und Nick füreinander empfinden, lassen sie sich auf etwas ein, das ihnen ebenso fremd wie selbstverständlich, aufregend und vertraut erscheint.
„Was war dieser Kuss? Ein Fluchtversuch? Ein Überrumpelungsversuch? Eine Verzweiflungstat? Er war jedenfalls etwas absolut Unerwartetes: Ihm schien, als erkenne er sie von wer weiß welchem Punkt in Zeit und Raum und erkenne auch sich selbst oder einen Teil von sich, den er verloren hatte. Oder längst nicht mehr suchte.“ (S. 304) 
Andrea De Carlo („Zwei von zwei“, „Creamtrain“) bringt in seinem neuen Roman „Ein fast perfektes Wunder“ zwei außergewöhnlich kreative Menschen zusammen, die jeder für sich in ihrem ganz eigenen Kosmos leben - Nick in der schimmernd-glitzernden Welt der Rockmusik, die ihm nicht nur viel Geld, sondern auch die Anbetung durch unzählige Fans beschert hat; Milena in ihrer Eisdiele, die sie nach ihrer Flucht vor enttäuschten Liebesbeziehungen aus Italien in die französische Provinz gegründet hat, wo sie so außergewöhnliche Eissorten wie Kaki und Brustbeere kreiert.
Minutiös schildert er abwechselnd aus Nicks und Milenas Perspektive, wie sie mit ihrem Alltag, ihren Mitmenschen und Herausforderungen umgehen, wie das Zusammentreffen zwischen ihnen etliche Fragen darüber aufwirft, ob die gegenwärtigen Lebens- und Liebesumstände so aufrechterhalten sollten.
Sprachlich präsentiert sich De Carlo einmal mehr als großer Fabulierkünstler, vor allem in der Beschreibung der Geschmacksempfindungen bei der Verkostung von Milenas Eis, aber auch in der Kartierung der Gefühlswelten und der Fragestellungen, die die Beziehung zwischen Nick und Milena begleiten. So manch ein Leser wird sich mit Freuden oder Stirnrunzeln selbst und sein (Gefühls-) Leben hinterfragen wollen. Ein größeres Lob kann man einem Autor kaum zollen. 
Leseprobe Andrea De Carlo - "Ein fast perfektes Wunder"

Stephen King – „Es“

Samstag, 30. September 2017

(Heyne, 860 S., Jumbo)
Im Herbst 1957 wurde der sechsjährige George Denbrough tot, mit ausgerissenem Arm, an einem Gully aufgefunden. Sein bettlägeriger älterer Bruder William hatte ihm zuvor ein Boot aus Papier gebastelt und mit ihm zusammen wasserdicht gemacht. Mit diesem Boot machte sich Georgie im Regenmantel auf den Weg, das mit Paraffin bestrichene Papierschiffchen an der Kante zwischen Straße und Bürgersteig im Strom dahinschwimmen zu lassen, der sich durch vier Tage wolkenbruchartigen Regen entwickelt hat. 27 Jahre später kommt Adrian Mellon unter ähnlichen Umständen ums Leben. Zeugen meinten einen Clown unter der Brücke am Tatort gesehen zu haben, der wie eine Mischung aus Ronald McDonald und dem Fernsehclown Bozo wirkte.
Mike Hanlon, Bibliothekar in Derry, ahnt, dass „Es“ zurückgekommen ist, eine unheimliche Macht, der seine Freunde Bill Benbrough, Stanley Uris, Richard Tozier, Eddie Kaspbrak und Beverly Marsh damals nur dadurch in die Flucht schlagen konnten, weil sie als Freunde zusammengehalten haben. Während alle außer Mike als Erwachsene Derry verlassen haben, um erfolgreicher Komiker (Richie), Schriftsteller (Bill), Architekt (Ben), Modedesignerin (Bev) oder Prominenten-Chauffeur (Eddie) zu werden, hat Mike eine Chronik über die Welle von Gewaltverbrechen erstellt, die in regelmäßigen 27-Jahres-Zyklen Derry heimsuchen – und zwar seit nachweisbar sehr langer Zeit. Als Mike und seine Freunde damals „Es“ besiegt, aber nicht getötet hatten, schworen sie sich, wieder zusammenzukommen, sollte „Es“ zurückkehren.
Mike ruft seine alten Freunde an, die mit Ausnahme von Stan tatsächlich ihre Verpflichtungen liegen lassen und nach Derry kommen, um ihr Versprechen einzulösen. Schnell zeigt sich, dass Mike mit seiner Befürchtung recht gehabt hat: „Es“ hat nach wie vor allerlei Tricks auf Lager, seine Gegner mit ihren ureigensten Ängsten zu konfrontieren …
„Er wusste es nicht, aber er glaubte – ebenso wie er glaubte, dass alle Morde auf ein und dasselbe Konto gingen -, dass Derry sich tatsächlich verändert hatte, und dass diese Veränderung mit dem Tod seines Bruders begonnen hatte. Die Schreckensvisionen in seinem Kopf hatten ihren Ursprung in seiner tief verborgenen Überzeugung, dass in Derry jetzt alles Mögliche passieren konnte. Alles.“ (S. 168) 
Im Jahr seines 70. Geburtstages erlebt Stephen King eine bemerkenswerte Renaissance seiner Werke. Der „King of Horror“ schreibt nicht nur unermüdlich weiter, sondern durfte auch verfolgen, dass in diesem Jahr nach „The Dark Tower“ auch sein bereits 1990 durch Tommy Lee Wallace verfilmtes Epos „Es“ erneut eine filmische Adaption erfahren hat, diesmal für die große Leinwand und weitaus gruseliger als der frühere Fernseh-Zweiteiler.
Als Stephen King 1986 „Es“ veröffentlichte, konnte er bereits mit u.a. „Carrie“, „Shining“, „The Stand“, „Friedhof der Kuscheltiere“ und „Der Talisman“ (zusammen mit Peter Straub) auf etliche Bestseller zurückblicken. Aber erst mit „Es“ schuf Stephen King eine über mehrere Zeitebenen perfekt ausbalancierte Geschichte, die vor allem durch die sehr sorgfältige Zeichnung der sympathischen Figuren brilliert, die King jeweils mit sehr ausführlichem Hintergrund ausgestattet hat.
Geschickt verleiht er dem Grauen in Derry durch einen verführerischen Clown Gestalt und macht für die Kinder das Leben in der an sich idyllischen Kleinstadt zum Alptraum, zu dem nicht zuletzt der bösartige Henry Bowers mit seiner Clique mit ihren durchaus brutalen Gemeinheiten beitragen. Stück für Stück enthüllt Stephen King vor allem durch seinen Chronisten Mike Hanlon die Geschichte des Bösen in Derry, das es auf überdurchschnittlich viele Kinder abgesehen hat. Obwohl King selbst innerhalb eines Satzes von Kapitel zu Kapitel zwischen den Zeiten springt, hält er die Spannung immer aufrecht. Das gelingt ihm vor allem durch die minutiös geschilderten Biografien der „Club der Verlierer“-Mitglieder mit ihren ganz individuellen Geschichten, psychischen Dispositionen, Träumen und Ängsten, mit ihren persönlichen Beziehungen, Berufen und Problemen, so dass der Leser sich mitten im Geschehen erlebt und zusammen mit den Figuren zwischen den 1950er und 1980er Jahre hin- und herspringt.
Wenn zum Ende hin deutlich wird, wie es den Kindern damals gelang, „Es“ zu besiegen, wirkt das Vorgehen nicht gerade nachvollziehbar, aber King erweist sich als dermaßen souveräner und mitreißender Erzähler, dass der Spruch, dass ungewöhnliche Situationen ungewöhnliche Maßnahmen erfordern, in dieser Hinsicht auch auf „Es“ zutrifft.
Als ich den Roman 1986 – nach meinem Abitur - zum ersten Mal gelesen hatte, war ich so gefesselt, dass ich fortan – und bis heute – ein großer Fan von Stephen King wurde, der zugleich meine Lust zunächst an der Schauerliteratur und so am Lesen im Allgemeinen geweckt hat, womit ich ihm mehr als nur dankbar bin. Dreißig Jahre später hat das Horror-Epos für mich nichts an seiner Faszination eingebüßt, die auf die permanent gruselige Atmosphäre und die geschickte Dramaturgie zurückzuführen ist, wie sie nur Stephen King zu inszenieren vermag. 
Leseprobe Stephen King - "Es"

Ned Beauman – „Glow“

Dienstag, 26. September 2017

(Tempo, 320 S., Pb.)
Raf ist gerade dabei, sich bei einem illegalen Rave in einem Waschsalon ein Achtelgramm einer undefinierten Mischung aus Speed, Glutamat und einem noch nicht zugelassenen Medikament gegen soziale Phobie bei Hunden reinzuziehen, als er sich Hals über Kopf in Cherish verliebt, Tochter einer Burmesin und eines amerikanischen Ingenieurs, der für den international agierenden Minenkonzern Lacebark arbeitet. Wenn Raf sich nicht gerade auf irgendwelchen Raves herumtreibt und experimentelle Drogenmixturen ausprobiert, behütet er einen Staffordshire Bullterrier, der auf dem Dach eines achtzehnstöckigen Wohnhauses den Piratensender Myth FM bewacht.
Als nicht nur immer mehr Burmesen scheinbar spurlos verschwinden, sondern Raf auch beobachtet, wie mit Theo der Chef des Radiosenders durch einen geräuschlos fahrenden weißen Lieferwagen entführt wird, kommt Raf, der unter einer seltenen Schlaf-Wach-Rhythmusstörung leidet, die seinen Tag 25 Stunden dauern lässt, einer komplexen Verschwörung auf die Spur, in der auch Cherish und der Chemiker Win unklare Rollen einnehmen. Dabei geht es vor allem um die neue Droge Glow, bei deren Herstellung interessanterweise Füchse eine besondere Rolle spielen …
„Jetzt sind die Leute von Lacebark im Londoner Süden, sie infiltrieren die Stadt, sie verändern sie und verbreiten einen Nebel der Angst in den Straßen, die ihm einmal so viel bedeutet haben. Als seine Freundin ihn verlassen hatte, wurde hier für einige Zeit alles zu Scheiße, und er konnte nur dasitzen und leiden. Sieben Wochen später wird wieder alles zu Scheiße, aber diesmal kann Raf etwas dagegen unternehmen.“ (S. 152) 
Der britische Autor Ned Beauman hat nach seinem Studium in Cambridge für Zeitungen und Magazine wie „The Guardian“ und „The Daily Telegraph“ geschrieben, seit 2010 („Der Boxer“) ist er auch als Schriftsteller zu einer anerkannten Größe der europäischen Literaturszene herangewachsen und wurde für seinen zweiten Roman sogar für den Man-Booker-Prize nominiert.
Mit „Glow“, 2014 bereits als Hardcover bei Hoffmann und Campe erschienen, entführt Beauman seine Leser auf eine atemberaubende Odyssee, in der das waghalsige Erzähltempo durch exzessiven Drogenkonsum, wilde Rave-Partys und das Verschwinden von immer mehr Burmesen im Londoner Süden bestimmt wird. Rezepte gibt es dabei nicht nur für Drogencocktails, sondern auch für asiatische Gerichte, und Raf wird ebenso wie der Leser Zeuge des unerbittlichen Kampfes internationaler Großkonzerne (hier in Gestalt von Lacebark) gegen alternative Lebensformen (wie sie im Rave, Drogenkonsum und Piratensendern zum Ausdruck kommen).
So stellt sich „Glow“ einerseits als origineller Krimi dar, der durch sein irres Tempo und die mal verschnörkelt-verschachtelte, dann wieder wunderbar klare Sprache charakterisiert wird, andererseits aber als unorthodoxe Globalisierungskritik, die durch ihre ungewöhnlichen Auswüchse sehr zum Unterhaltungswert des Romans beiträgt.
Das ist bei der Lust des Autors an sprachlichen Kapriolen und dem vertrackten Plot nicht immer ein einfaches, aber bis zum Ende hin doch ein lohnendes Lesevergnügen.

Tom Drury – „Grouse County“

Sonntag, 24. September 2017

(Klett-Cotta, 795 S., HC)
Der aus Iowa stammende Tom Drury begann nach seinem Journalismus-Studium seine berufliche Laufbahn zunächst als Reporter und Redakteur in der regionalen Presse, ehe er 1994 mit „Das Ende des Vandalismus“ seinen ersten Roman veröffentlichte. Zusammen mit „Die Traumjäger“ (2000 in den USA veröffentlicht, 2008 in Deutschland) und dem hierzulande bislang unveröffentlichten Roman „Pazifik“ (2013) hat Klett-Cotta die hochgelobte „Grouse County“-Trilogie nun in einem Band veröffentlicht und dabei die ersten beiden Romane komplett überarbeitet.
In „Das Ende des Vandalismus“ macht der Leser Bekanntschaft mit einer bunt zusammengewürfelten Schar von Figuren, die vor allem das 321-Seelen-Dorf Grafton, aber auch die umliegenden Ortschaften Pinville, Wylie oder Boris bevölkern. Zu den Hauptdarstellern, wenn es denn welche gibt, in Drurys genau beobachteter Gesellschaftsstudie zählt dabei der amtierende Sheriff Dan Norman, der nicht nur den Diebstahl von mehreren Landmaschinen aufklären muss, sondern sich auch noch mitten im Wahlkampf befindet und mit Louise, der von Tiny Darling gerade geschiedenen Frau, zusammenlebt. Das kann der Taugenichts und Gelegenheitsdieb Tiny schwer ertragen, weshalb er nach Colorado geht, wo er auf einem Holzplatz in Lesoka eine Arbeit findet und mit Kathy Streeter von der Bäuerlichen Genossenschaftsbank eine Beziehung eingeht. Die Leser erleben mit, wie Alvin Getty seinen Lebensmittelladen aufgeben muss, wie Louise sich zunächst im Fotostudio von Perry Kleeborg engagiert, doch dann ein Schicksalsschlag ihr Leben völlig durcheinanderbringt.
Auch sonst haben es die Bewohner in Grafton nicht leicht. Vor fünfundzwanzig Jahren hatte es noch zwei Gastwirtschaften, drei Kirchen, einen Friseur, einen Holzhandel und eine Bank gegeben, nun sind nur noch zwei Kirchen und ein Lokal davon übrig, nur ergänzt von einem Schönheitssalon und eine Art Gebrauchtwagenhandel. Zu den Höhepunkten des gesellschaftlichen Lebens zählt die Schulaufführung von „Tarantella“.
„Es war in gewissem Sinn eine verkehrte Welt – Jugendliche lieferten zur Unterhaltung der Erwachsenen eine anspruchsvolle Darbietung -, während allgemein in Grouse County, wie sonst überall auch, das Theater nicht als etwas Sinnvolles angesehen wurde, womit man sich nach Abschluss der Schule noch abgeben konnte. Sich Geschichten auszudenken und sie dann auf die Bühne zu bringen, das war den Leuten einfach nicht geheuer.“ (S. 240f.) 
Tom Drury macht es dem Leser mit seinem Debütroman nicht leicht, einem wie auch immer gearteten Plot zu folgen und sich in der Vielzahl von gut siebzig Personen zurechtzufinden, die das wie ein buntes Potpourri zusammengewürfelte Geschehen bestimmen oder auch nur mal kurz auftauchen und dann wieder von der Bildfläche verschwinden. Allerdings gelingt es Drury, mit seiner detaillierten Beschreibung des ländlichen Lebens irgendwo im Mittleren Westen die Sorgen und Träume nachzuvollziehen. Das tut er ebenso einfühlsam wie humorvoll, so dass einem manche Figuren dann doch ans Herz wachsen.
Der Nachfolgeroman „Die Traumjäger“, der – im Original - sechs Jahre später erschien (2000), ist nicht nur weitaus kürzer ausgefallen, sondern wartet auch mit einem weitaus reduzierteren Figurenensemble und einer stringenteren Erzählung auf. Tiny Darling hat sich mittlerweile auf seinen richtigen Namen Charles besonnen und lebt mit seiner zweiten Frau Joan, ihrem gemeinsamen Sohn Micah und Joans 16-jähriger Tochter Lyris zusammen, die als Baby zur Adoption freigegeben wurde und seither eine wenig erbauliche Odyssee durch verschiedene Pflegefamilien durchgemacht hatte, bis sie wieder von Joan aufgenommen worden ist. Charles versucht nicht nur, das alte Gewehr seines Stiefvaters, mit dem er viele Jagdausflüge in seiner Jugend unternommen hatte, von der Pfarrerswitwe Farina Matthews zurückzukaufen, sondern fragt sich auch, warum seine Frau, die Geschäftsführerin eines Tierschutzvereins mit Sitz in Stone City ist, zu einer Rede vor der Kreisversammlung einen Badeanzug mitnimmt.
Ganz unbegründet sind seine Sorgen nicht, denn wie schon Louise im vorherigen Band begibt sich auch Joan auf einen Selbstfindungstrip, von dem sie erst im kommenden Frühjahr zurückzukehren gedenkt …
Erst 2013 erschien mit „Pazifik“ der hier erstmals in deutscher Sprache veröffentlichte dritte Band der „Grouse County“-Trilogie. Auf wiederum nur wenig mehr als 200 Seiten verfolgt Drury das Leben der Darling-Familie weiter. Joan Gower hat eine Karriere als Schauspielerin beim Fernsehen eingeschlagen und kehrt nach sieben Jahren in ihre alte Heimat zurück, um ihren mittlerweile 14-jährigen Sohn Micah nach Los Angeles mitzunehmen, wo er eine für ihn völlig neue Welt kennenlernt. Tiny hat sein Klempnergeschäft nach der Klage durch eine Versicherungsgesellschaft verloren und ist gar nicht begeistert, dass nun auch die erwachsene Lyris ihr Zuhause verlassen hat, um mit ihrem Verlobten, dem Journalisten Albert Robeshaw, zusammenzuleben.
Dan Norman ist nach dem Verzicht, ein sechstes Mal für das Sheriff-Amt zu kandidieren, Privatdetektiv geworden und wird von einem Ehepaar beauftragt, den zukünftigen Schwiegersohn ihrer Tochter Wendy unter die Lupe zu nehmen. Jack Snow betreibt einen Versandhandel mit keltischen Kunstgegenständen und „stinkt vor Geld“, was Wendys Eltern nicht geheuer ist.
Wenig später bekommt Dan Besuch von zwei staatlichen Ermittlern, die Jack Snow seit längerer Zeit im Visier haben …
Mit der über einen Zeitraum von knapp zwanzig Jahren entstandenen „Grouse County“-Trilogie hat Tom Drury eine Art liebevolle Bestandsaufnahme des ländlichen Lebens in Iowa kreiert, mit einer zunächst nahezu unüberschaubaren Schar an Figuren, die von knapp siebzig in „Am Ende des Vandalismus“ nahezu auf die Familien von Tiny Darling und Dan Norman reduziert wurden, aber allesamt ihre ganz persönlichen Sehnsüchte, Leidenschaften und Sorgen haben, die ihr Erzähler allesamt ernst nimmt und die im abschließenden Band „Pazifik“ sogar metaphysische und surreale Züge annehmen. Die Fürsorge, die Drury seinen Figuren angedeihen lässt, die wunderbare Sprache, die lebendige Dialoge und der lakonische Humor machen das epische „Grouse County“ zu einem unvergleichlichen Lesevergnügen, das zudem wie eine Anleitung zur Selbstverwirklichung und ein moralischer Kompass aufgefasst werden kann. 
Leseprobe Tom Drury - "Grouse County"

Antoine Laurain – „Die Melodie meines Lebens“

Dienstag, 12. September 2017

(Atlantik, 254 S., HC)
Als die Post bei Modernisierungsarbeiten in einer ihrer Pariser Filialen vier Briefe unter Holzregalen findet, die nicht zugestellt worden sind, ist auch einer aus dem Jahre 1983 dabei, der nun mit 33 Jahren Verspätung dem Empfänger zugestellt wird. Der über fünfzigjährige Allgemeinmediziner Alain Massoulier staunt nicht schlecht, als er so erfährt, dass die Band The Hologrammes, die er damals mit der Sängerin Bérangère Leroy, dem Schlagzeuger Stanislas Lepelle, dem Bassisten Sébastien Vaugan und dem Pianisten Frédéric Lejeune unterhalten hat, von Polydor einen Plattenvertrag angeboten bekommen hätte. Stattdessen hat sich die New-Wave-Band recht schnell aufgelöst, ihre Mitglieder haben sich in alle Winde zerstreut.
Alain, der von seiner Frau betrogen wird und ein unspektakuläres, aber zufriedenes Leben im 8. Arrondissement führt, macht sich auf die Suche nach den alten Bandmitgliedern und vor allem nach dem Demotape mit den fünf Songs, die damals für Furore hätten sorgen können. Sébastien war Alain als Kopf einer rechtsextremistischen Gruppe noch bekannt.
Durch seine Recherche im Internet erfährt er schließlich, dass Stan Lepelle ein aufstrebender Künstler geworden ist, Frédéric Lejeune in Thailand gerade ein Hotel eröffnet hat, Sébastien und der Texter Pierre Mazart ein Antiquitätengeschäft am linken Seine-Ufer unterhält. Der Produzent der Band, Mazarts Bruder Jean-Bernard – kurz JBM genannt -, kandidiert gerade für das Präsidentschaftsamt. Nur bei Bérangère hilft Alain das Internet nicht weiter, sondern der Zufall.
„Was sagt man zu einer Frau, die vor mehr als dreißig Jahren geliebt hat und der man zufällig am Bahnhof begegnet? Die man nur für ein paar Minuten und danach nie wieder sehen wird? Das ist, als ob das Leben einem ein Almosen gibt, keine zweite Chance, sondern eine Art Augenzwinkern.“ (S. 144) 
Mit seinem neuen Buch „Die Melodie meines Lebens“ spielt der Pariser Schriftsteller Antoine Laurain („Der Hut des Präsidenten“, „Das Bild aus meinem Traum“) weniger mit der „Was wäre, wenn …“-Möglichkeit, die das 33 Jahre zu spät erhaltene Angebot eines Plattenvertrags für die Bandmitglieder einer ambitionierten New-Wave-Band bereitgehalten hätte, als mit einem Abgleich der Persönlichkeiten von damals mit ihrem heutigen Leben.
Besonders gelungen sind dem Autor dabei die Rückblenden in die 1980er Jahre, als sich die Band gegründet und gefunden hatte. Weniger gut nachzuvollziehen sind die Schicksale der Protagonisten in der heutigen Zeit. Hier verliert sich Laurain in Einzelschicksalen und unzusammenhängenden Anekdoten. Allein JBMs Präsidentschaftswahlkampf und die Beziehung zu seiner ehrgeizigen persönlichen Assistentin Aurore sowie das Aufsehen erregende Kunstprojekt, mit dem Stan auf einmal weltberühmt wird, nehmen etwas mehr Raum im Strudel der Episoden ein.
Die Charakterisierungen und die Erzähldramaturgie leiden unter den sprunghaften Perspektivwechseln, zu denen auch die eingeschobenen Ich-Erzählungen einzelner Beteiligter zählen. Davon abgesehen verzaubert der kurze Roman aber mit nostalgischem Charme und Gedanken zu verpassten Möglichkeiten und verlorenen Lieb- und Freundschaften.

Patricia Cornwell – (Kay Scarpetta: 24) „Totenstarre“

Montag, 11. September 2017

(HarperCollins, 432 S., HC)
Dr. Kay Scarpetta, renommierte Forensikerin am Cambridge Forensic Center, das sie seit acht Jahren leitet, bereitet gerade ihren Vortrag an der Kennedy School of Government vor, als sie es gleich mit mehreren Herausforderungen zu tun bekommt. Zunächst macht ihr der überraschende Besuch ihrer Schwester Dorothy Sorgen, die schon einen besonderen Grund für ihre Reise haben muss, da sie sich sonst nie in Cambridge blicken lässt. Dann hat es Scarpetta mit einem Stalker namens Tailend Charlie zu tun, der sich mit verzerrter Stimme über sie bei der Polizei beschwert und ihr daraufhin weitere Audioaufnahmen zukommen lässt, die auch sehr private Details aus Scarpettas Leben enthalten.
Beruflich bearbeitet sie den Tod der dreiundzwanzigjährigen Kanadierin Vandersteel, deren Leiche, auf einem Joggerpfad am Fluss im John F. Kennedy Park gefunden wird – gut eine Stunde, nachdem Scarpetta die junge Frau kennengelernt hat. Als Zeugen können die Polizeibeamten nur zwei Zwillingsmädchen identifizieren, deren Aussage ebenso merkwürdig anmutet wie die am Tatort gefundenen Indizien.
Zu guter Letzt hat der Minister für Heimatschutz eine Terrorwarnung für Washington, D.C., Boston und benachbarte Gemeinden ausgegeben. Erschreckend wird die Konstellation der Ereignisse, als auf Scarpettas Radar der Name der Psychopathin Carrie Grethen auftaucht, die nicht nur Ausbilderin ihrer Ziehtochter Lucy beim FBI in Quantico gewesen ist, sondern sie fast in den Tod getrieben hätte …
Seit 1990 hat die vielfach prämierte Thriller-Autorin Patricia Cornwell nahezu im Jahresrhythmus einen neuen Band in ihrer Reihe um die forensische Gerichtsmedizinerin Kay Scarpetta veröffentlicht. Allmählich scheinen sich aber deutliche Ermüdungs- und Abnutzungserscheinungen zu zeigen. Fast die ganze erste Hälfte braucht Cornwell, um erst einmal zu demonstrieren, welch Koryphäe ihre Ich-Erzählerin auf ihrem Gebiet ist und was für einen gutaussehenden, brillanten Mann sie an ihrer Seite hat, ehe dann die meiste Zeit damit verbracht wird, den Tatort zu sichern, die dortigen Arbeitsbedingungen zu definieren, die Indizien am Tatort der getöteten Fahrradfahrerin zu sammeln und zu analysieren, bis sie selbstkritisch gestehen muss:
„Das alles dauert zu lange, aber es wundert mich nicht. Die Dinge klappen nur selten so schnell, wie wir es gern hätten. Und bei einer schwierigen Ermittlung in einem Todesfall funktioniert nur wenig wie geplant. Nur, dass die Welt nicht mehr so nachsichtig ist wie früher. Ich mache mich bereits auf Kritik gefasst.“ (S. 193) 
Mit dieser Aussage in der Romanmitte hat Cornwell nicht nur die Fortschritte in Scarpettas Fall treffend beschrieben, sondern auch die Qualität ihres Werks, dessen Plot jeglicher Spannung entbehrt. Die Story scheint letztlich einzig dazu zu dienen, die beruflichen Qualifikationen der Protagonistin und damit auch das entsprechende Wissen ihrer literarischen Schöpferin zu demonstrieren, was in der massiven Betonung ebenso unangenehm aufstößt wie die spröde, allzu sachliche Sprache, die keine Sympathie für die Figuren aufkommen lässt und auch das Lesen zu einer quälenden Angelegenheit macht. Immerhin sind aber Scarpettas Beziehungen zu ihren Kollegen und zu ihrer Familie sehr sorgfältig beschrieben, aber eben eher analytisch als emotional.
Wenn die Autorin dann noch ihre alte Nemesis Carrie Grethen aus dem Hut zaubert, wirkt dieser „Kniff“ wie eine letzte Verzweiflungstat, um der schleppenden Handlung noch etwas Würze zu verleihen. Im schlimmsten Fall hat der Leser da aber schon das Interesse verloren …
Leseprobe Patricia Cornwell - "Totenstarre"

Jens Henrik Jensen – (Oxen: 1) „Oxen – Das erste Opfer“

Freitag, 8. September 2017

(dtv, 461 S., Pb.)
Der ehemalige, höchstdekorierte Elitesoldaten Niels Oxen will aussteigen. Das Ziel seines neuen Lebens findet er in einem Zeitungsartikel: In dem riesigen Wald Rold Skov richtet er sich mit seinem Samojedenhund Mr White einen Unterschlupf ein und sieht sich neugierig am herrschaftlichen Schloss Nørlund Slot um. Dort bemerkt er zunächst einen im Baum erhängten Schäferhund, wenig später schon ist Oxen Hauptverdächtiger in einem Mordfall: Der Exbotschafter und einflussreiche Vorsitzende eines dänischen Thinktanks, Hans-Otto Corfitzen, wird in seinem Arbeitszimmer tot aufgefunden. Sein Tod scheint in Zusammenhang zu stehen mit weiteren mysteriösen Todesfällen, bei denen ebenfalls jeweils ein Hund ums Leben kam.
Nachdem Otto von Kriminalhauptkommissar Rasmus Grube, Polizeipräsident Max Bøjlesen und vom Chef des Inlandsnachrichtendienstes, Axel Mossman, zu seinem Aufenthalt am Schloss verhört worden ist, erhält er von Mossman das ungewöhnliche Angebot, für ihn auf eigene Faust in dem Fall zu ermitteln. Allerdings hat Oxen kaum eine andere Wahl. Um nicht selbst für die Morde zur Verantwortung gezogen zu werden, sammeln Oxen und Mossmans Assistentin Margrethe Franck zunehmend brisantere Informationen, die bis ins dänische Herrschaftsgefüge des Mittelalters zurückreichen und auch die heutige politische Elite schwer belasten.
„Jetzt wäre er gern woanders. Ohne all die Fragen, die wie Wespen in seinem Kopf herumschwirrten und ihn nicht in Ruhe ließen. Aber das ging nicht. Er konnte nicht einfach seinen Rucksack packen und verschwinden.
Erst musste er der Sache auf den Grund gehen. Das war er Mr White schuldig – und sich selbst. Wenn er nicht herausfand, was hinter dem Ganzen steckte, würden sie ihn zur Schlachtbank zerren.“ (S. 184) 
Skandinavische Autoren wie Henning Mankell, Hakan Nesser, Stieg Larsson und zuletzt der Däne Jussi Adler-Olsen sind seit den 1990er Jahren aus den internationalen Bestsellerlisten nicht mehr wegzudenken. Mit Jens Henrik Jensen hat dtv, wo auch die Werke von Adler-Olsen verlegt werden, einen weiteren potentiellen Star an Land gezogen, nachdem dessen „Oxen“-Trilogie in seiner Heimat seit 2012 so erfolgreich gewesen war, dass bereits die Filmrechte verkauft worden sind.
Mit „Das erste Opfer“ erscheint nun der erste Teil der Trilogie um den Ex-Elitesoldaten Niels Oxen auch in deutscher Sprache. Was der höchstdekorierte Elitesoldat bei seinen oft traumatischen Auslandseinsätzen in Bosnien, Afghanistan, im Irak und Kosovo erlebt hat, wird in kurzen Flashbacks zusammengefasst, aber was den Menschen Niels Oxen ausmacht, wird eher durch die Beziehung zu seinem Hund und dem sehr zurückhaltenden und wortkargen Verhalten gegenüber seinen Mitmenschen deutlich.
Die Erfahrung hat ihn gelehrt, niemandem zu vertrauen, und so dauert es eine Weile, bis er sich der ebenfalls versehrten, ihm zugeteilten Partnerin Margrethe Franck, etwas öffnen kann. Wie die beiden während ihrer spannenden Schnitzeljagd auf immer heiklere Dokumente stoßen, die zu einer im Danehof gipfelnden Machtelite zurückführen, die wie ein Geheimbund seit dem Mittelalter die Geschicke des Landes beeinflusst hat, liest sich wie ein politischer Actionthriller, bei dem die sympathischen Protagonisten einem gewaltigen Komplott auf der Spur sind, das bis in die höchsten politischen Kreise führt.
Bei der turbulenten und temporeichen Suche nach weiteren Spuren und Beweisen bleibt die Charakterisierung vieler Figuren eher skizzenhaft. Allein bei Oxen und Franck hat sich der Autor merklich Mühe gegeben, charakteristische Züge zu entwickeln. Weitaus mehr Energie verwendete Jensen darauf, eine Reihe von außergewöhnlichen Todesfällen in einen verschwörerischen Thriller zu betten, in dem es vor allem um Macht, Gewalt und Vertuschung geht.
Auf die nachfolgenden Bände „Der dunkle Mann“ (für März 2018) und „Gefrorene Flammen“ (August 2018) darf man sehr gespannt sein!

Abstimmen für den Buch-Blog Award 2017

Samstag, 2. September 2017

Seit 2009 rezensiere ich an dieser Stelle mit Begeisterung Bücher aus allerlei Genres und Sachbuch-Bereichen, die mich interessieren, faszinieren und verführen, seien es Werke von US-amerikanischen Autoren wie James Lee Burke, Joe R. Lansdale, Stewart O'Nan, Paul Auster, Jonathan Franzen, Cormac McCarthy, Horror-Werke von Stephen King, Clive Barker, Jack Ketchum, Richard Laymon, Joe Hill, Peter Straub und Dan Simmons, skandinavische Krimi-Literatur von Jo Nesbo, Henning Mankell, Jussi Adler-Olsen und Hakan Nesser oder Thriller von John Grisham, Thomas Harris, Michael Connelly, Jefferey Deaver, Karin Slaughter, Simon Beckett, John Niven, Don Winslow, Comics und Fantasy von Walter Moers, Dave McKean und Neil Gaiman, zeitgenössische Autoren wie Andrea DeCarlo, Philippe Djian, Benedict Wells, Adam Davies, Irvine Welsh, Anthony McCarten und Ray Bradbury - dazu Sachbücher aus den Bereichen Film, Musik und Kunst.
Mit meinem Blog habe ich mich nun für die Longlist des "Buch-Blog Award 2017" qualifiziert. Ich freue mich, wenn ihr mich über den folgenden Link für die Shortlist nominieren würdet!
Mamoulians Geschichten für die Shortlist nominieren

John Grisham – (Bruce Cable: 1) „Das Original“

(Heyne, 367 S., HC)
Indem sie sich der Identität eines real existierenden Juniorprofessors für Amerikanistik bedienen und am Tag ihres geplanten Coups für etliche Ablenkungsmanöver sorgen, gelingt den fünf Gaunern Denny, Mark, Trey, Jerry und Ahmed das Kunststück, aus der Firestone Library der Princeton University fünf Originalmanuskripte zu entwenden, darunter F. Scott Fitzgeralds „Diesseits vom Paradies“, „Die Schönen und Verdammten“ und „Der große Gatsby“.
Zwar gelingt es dem FBI, mit Jerry und Mark zwei Mitglieder der Gang festzunehmen, aber die anderen drei Beteiligten und vor allem die Manuskripte bleiben verschwunden. Da die Versicherung in einem halben Jahr fünfundzwanzig Millionen an Princeton zahlen muss, wenn die Manuskripte nicht wieder auftauchen, ist Elaine Shelby mit ihrem Team beauftragt worden, neben dem FBI eigene Ermittlungen anzustellen.
Als die Spur der Manuskripte zu dem Buchhändler Bruce Cable auf Camino Island in Florida führt, heuert sie die Schriftstellerin Mercer Mann an, die seit drei Jahren an ihrem zweiten Roman zu schreiben versucht und die Insel durch ihre vor elf Jahren tödlich verunglückte Großmutter Tessa kennt. Sie soll möglichst nah an Bruce Cable herankommen und herausfinden, ob die Manuskripte tatsächlich in seinem Besitz sind. Da diese Aufgabe fürstlich entlohnt wird, übernimmt Mercer den Job trotz anfänglicher Skrupel, findet aber Gefallen daran, als sie Bruce und seine Frau Noelle näher kennenlernt, die eine sehr offene Beziehung zu führen scheinen. Als Noelle nach Frankreich reist, um neue Antiquitäten für ihr Geschäft auszukundschaften, lässt sich Mercer schließlich auf das Spiel mit dem Feuer ein …
„Er führte ein gutes Leben, hatte eine schöne Frau/Partnerin und besaß ein prächtiges Haus in einer netten Stadt. War er tatsächlich bereit, das alles zu riskieren und wegen Hehlerei gestohlener Manuskripte ins Gefängnis zu wandern?
Wusste er, dass ihm ein professionelles Ermittlungsteam auf den Fersen war? Und dass das FBI nicht weit war? Ahnte er, dass er in ein paar Monaten vielleicht für viele Jahre ins Gefängnis gehen musste?“ (S. 172) 
An sich ist es mal wieder ganz erfrischend, von John Grisham KEINEN Justiz-Thriller zu lesen. Zwar ist er durch internationale und auch großartig verfilmte Bestseller wie „Die Akte“, „Die Firma“, „Der Regenmacher“, „Der Klient“ und „Die Jury“ berühmt geworden, aber zwischendurch überraschte der examinierte Jurist immer wieder mal mit Romanen, die im Sportmilieu („Der Coach“, „Touchdown“) angesiedelt sind oder das Leben einer Baumwollfarmersfamilie beschreiben („Die Farm“).
Mit „Das Original“ begibt sich Grisham nun in die Welt der Bücher, in den Handel mit seltenen Erstausgaben und Originalmanuskripten. So interessant die Grundidee auch ist, bietet der Roman nur einen recht oberflächlichen Einblick in die Thematik. Der Diebstahl der Manuskripte wird recht kurz abgehandelt, die involvierten Personen nur grob skizziert.
Interessant wird es erst ab dem 2. Kapitel, wenn die Biografie von Bruce Cable rekapituliert wird, der mit dem väterlichen Erbe eine kurz vor dem Bankrott stehende Buchhandlung auf Camino Island erworben und sie mit großem Engagement zu einem florierenden Treffpunkt für Bücherfreunde und Autoren geführt hat, die auf ihren Leserreisen gern Station bei „Bay Books“ machen.
Auch bei der Charakterisierung von Mercer Mann gibt sich Grisham noch einige Mühe, schließlich sind Cable und Mann die wichtigsten Figuren in „Das Original“. Wie sich die beiden allerdings einander annähern, ist leider sehr vorhersehbar und ohne jeglichen Esprit beschrieben. Vor allem das Finale wirkt überhastet konstruiert, als hätte Grisham wie seine weibliche Hauptfigur das Interesse an der Geschichte verloren, so dass er sie nur noch schnell mit einer plötzlichen Wendung zu Ende bringen wollte. „Das Original“ lässt sich zwar flüssig lesen, doch die Figuren und der Plot können dem Vergleich mit Grishams früheren Werken nicht standhalten.
 Leseprobe John Grisham - "Das Original"

Tess Gerritsen – „Der Anruf kam nach Mitternacht“

Dienstag, 29. August 2017

(HarperCollins, 304 S., Pb.)
Sie ist gerade mal zwei Monate mit Geoffrey verheiratet gewesen, da erhält die Mikrobiologin Sarah Fontaine von Nick O’Hara, einem Mitarbeiter des US-Außenministeriums, die Nachricht, dass ihr Mann bei einem Hotelbrand in Berlin bis zur Unkenntlichkeit in seinem Bett verbrannt sei. Die unscheinbare Sarah ist fest davon überzeugt, dass es sich um ein Irrtum handeln muss, da Geoffrey sich in London aufhalte. Nachforschungen ergeben allerdings, dass er aus seinem Stammhotel mit unbekanntem Ziel ausgecheckt hat. Auch der mit seinem Job unzufriedene Nick O’Hara beginnt an der offiziellen Geschichte zu zweifeln, als sein Kumpel aus der IT-Abteilung, Tim Greenstein, herausfindet, dass Geoffrey Fontaine bis vor einem Jahr überhaupt nicht existiert hat und nur bei der CIA eine Akte über ihn existiert.
Sarah nimmt das nächste Flugzeug nach London, um ihren Mann zu finden, den sie noch am Leben glaubt. Und Nick, der bei seinem Chef Ambrose längst unten durch ist und ihm eine ‚längere Auszeit‘ verordnet hat, reist ihr hinterher, weil er nicht nur herausfinden will, was wirklich hinter der Sache steckt, sondern weil der seit vier Jahren geschiedene Mann Gefallen an Sarah gefunden hat. Beide müssen in Europa sehr schnell feststellen, dass Geoffrey Fontaine nicht nur ein Doppelleben mit einer anderen Frau geführt hat, sondern dass sie selbst zur Zielscheibe eines mysteriösen Mannes namens Magus geworden sind …
„In der Dunkelheit war ihr die Erkenntnis gekommen: Sie würde sterben. Mit dieser Sicherheit hatte sich ein seltsamer Frieden über die gelegt, die finale Akzeptanz, dass ihr Schicksal unausweichlich und es hoffnungslos war, sich dagegen wehren zu wollen. Ihr war zu kalt, und sie war zu müde, um sich noch groß darum zu scheren. Nach Tagen des Terrors sah sie ihren eigenen Tod näher kommen und sie wurde ganz ruhig.“ (S. 268) 
Bevor Tess Gerritsen ab 2001 ihre bis heute erfolgreiche Thriller-Serie um Detective Jane Rizzoli und die Pathologin Dr. Maura Isles begann, schrieb sie zunächst eine Reihe von romantischen Thrillern, bevor sie 1996 zu Medizin-Thrillern wechselte. Mit der Wiederveröffentlichung ihres Debütromans „Der Anruf kam nach Mitternacht“ aus dem Jahre 1987 wird deutlich, warum Gerritsen gut daran tat, nach ein paar Jahren das Genre zu wechseln. Zwar ist der Spionage-Thriller flüssig in leicht verständlicher Sprache geschrieben, doch kann sich die Autorin offensichtlich nicht entscheiden, ob sie eine Liebesgeschichte oder einen Spionage-Thriller erzählen will. Der Spionage-Plot ist dabei nur rudimentär ausgeprägt und folgt bis zum vorhersehbaren Finale sämtlichen Genre-Konventionen, ohne interessante Wendungen oder Themen zu verarbeiten. Sehr schnell wird aber die nicht wirklich überzeugende Liaison zwischen Sarah und Nick konstruiert und so sehr in den Vordergrund gerückt, dass die Spionage-Story nur als spannungstreibendes Element fungiert.
Für Gerritsen-Fans dürfte dieses unausgegorene Romantic-Thriller-Debüt nur zur Vervollständigung der Sammlung dienen, aber es lässt zumindest erahnen, dass die examinierte Internistin durchaus Talent zum Schreiben besitzt.

James Lee Burke – (Hackberry Holland: 1) „Zeit der Ernte“

Sonntag, 27. August 2017

(Heyne, 384 S., Pb.)
Mit seinem Bruder Bailey betreibt der 35-jährige Kriegsveteran Hackberry Holland nach seiner Rückkehr aus dem Koreakrieg 1967 eine Anwaltspraxis in einer texanischen Kleinstadt, nahe der mexikanischen Grenze. Doch statt Ölbarone wie R.C. Richardson mit ihren unmoralischen Geschäftspraktiken vor dem Gefängnis zu bewahren, würde er sich eigentlich lieber um seine Farm und Pferde kümmern.
Stattdessen wird er von dem pflichtbewussten Bailey, seiner standesbewussten Frau Verisa, US-Senator Allen B. Dowling und seinen einflussreichen Freunden aus der Öl- und Rüstungsindustrie dazu gedrängt, ein Amt als Kongressabgeordneter in Washington anzustreben. Schließlich hatte schon sein Vater ein politisches Amt bekleidet, er selbst verfügt über einen heldenhaften Ruf als im Koreakrieg verwundeter US-Navy-Sanitäter, der zweiunddreißig Monate in chinesischer Kriegsgefangenschaft überlebt hat, ohne eines der gefälschten Geständnisse zu unterschreiben, Kameraden anzuschwärzen und zum Feind überzulaufen.
Doch dann erhält Hackberry einen Hilferuf seines alten Kriegskameraden Arturo Gomez, der in Pueblo Verde wegen tätlichem Angriff gegen einen Texas Ranger im Gefängnis sitzt und als Gewerkschaftsmitglied schlechte Karten in dem von Rassendiskriminierung und Wirtschaftsinteressen geprägten Grenzstädtchen hat.
Mithilfe der attraktiven Gewerkschaftsaktivistin Rie wirbelt Hackberry ordentlich Staub in dem erzkonservativen Flecken auf und bringt dabei sowohl seinen Bruder als auch seine Frau und politischen Fürsprecher gegen sich auf. Trotz aller Widerstände gelingt Hackberry jedoch die Bewilligung des Berufungsantrags, doch dann wird Art plötzlich von zwei Schwarzen im Drogenrausch getötet. Sein vom übermäßigen Jack-Daniel’s-Gebrauch und traumatischen Kriegserinnerungen befeuertes Temperament sorgt für weitere gewalttätige Auseinandersetzungen und Probleme …
„Noch nie war ich derart müde gewesen. Ich war körperlich vollkommen entkräftet und fühlte mich, als hätte ich zehn Innings hinter mir und alles Pitches aus meinem Arsenal abgefeuert. In meinem Nacken hatte sich eine mit Flüssigkeit gefüllte Blase gebildet, die von der Verbrennung durch die Zigarrenspitze stammte, und eine längliche Beule, die sich anfühlte wie ein neu gewachsener Knochen, zog sich dort, wo der Junge mich mit dem Holzriegel erwischt hatte, über die Seite meines Schädels.“ (S. 333) 
Mit „Zeit der Ernte“ liegt endlich der langerwartete erste Teil der Hackberry-Holland-Reihe des aus Louisiana stammenden Schriftstellers James Lee Burke vor. „Lay Down My Sword & Shield“, so der Originaltitel, erschien bereits 1971, wurde aber ein Flop, so dass sich Burke erst einmal mit Gelegenheitsjobs und übermäßigem Alkoholkonsum beschäftigte, ehe er 1987 mit dem Start seiner bis heute erfolgreichen Reihe um den Südstaaten-Sheriff Dave Robicheaux wieder Oberwasser bekam.
„Zeit der Ernte“ führt den Leser zurück ins Jahr 1967. Hackberry Holland fungiert als Ich-Erzähler und rekapituliert zunächst in kurzen Zügen die turbulente Familiengeschichte, ehe er demonstriert, wie er sich von seiner Frau Verisa entfremdet hat und stattdessen seine bösen Erinnerungen an den Koreakrieg mit Jack Daniel’s und Prostituierten betäubt. Im späteren Verlauf der Geschichte werden die Erlebnisse in der Kriegsgefangenschaft detailliert aufgearbeitet, bis dahin lassen sich Hackberrys temperamentvolle Entgleisungen nur vage erklären.
Eindrucksvoll schildert Burke nicht nur die texanische Vegetation und gesellschaftspolitische Atmosphäre, sondern auch den schwierigen Kampf der armen Feldarbeiter für einen gerechten Lohn, gegen die Rassendiskriminierung, die auch nicht bei den Ordnungshütern Halt macht. Die Erzählung wirkt stellenweise etwas sprunghaft, nicht nur in chronologischer Hinsicht, sondern auch in örtlicher und personeller. In schneller Folge wechselt Hackberry von einem Ort zum anderen, hält hier eine Rede vor seinen potentiellen Wählern und lässt wiederum andere sausen. Szenen einer gescheiterten Ehe wechseln mit romantischen Angelausflügen, die Hackberry mit seiner neuen Flamme Rie unternimmt, kurze Besuche in der eigenen Praxis weichen Auseinandersetzungen mit Texas Rangers, die aggressiv gegen Streikposten vorgehen. Das schadet letztlich dem Spannungsaufbau, doch bei aller Sprunghaftigkeit in der Dramaturgie bleibt das Unbehagen über die geschilderten Ereignisse über den ganzen Roman hinweg bestehen.
Es ist erschreckend, wie aktuell die 1971 geschriebene Geschichte heute noch ist, wenn man an die jüngsten Entgleisungen in Charlottesville, Virginia, denkt, wo fackeltragende Neonazis durch die Stadt marschierten, Naziparolen skandierten und ein Auto in eine Menschengruppe raste, wobei drei Menschen getötet wurden – und der US-amerikanische Präsident Trump sich nicht von diesen Extremisten distanzierte. Burke ist sich bewusst, dass seine Romane keine gesellschaftspolitischen Lösungen anbieten, wohl aber welche für das Individuum, wie der Autor in einem aktuellen Nachwort zur deutschen Ausgabe betont. In diesem Sinne ist „Zeit der Ernte“ weniger als klassischer Krimi zu verstehen, sondern eher als Plädoyer für die Menschlichkeit. 
Leseprobe James Lee Burke - "Zeit der Ernte"

James Lee Burke – (Dave Robicheaux: 4) „Flamingo“

Freitag, 25. August 2017

(Pendragon, 476 S, Pb./Edel:eBooks, 348 S., eBook)
Zusammen mit seinem Kollegen, dem Kriminalbeamten Lester Benoit, ist Dave Robicheaux dafür zuständig, die beiden zum Tode verurteilten Mörder Tee Beau Latilais und Jimmie Lee Boggs in den Todestrakt des Staatsgefängnisses von Louisiana zu überführen. Doch bei dem Zwischenhalt an einer Tankstelle gelingt den beiden Gefangenen nicht nur die Flucht, sie töten auch Benoit und lassen Robicheaux angeschossen zurück.
Während bei Tee Beau durchaus Zweifel an seiner Schuld angebracht sind, hat Robicheaux auch ein sehr persönliches Interesse, Boggs in seine Hände zu kriegen. Um an ihn ranzukommen, lässt er sich sogar darauf ein, als Undercover-Agent für die DEA zu arbeiten. Sein Kontaktmann Minos Dautrieve streut das Gerücht, dass Robicheaux gefeuert worden ist, weil er Dreck am Stecken hat, und versorgt den Undercover-Agenten mit 50.000 Dollar, mit denen er das Interesse von Tony Cardo wecken soll. Dort soll Boggs nämlich auch auf der Gehaltsliste stehen.
Zwar kann Robicheaux recht schnell das Vertrauen des Gangsterbosses gewinnen, der wie er selbst auch mit einem Trauma aus Vietnam zurückgekehrt ist, doch seinen alten Kumpel vom Morddezernat in New Orleans, Cletus Purcel, als Rückendeckung mit ins Boot zu holen, gestaltet sich schwieriger.
Während Robicheaux allmählich in Cardos inneren Kreis vordringen kann, trifft er mit Bootsie auch seine erste Liebe wieder.
„Die Einsamkeit und die Jahre hatten mir zugesetzt, und obwohl ich mehr als ein halbes Jahrhundert auf dem Buckel hatte, war ich zu dem Schluss gekommen, dass ich zu den Menschen gehörte, die nie mit Sicherheit wissen würden, wer sie wirklich waren. Hinter all den Gedanken, die ich über mich selbst machte, würde immer ein Fragezeichen stehen – meine einzige Identität lag in dem Abbild meiner selbst, das ich in den Augen anderer sah.“ (S. 91) 
Mit seinem vierten Dave-Robicheaux-Roman „Flamingo“ hat der aus Louisana stammende Autor James Lee Burke einmal mehr ein atmosphärisch stimmiges Meisterwerk geschaffen, das weit mehr bietet als einen Kriminalfall, sondern auch tief in die Seele des amerikanischen Südens taucht, traumatische Erinnerungen an den verheerenden Krieg in Vietnam aufleben lässt und präzise die moralischen Konflikte beschreibt, mit denen sich Robicheaux auseinandersetzen muss.
Die Grenzen zwischen Gut und Böse verschwimmen, je mehr Robicheaux Zeit mit Cardo und seinem behinderten Sohn verbringt, aber auch der Neuanfang der Beziehung zwischen Dave und Bootsie ist einfühlsam geschildert.
„Flamingo“ bietet eine packende Story, eine tolle Atmosphäre, interessante, vielschichtige Figuren und ein fesselndes Finale.
Leseprobe James Lee Burke - "Flamingo"

Alessandro Baricco – „Die junge Braut“

Sonntag, 20. August 2017

(Hoffmann und Campe, 208 S., HC)
Seit einhundertdreizehn Jahren sind in der Familie alle nachts gestorben. Diese Tatsache und die daraus resultierende Angst hat zu einigen Eigenheiten in dem Gutshaus geführt, in dem der an einer „Ungenauigkeit des Herzens“ leidende Vater, die immer noch schöne Mutter, der immermüde Onkel und die hinkende Tochter mit dem Angestellten Modesto und zwei Kammerdienern leben.
Zu den Regeln des Zusammenlebens zählt nicht nur, die Nacht zu fürchten und Unglück nicht zu erwünschen, sondern auch keine Bücher zu besitzen, weil die Familie ein so großes Vertrauen zu den Dingen und sich selbst hat, dass Bücher als Trostpflaster nicht notwendig sind, und dem Vater keinem Risiko zum Sterben auszusetzen.
Während sich die Familie ihrem allmorgendlichen ausgiebigen Frühstück widmet, erhält sie unerwarteten Besuch eines achtzehnjährigen Mädchens, das dem Sohn versprochen worden ist. Der ist allerdings in England, seine Rückkehr ungewiss. Während die junge Braut auf ihren Liebsten wartet, erfährt sie durch die verschiedenen Mitglieder der Familie, dass der Vater gar nicht der richtige Vater ist, dass die Tochter eigentlich mit dem Onkel liiert ist, und die Mutter weiht die junge Frau in die Kunst der Liebe ein.
Als die Familie zu ihrem Sommerurlaub aufbricht, bleibt die Braut im Haus und wartet auf die Ankunft ihres Mannes, von dem seit langer Zeit nichts mehr zu hören gewesen ist. Doch statt ihres Geliebten taucht der fiebrige Onkel unerwartet auf.
„Alles, was sie bis jetzt getan hatte, sah sie wieder vor sich, schöne Gesten, die sie zu keinem Zeitpunkt aufgegeben hatte, und sie erkannte, dass diese Handlungen seit der Ankunft dieses Mannes ohne Freude und ohne Vertrauen verrichtet wurden.
Ich habe aufgehört zu warten, dachte sie.“ (S. 176) 
In seinem neuen Roman „Die junge Braut“ erzählt der aus Turin stammende Autor Alessandro Baricco („Seide“, „Smith & Wesson“) die Geschichte einer ungewöhnlichen Familie, die durch außergewöhnliche Ereignisse verschiedene Eigenheiten ausgebildet hat, zu denen die täglichen ausufernden Frühstücksgelage noch zu den harmloseren zählen. Durch die Ankunft der jungen Braut werden dem Leser so einige schlüpfrige Zusammenhänge aus der Familienchronik zugänglich gemacht, von denen die einzelnen Familienmitglieder und Modesto der aufgeweckten jungen Frau erzählen. Wie sie mit diesen teils erstaunlichen Geschichten umgeht und die Freuden der körperlichen Liebe kennenlernt, beschreibt Baricco in gewohnt betörender Sprache, die den Leser von Beginn an in den Bann zieht.
Darüber hinaus verzaubert die Geschichte aber auch durch ihre Hommage an die Kraft von Träumen und Erinnerungen, schicksalhaften Entscheidungen und ungewöhnlichen Einstellungen zu Liebe, Verführung und Leidenschaft.