Joe R. Lansdale – „Straße der Toten“

Freitag, 17. November 2017

(Golkonda, 285 S., Pb.)
Reverend Jebidiah Mercer betrachtet sich als Vollstrecker des Herrn, als Mann, der die Sünde ausmerzt, und zwar nicht nur mit Gottes Wort, sondern auch tatkräftig und zielsicher mit seinem umgebauten 36er Navy-Colt bewaffnet, den er in einem breiten Tuch über seinem Hosenbund trägt. Zu seinem strengen Gesichtsausdruck, der seinem Amt durchaus angemessen scheint, gesellt sich auch etwas sehr Unpriesterliches, das sich in den stahlblauen Augen widerspiegelt.
Als er mit seinem Pferd in die osttexanische Kleinstadt Mud Creek kommt, wo er sich ein Zelt mieten möchte, um einen Abendgottesdienst abhalten zu können, erfährt er vom dem dort praktizierenden Doc, dass vor einiger Zeit ein Indianer und seine farbige Gefährtin durch den Deputy Caleb gelyncht worden sind, weil ihnen vorgeworfen wurde, die Tochter von David Webb umgebracht zu haben.
Dabei hatten die beiden seit ihrer Ankunft in Mud Creek mit ihren Heiltränken vielen Kranken helfen können, bei denen der Doc mit seinem Mediziner-Latein am Ende gewesen war. Doch als sie das schwerkranke Webb-Mädchen nicht retten konnten, machten Caleb und sein Gefolge kurzen Prozess mit den Wunderheilern. Bevor der Indianer aufgeknüpft und die Frau bestialisch ermordet und zerstückelt wurde, sprach der Indianer einen Fluch in einer Sprache aussprach, die der Doc aus Büchern wie dem „Necronomicon“, „De Vermis Mysteriis“ und „Unaussprechliche Kulte“ kannte. Tatsächlich hat der Doc seither einige merkwürdige Todesfälle zu beurkunden, aktuell den Bankdirektor und Säuferkönig Nate Foster.
In kurzer Zeit verwandelt sich Mud Creek in eine Zombie-Stadt, die von dem rachsüchtigen Dämon in der Gestalt des gehängten Indianers angeführt wird. Zusammen mit dem Doc, seiner Tochter Abby und dem unerschrockenen Jungen David nimmt der Reverend den Kampf auf …
„Er war ein Mann des Herrn. Und er hasste Gott. Er hasste diesen Scheißkerl von ganzem Herzen.
Er wusste auch, dass Gott das wusste, und dass es ihm egal war, denn Jebidiah war sein Sendbote. Keiner aus dem Neuen Testament, sondern einer aus dem Alten: gnadenlos und unerbittlich, rachsüchtig und kompromisslos. Ein Mann, der Moses die Beine unterm Hintern weggeschossen und dem Heiligen Geist ins Gesicht gespuckt und ihn skalpiert hätte, nur um die himmlische Haarpracht in alle vier wilden Winde zu schleudern.“ (S. 154) 
„Straße der Toten“ vereint erstmals alle Geschichten, die der texanische, mit Preisen wie dem American Mystery Award, dem Edgar Award und dem Bram Stoker Award ausgezeichnete Autor Joe R. Lansdale („Ein feiner dunkler Riss“, „Kahlschlag“) um den charismatischen Reverend Jeb Mercer in den Jahren zwischen 1984 und 2010 veröffentlicht hatte. Neben dem Roman „Dead In The West“, der zwischen 1984 und 1987 in vier Teilen in „Eldritch Tales“ veröffentlicht wurde, vereint der Sammelband noch die Geschichten „Straße der Toten“, „Das Gentleman’s Hotel“, „Der schleichende Himmel“ und „Tief unter der Erde“, die weitere Abenteuer des außergewöhnlich kampflustigen Priesters erzählen, der sich mit Werwölfen, Zombies und Gespenstern auseinandersetzt.
Wie der Autor selbst im Vorwort ausführt, war er als Kind von Comics und Filmen inspiriert, und was ihn besonders faszinierte, war die Vermischung von Genres wie Science-Fiction, Western, Horror, Fantasy und Liebesgeschichten. Vor allem gefielen ihm die Universal-Horrorfilme, dann die trashigen Produktionen von Roger Corman und Westernserien wie „Gunsmoke“, „Maverick“, „Wanted Dead or Alive“ und „Have Gun“. Aus der Idee, selbst ein Drehbuch für einen Weird Western zu schreiben, entstand Anfang der 1980er „Dead In The West“, mit dem Lansdale sich – nach „Akt der Liebe“ (1981) – allmählich als ernstzunehmender Horror-Autor etablierte. Auf originelle Weise vereinte er hier klassische Western-Motive mit den Topoi des Grauens, wie wir ihn von H.P. Lovecraft, Arthur Machen oder Algernon Blackwood kennen, zu einem wilden Ritt, bei dem viel Blut fließt und Gotteslästereien zu lesen sind, aber auf so humorvolle, temporeiche Weise, dass nicht nur Roger Corman seine helle Freude an dem unterhaltsamen Stoff hätte.
In der Werksbiografie nehmen die Geschichten rund um Reverend Jeb Mercer fraglos eine (trashige) Sonderstellung ein, aber Lansdale-Fans dürften trotzdem ihren Spaß dabei haben, auch wenn sich die Geschichten in Aufbau und Entwicklung ähneln und nur die übernatürlichen Wesen eine andere Form annehmen. Ebenso sind die Charaktere längst nicht so fein gezeichnet, wie wir es von Lansdales Meisterwerken „Die Wälder am Fluss“ oder „Dunkle Gewässer“ gewohnt sind, aber das trifft auf die legendären Pulp-Geschichten auch nicht zu.

John Niven – „Alte Freunde“

Samstag, 11. November 2017

(Heyne, 352 S., HC)
Der renommierte Restaurantkritiker und Buchautor Alan Grainger ist am Nachmittag gerade auf der Suche nach einer ruhigen Ecke im Soho House oder Groucho, wo er die Rezension über den Pop-up-Store, den er gerade besucht hat, zu schreiben plant, als ihm an einer Straßenkreuzung ein Penner mit schottischem Akzent anspricht. Wie sich nach einem kurzen Wortwechsel herausstellt, sitzt da ausgerechnet sein alter Schulfreund Craig Carmichael auf einem Stück Pappkarton. Bei einem Bierchen in einem nicht so noblen Laden tauschen sie Erinnerungen und Lebensgeschichten aus. Zuletzt hatten sich Alan und Craig bei einem Konzert von Craigs Band The Rakes im Jahre 1993 gesehen, nachdem die Band von einer erfolgreichen Tour durch Amerika zurückgekehrt war, und als Headliner im QM in Glasgow den Start ihrer UK-Tour absolvierte.
Alan hatte zu Jugendzeiten immer zu dem teuflisch talentierten Gitarristen Craig aufgesehen, durfte in der Anfangszeit der Band auch mal den Bass zupfen, doch als Craig ein echter Star im Rockzirkus wurde, hatte er ihn aus den Augen verloren. In der Zwischenzeit ist Craig allerdings fürchterlich abgestürzt: schon das zweite Album floppte, Craig ging pleite und verfing sich im Drogensumpf und kehrte nach London zurück.
Währenddessen lernte Alan die aus wohlhabendem Hause stammende Katie kennen, mit der er zwei Töchter und einen Sohn hat und in einem großen Haus außerhalb Londons lebt. Alan quartiert seinen alten Freund zunächst im Gästezimmer ein, will ihm wieder auf die Beine helfen. Tatsächlich erreicht er, dass Craig noch 32.000 Pfund an Tantiemen ausgezahlt bekommt, sich eine eigene Wohnung und neue Zähne leisten kann, ja sogar seine musikalische Karriere wieder in Schwung bringt. Dagegen häufen sich bei Alan die Unglücksfälle. Zunächst erhält Katie ein Handyvideo, auf dem zu sehen ist, wie Alan von einer Unbekannten im eigenen Haus einen Blowjob genießt, so dass er ausziehen muss, dann sitzt ihm das Finanzamt mit einer Untersuchung im Nacken und sperrt ihm die Konten und Kreditkarten. In wenigen Wochen befindet sich Alan genau dort, wo er Craig vor einigen Monaten gefunden hatte …
„Was war passiert? Eben noch hatte er eine wundervolle Frau, eine wundervolle Familie und ein wundervolles Zuhause, und nur eine Minute später war er mittellos und hauste in einem beschissenen Billighotel. Sein Leben war wie eines dieser GIFs auf Hold My Beer. Er war der Typ, der im Lagerhaus einen Gabelstapler wendet. Erst ist alles bestens, aber dann stößt er gegen ein Regal, und zwei Sekunden später sieht es aus, als hätte jemand eine Bombe gezündet. Wie Ground Zero.“ (S. 296) 
Der schottische Bestsellerautor John Niven („Old School“, „Gott bewahre“) erweist sich auch in seinem neuen Werk als feiner Kenner der Materie, über die er schreibt. Als ehemaliger A&R-Manager bei einer Plattenfirma fällt es ihm nicht schwer, den rasanten Auf- und ebenso schnellen Abstieg von Alans Freund Craig authentisch zu skizzieren. Humorvoll ist aber vor allem Alans Alltag und Lebensumfeld beschrieben. Dabei gelingt es ihm, Alan zwar nicht als Supersympathisant zu zeichnen, aber eben als aufrechten Mann, der seine Berufung in dem Schreiben von Kochbüchern mit ausgefallenen Themen und Restaurantkritiken gefunden hat und durch seine wohlhabende Frau keine finanziellen Sorgen kennt, ohne aber auf dicke Hose zu machen.
Niven hat sichtlich Spaß daran, den Hype um neue Restaurants mit überteuerten Gerichten und langen Wartezeiten durch den Kakao zu ziehen, aber auch die Kolumnentätigkeit seiner Frau wird in einer herrlichen Persiflage auf den Wohlfühl- und Gesundheitswahn wunderbar kommentiert. So richtig derben Humor präsentiert Niven seinen Fans in einer seitenlang beschriebenen Episode darüber, wie Alan mit seinem problematischen Stuhlgang der Sanitäranlage in dem uralten Landsitz von Katies Eltern den Rest gibt und damit die feine Gesellschaft im Speisesaal in die Flucht schlägt. Überhaupt zählen die Szenen, in denen die High Society auf das Elend trifft, das zunächst Craig, dann auch Alain verkörpern, zu den gelungensten in „Alte Freunde“, weil Niven auf ebenso humorvolle wie pointiert treffsichere Weise die dem Roman vorangestellten Sprichwort „Keine gute Tat bleibt ungesühnt“ und F. Scott Fitzgeralds Zitat „Nichts ist widerwärtiger als das Glück anderer Leute“ auf literarische Weise zum Leben erweckt. Dabei berührt er auch Fragen nach dem Ursprung und dem Wesen von (Männer-)Freundschaften, nach Glück, Dankbarkeit und Neid sowie der Bedeutung von materiellem Reichtum. Selten wurde eine Achterbahnfahrt durch das Leben so leichtfüßig, gut beobachtet und dabei so unglaublich witzig beschrieben. 
Leseprobe John Niven - "Alte Freunde"

Lawrence Block (Hrsg.) – „Nighthawks – Stories nach Gemälden von Edward Hopper“

Freitag, 10. November 2017

(Droemer, 320 S., HC)
Der amerikanische Maler Edward Hopper (1882-1967) wird gern und sicher zurecht als Chronist der amerikanischen Zivilisation bezeichnet, in der vor allem die Isolation des modernen Menschen thematisiert wird. So sitzen in seinem wohl berühmtesten Gemälde „Nighthawks“, das Titel und Cover der vorliegenden Anthologie ziert, drei Gäste in einer Bar, die scheinbar nicht miteinander kommunizieren und in ihre eigenen Gedanken versunken sind, flankiert von einem beschäftigten Barkeeper. Dieses und 16 weitere Gemälde Hoppers dienten den Schriftstellern, die Lawrence Block für seinen Sammelband begeistern konnte, als Inspiration für die Geschichten, die eigentlich in Hoppers Werken zu finden sind, aber bislang nicht erzählt wurden.
Block, der selbst mit seinen Krimis um den Buchhändler und Einbrecher Bernie Rhodenbarr, den Auftragsmörder Keller und den alkoholkranken Privatdetektiv Matthew Scudder ein gefeierter Autor ist und zu Hoppers „Automat“ (1927) eine Geschichte beigesteuert hat, beschreibt in seinem Vorwort:
Hopper war weder Illustrator noch narrativer Künstler. Seine Bilder erzählen keine Geschichten. Stattdessen vermitteln sie – kraftvoll und unwiderstehlich – den Eindruck, dass sich darin Geschichten verbergen, die nur darauf warten, erzählt zu werden. Er zeigt uns einen Moment, auf die Leinwand gebannt; eindeutig hat dieser Vergangenheit und Zukunft, doch es ist an uns, sie zu entdecken.“ (S. 10) 
Die Auswahl der Bilder für ihre Geschichten blieb den Autoren vorbehalten. Manchmal wird der Bezug zum ausgewählten Gemälde gleich in den ersten Sätzen deutlich, manchmal ist es nur eine Stimmung, die das Gemälde für den Schriftsteller ausstrahlt und eine Geschichte in Bewegung setzt. So erzählt Jill D. Block in „Die Geschichte von Caroline“ die Begegnung zwischen der bei Pflegeeltern aufgewachsenen Hannah und ihrer leiblichen Mutter Grace, die sie als Pflegekraft für ihren im Sterben liegenden Mann Richard engagiert hat, während auf dem dazugehörigen Bild „Summer Evening“ (1947) ein junger Mann und eine junge Frau nachts auf der Veranda an der Mauer lehnen. Robert Olen Butler hat dagegen in seiner Story „Abenddämmerung“ sehr konkret die Figurenkonstellation auf dem Bild „Soir Bleu“ (1914) mit einem Clown auf der Veranda, zwei Männern, die ihm am Tisch gegenübersitzen, und einer dabeistehenden Frau als Ausgangspunkt für eine Geschichte über die Erinnerung des Ich-Erzählers über seine Begegnung mit einem Pierrot in jungen Jahren genommen.
Und Michael Connelly lässt den Helden seiner Romanreihe um Detective Bosch auch in „Nachtfalken“ auftreten, wobei Bosch als Privatermittler den Hintergrund einer jungen Frau erforschen soll, die zur Inspiration für ihre Ambitionen als Schriftstellerin ins Museum geht, um Hoppers Gemälde „Nighthawks“ zu studieren.
Zwar sind in Deutschland nicht alle hier versammelten Autoren bekannt, aber auch die neben den Thriller-/Krimi-/Horror-Autoren Lee Child, Joyce Carol Oates, Jeffery Deaver, Joe R. Lansdale und Stephen King hierzulande nicht bekannten Schriftsteller tragen zur äußerst gelungenen Anthologie bei, die über verschiedene literarische Genres hinweg doch immer eindringlich die melancholisch-lakonische Stimmung in Hoppers Gemälden einfängt. Dazu lädt die wunderschöne Gestaltung des Hardcover-Hochglanz-Buches einfach auch dazu ein, sich selbst von den den einzelnen Geschichten vorangestellten Abbildungen inspirieren zu lassen.
Leseprobe Lawrence Block - "Nighthawks"

Ross Macdonald – (Lew Archer: 11) „Unterwegs im Leichenwagen“

Montag, 6. November 2017

(Diogenes, 418 S., Pb.)
Kurz bevor die 24-jährige Harriert Blackwell Zugriff auf ihr beträchtliches Erbe erhält, lernt sie in Mexiko den attraktiven Maler Burke Damis kennen und will ihn unbedingt heiraten. Ihr strenger Vater, Colonel Blackwell, ist alles andere als begeistert von den Plänen seiner rebellischen Tochter und setzt Privatdetektiv Lew Archer darauf an, der den Hintergrund von Harriets großen Liebe erkunden und schließlich das geflüchtete Paar auffinden soll.
Recht schnell findet Archer heraus, dass Damis sich bei der Überquerung der mexikanischen Grenze einen neuen Namen zugelegt hat: Quincy Ralph Simpson. Der ursprüngliche Träger dieses Namens wurde kurz zuvor mit einem Eispickel erstochen. Und Damis heißt eigentlich Bruce Campion, der wegen Mordes an seiner Frau gesucht wird. Als Harriets blutbefleckter Hut an einem See gefunden wird, befürchten Archer und Blackwell das Schlimmste. Derweil macht sich Archer auf die Reise durch ganz Kalifornien bis nach Mexiko, um Harriets und Campions Spur zu folgen. Dabei spielt vor allem ein abgerissener Knopf vom Mantel des ermordeten Simpson eine Schlüsselrolle bei der Aufklärung des Falls – sowie ein in der Gegend herumfahrender Leichenwagen, in dem junge Leute die Strände nach der nächsten großen Welle abfahren.
„Eine der Vermutungen war zur Gewissheit geworden, seit ich erfahren hatte, dass der Tweedmantel nahe beim Strandhaus der Blackwells gefunden worden war: Der Fall Blackwell, der Fall Dolly Campion und der Fall Ralph Simpson hingen miteinander zusammen. Dolly und Ralph und wahrscheinlich auch Harriet waren von ein und derselben Hand getötet worden, und der Mantel konnte mich zu dieser Hand führen.“ (S. 307f.) 
Natürlich ist auch bei diesem Fall nichts so, wie es zunächst scheint. Aus der anfangs sicher berechtigten Sorge eines Vaters, dass seine einzige Tochter das naive Opfer eines Erbschleichers werden könnte, entwickelt sich ein vertracktes Geflecht aus einem raffinierten Spiel mit Identitäten, ungeklärten Schwangerschaften und komplizierten Verwandtschaftsbeziehungen, Freund- und Liebschaften, das Archer mit viel Geduld, intensiver Reisetätigkeit und Hartnäckigkeit allmählich zu entschlüsseln versteht. Mit nahezu jeder Begegnung und Befragung erhält Archer ein neues Puzzleteil, bis sich zum Schluss der große, überraschende Zusammenhang ergibt.
Bis dahin erlebt der Leser eine faszinierende Schnitzeljagd, bei der ihm die unterschiedlichsten Figuren mit durchaus eigenwilligem Charakter begegnen, die Archer mit seiner einfühlsamen Art aber zu durchdringen vermag. Wie Donna Leon im Nachwort zur überaus gelungenen Neuübersetzung des 1962 im Original veröffentlichten Krimis feststellt, sind die beschriebenen Beziehungen in dem Roman sehr unausgewogen, Hass und weniger erwiderte Liebe prägen die Atmosphäre. Ross Macdonald erweist sich hier einmal mehr als vollendeter Stilist mit einem ausgeprägten Sinn für lebendige Dialoge und fein gezeichnete Charaktere.
Leseprobe Ross Macdonald - "Unterwegs im Leichenwagen"

Richard Laymon – „Das Auge“

Donnerstag, 2. November 2017

(Heyne, 336 S., Tb.)
Mitten in einem Konzert des Streichquartetts, in dem seine Freundin Melanie mitwirkt, muss Bodie mitansehen, wie Melanie keuchend mit einem krampfartigen Zittern zu Boden sackt. Als sie wieder zu sich kommt, erzählt sie Bodie von einer Vision, in der sie ihren Vater tot sah. So eine starke Vision hatte sie bislang nur einmal, als ihre Mom getötet wurde. Um festzustellen, ob es ihrem Vater Whit gut geht, machen sich Bodie und Melanie auf die lange Fahrt von Phoenix nach Brentwood in Kalifornien. Tatsächlich finden sie Melanies Vater im Krankenhaus vor, nachdem er auf dem Parkplatz seines Lieblingsrestaurants angefahren worden war.
Die beiden Reisenden könnten bei Melanies Schwester Pen unterkommen, die zudem von obszönen Anrufen belästigt wird, doch stattdessen richten sie sich im Haus ihres Vaters und seiner neuen Frau Joyce ein. Melanie wird das Gefühl nicht los, dass Joyce zusammen mit Harrison, dem Partner ihres Mannes, dafür verantwortlich gewesen ist, dass dieser nun im Krankenhaus mit dem Tod ringt. Doch während vor allem Melanie darauf erpicht ist, in Harrisons Haus nach Spuren des Verbrechens zu suchen, kommen sich Bodie und Pen näher …
„Die haben dich echt beschissen, Whit. Aber so richtig. Dein Kanzleipartner und deine liebe Frau. Solltest du je wieder zu dir kommen, warten ein paar böse Überraschungen auf dich.
Aber haben sie dich überfahren? Das ist die große Frage. Eine hübsche Vorstellung, sie dafür büßen zu lassen, falls sie verantwortlich sind.“ (S. 211) 
Nachdem allein der Heyne Verlag in den letzten Jahren über 25 Titel des 2001 verstorbenen Horror-Schriftstellers Richard Laymon veröffentlicht hat, schließt „Das Auge“ eine der letzten Lücken in der Werksbiografie des populären, aber auch polarisierenden Amerikaners. Der im Original 1992 veröffentlichte Roman gehört zu Laymons mittlerer, sehr produktiver Schaffensperiode, aber fraglos nicht zu seinen besten Werken. Zwar hält Melanies Vision zu Anfang ein übernatürliches Element parat, doch davon abgesehen bietet „Das Auge“ einen eher konventionellen Thriller-Plot, in dem ein Pärchen einer familiären Verschwörung auf den Grund zu kommen versucht.
Die Dramaturgie ist bei dem sehr überschaubaren Figurenensemble allerdings überraschend zähflüssig ausgefallen, und auch der bei Laymon sonst ausgeprägte Splatter- und Sex-Faktor hält sich stark in Grenzen. Obwohl sich der Plot eigentlich wie ein Kammerspiel nur innerhalb der Familie abspielt, sind die Charakterisierungen der Figuren erschreckend dünn ausgefallen, ihre Motivationen und Handlungen nicht immer schlüssig nachzuvollziehen.
Zum Ende hin nimmt die Story endlich an Fahrt auf, doch die wunderbare Schlusssequenz kann leider nicht über ein sonst eher schwaches Laymon-Werk hinwegtäuschen. 
Leseprobe Richard Laymon - "Das Auge"

Fabio Volo – „Seit du da bist“

Sonntag, 29. Oktober 2017

(Diogenes, 311 S., Pb.)
Der ungefähr vierzigjährige Nicola ist überzeugter Single und Schürzenjäger. Als sein Freund Mauro daheim seine Freundin Michela mit einem anderen Mann im Bett erwischt, unternehmen die drei Freunde Mauro, Nicola und der verheiratete Sergio wie in früheren Zeiten einen gemeinsamen Trip nach Rom. Dort lernt Nicola die umwerfende Sofia aus Bologna kennen. Er ist hin und weg von ihr, obwohl sie ganz anders ist als die Frau, von der er immer geträumt hatte. Nachdem sie die Wochenenden gemeinsam entweder in Mailand oder bei ihr in Bologna verbracht haben, zieht Sofia zu Nicola in seine kleine Dachwohnung im Zentrum von Mailand. Doch die anfängliche Euphorie über das unvorstellbare Liebesglück weicht dem anstrengenden Alltag, als Sofia schwanger wird und Leo fortan den Tagesablauf bestimmt.
Über das Kümmern um das Baby verlieren sich Nicola und Sofia aus dem Blick, die Leidenschaft und das Vertrauen verkümmern über den kleinen Lebenslügen, mit denen sich Nicola seine Freiräume erkämpft, bis er sich auf dem Sofa seines Freundes Mauro wiederfindet.
„Von dem Leben, das uns erwartete, hatten wir eine völlig falsche Vorstellung. Ich dachte, bis auf ein bisschen Durcheinander und wenig Schlaf würde alles so weitergehen wie zuvor, vor allem meine Beziehung zu Sofia.
Wenn uns Freunde ihre Horrorgeschichten erzählten, dachten wir immer, so etwas könnte uns nicht passieren. Wir waren ja nicht wie sie. […] Keiner von uns beiden hätte sich je vorstellen können, irgendwann einen völlig Fremden vor sich zu haben.“ (S. 149) 
Der in Mailand lebende Autor, Schauspieler und Moderator Fabio Volo hat bereits in seinen früheren Bestsellern wie „Lust auf dich“, „Noch ein Tag und eine Nacht“, „Zeit für mich und Zeit für dich“ und „Einfach losfahren“ auf humorvolle, leichtfüßige aber auch lebensnahe Weise von den Herausforderungen im Leben und vor allem in der Liebe geschrieben. Und auch das aus der Perspektive seines Protagonisten Nicola geschriebene „Seit du da bist“ wirkt wie das authentische Dokument einer wunderbaren Verwandlung, diesmal eines überglücklichen Liebespaares zu einem Familientrio, in dem das Neugeborene fortan die ganze Aufmerksamkeit für sich beansprucht.
Zwar sind es vor allem Nicolas Gedanken und Gefühle, die der Leser vermittelt bekommt, aber die von ihm geschilderten Eindrücke und Empfindungen entsprechen bei aller persönlichen Note doch generell den Herausforderungen, die Liebespaare durch die Geburt eines Kindes meistern müssen. Einfühlsam lässt Volo seinen männlichen Protagonisten zunächst in Erinnerungen an das erste Kennenlernen und die folgenden leidenschaftlichen Begegnungen zwischen Nicola und Sofia schwelgen, um dann der Frage auf den Grund zu gehen, wie die beiden zu den Menschen geworden sind, die sich kaum noch etwas zu sagen haben, die ständig übernächtigt, gereizt und erschöpft sind, nicht mehr willens, auf den anderen zuzugehen, ihn zu verstehen oder gar noch zu begehren.
Es ist eine Achterbahn der Gefühle, die der Italiener in „Seit du da bist“ inszeniert, wobei er mit sehr lebendigen Dialogen auch Sofias Sicht auf die Dinge einbringt und zum Ende hin wundervoll beschreibt, wie Nicola und Sofia wieder die Kurve bekommen.
Zu dieser Leichtigkeit, mit der die großen Fragen des Lebens thematisiert werden, ist auch nur Fabio Volo in der Lage.
Leseprobe Fabio Volo - "Seit du da bist"

Sascha Lemon – „Schattenbrandung“

Samstag, 28. Oktober 2017

(books2read, 282 S., eBook)
Die Hobby-Fotografin Lena Kastor plagt das schlechte Gewissen. Statt zuhause bei ihrer Familie zu sein, hat sie vorgegeben, für ihr Fotobuchprojekt zu den Dragonfalls-Klippen zu fahren. Tatsächlich hat sie sich mit ihrem Liebhaber Jake im Hotel „Noble Inn“ vergnügt. Nun erkundigt sich ihr Mann Jo am Telefon nach ihrer gemeinsamen Tochter Jenna. Tags zuvor hatte Lena ihr noch verboten, auf eine Party zu gehen, um zu vermeiden, dass sie sich auf den windigen Mädchenschwarm Todd Rhioghan einlässt. Allerdings ist das Teenager-Mädchen am Samstagmorgen nirgends aufzufinden, weder zuhause noch bei ihrer Freundin Amy.
Jennas Verschwinden spitzt die unterschwellige Krise in der Kastor-Familie weiter zu. Seit Lena ihren Job wegen der Kindererziehung aufgegeben hat und mit ihrer Familie von Hamburg nach Schottland gezogen ist, wo sich der Firmensitz von Jos Brötchengeber befindet, bricht die Familie zunehmend auseinander. Lenas volljähriger Bruder Eric wird wegen der Suche nach ihr gar nicht erst benachrichtigt. Er ist zum Studium nach Edinburgh gezogen, verliert wegen seiner Unzuverlässigkeit aber sowohl seinen Kellner-Job als auch das Praktikum bei der Zeitung. Seine finanzielle Misere scheint er nur beheben zu können, indem er für den Drogendealer Michael Fitzpatrick arbeitet, der auch Erics eigenen Pillenkonsum sicherstellt.
Während die Polizei noch nicht tätig wird, machen sich Jo und Lena selbst auf die Suche nach ihrer Tochter. Dabei will Jake unbedingt bei Lena bleiben, während sich Jo in Amys Mutter Caitlyn verguckt hat. Nach einem unglücklichen Todesfall macht sich Gewalt und Verzweiflung in der schottischen Provinz Groom breit, und vor allem Lena hegt den Verdacht, dass Jennas Verschwinden der prekären familiären Situation geschuldet ist …
„Jenna hatte einem völlig Fremden gegenüber ausgesprochen, was mir, Eric und sicher auch Jo längst hätte klar sein müssen: Wir waren als Familie gescheitert. Jenna muss verstanden haben, dass die Affäre zwischen Jake und mir eine Folge dieses Scheiterns war. Vielleicht hatte sie geglaubt, dass ich der Realität mit einem anderen Mann entfloh, um dem Schmerz zu entgehen, der zu Hause auf mich wartete.“ (Pos. 3065) 
Vor einem halben Jahr erst hat Sascha Lemon mit dem Hamburg-Krimi „Blutiger Nebel“ sein Debüt als Schriftsteller gefeiert. Mit „Schattenbrandung“ legt er nun schon sein Zweitwerk nach und verlegt den Schauplatz seines Thrillers von Hamburg an die schottische Nordseeküste. Die Handlung, die sich über nicht mal dreihundert Seiten entfaltet, bildet nur ein Wochenende in der Kastor-Familie ab und beschreibt scharfsichtig die Abgründe eines Dramas, das durch das Verschwinden der Teenager-Tochter Jenna ausgelöst wird.
Dabei wird deutlich, wie sehr sich vor allem die Ich-Erzählerin Lena und ihr als Security-Chef auf einer Bohrinsel arbeitende Mann Jo seit dem Umzug von Hamburg nach Schottland einander entfremdet haben und ihre erotischen Bedürfnisse auf andere potentielle Partnern projizieren. Während Lena den Ehebruch aber schon praktisch vollzogen hat, beschränkt sich das Fremdgehen ihres Mannes Jo noch auf eine Schwärmerei, die allerdings auch ihre Probleme bereithält.
Etwas abseits kämpft Eric in Edinburgh mit ganz eigenen, ebenso handfesten Schwierigkeiten, stößt aber ebenso wie Lenas Mutter später zu den tragischen Geschehnissen rund um sein altes Zuhause. Da das Figuren-Ensemble sehr übersichtlich bleibt, kann sich der Autor ausgiebig mit den Befindlichkeiten der einzelnen Kastor-Familienmitglieder widmen, wobei er ein großes psychologisches Einfühlungsvermögen demonstriert. Geschickt führt er die einzelnen Fäden der Handlung am Ende zusammen, bereichert den an sich wenig spektakulären Plot um den Hauch eines weiteren geheimnisvollen Todesfalls und sorgt nicht zuletzt mit lebendigen Dialogen und authentisch wirkenden Settings, die durch das stimmungsvolle Buchcover wunderbar abgebildet werden, für durchgehend spannende, für einen Thriller überzeugend tiefgründige Unterhaltung.

John Williams – „Nichts als die Nacht“

Montag, 23. Oktober 2017

(dtv, 157 S., HC)
Da der 24-jährige Arthur Maxley wöchentlich einen Scheck von dem Anwalt seines Vaters bekommt, kann er sich in San Francisco ganz dem Müßiggang und den Partys widmen. Statt sich auf das Studium zu konzentrieren, trinkt der junge Mann abends regelmäßig einen über den Durst. Der überraschende Besuch seines Vaters in der Stadt wühlt allerdings alte Wunden auf. Vor drei Jahren besuchte Arthur noch das College in Boston, bis ein tragischer Vorfall in der Familie den Vater durch die Welt, nach Australien und Südamerika ziehen ließ, nächste Station Bombay. Die Zeit bis zur Abreise will er gern nutzen, um das unterkühlte Verhältnis zu seinem Sohn zu verbessern, indem er beispielsweise seine Kontakte nutzen könnte, um Arthur einen Studienplatz zu verschaffen. Doch Arthur vermag sich aus seiner Lethargie nicht zu lösen, und als er die junge weibliche Begleitung seines Vaters kennenlernt, ist jeder weitere Versuch einer Annäherung endgültig zum Scheitern verurteilt.
Stattdessen zieht der junge Mann weiter ziellos durch die Straßen und Bars, muss einen Kommilitonen in die Schranken weisen, der den solventen Arthur um ein Darlehen anbettelt, lernt eine junge Frau kennen, für die er zunächst eine tiefe Zuneigung entwickelt, doch dann brechen die Erinnerungen an seine Mutter überraschend an die Oberfläche seines Bewusstseins und führen zu einem erschütternden Gewaltexzess.
„Warum war er an diesen Ort gekommen? Dies war keine Zuflucht, und er hatte das auch geahnt. Welch sinnloser Umstand hatte ihn weiter und weiter geführt, tiefer und immer tiefer hinein in etwas, das ihm nun wie ein verschlungenes Labyrinth vorkam, das frei von jeglicher Ordnung und Bedeutung schien?
Dann aber glaubte er plötzlich, dass ihm nie ein Vorwurf für das gemacht werden konnte, was immer ihm auch im Laufe seines Lebens widerfuhr.“ (S. 90) 
Nicht mal einen Tag im Leben von Arthur Maxley, des Protagonisten in John Williams‘ Schriftsteller-Debüt aus dem Jahre 1948, deckt die Geschichte in „Nichts als die Nacht“ ab, aber die kurze Zeitspanne aus dem Leben des jungen Tunichtguts reicht vollkommen aus, die Tragödie abzubilden, die vor drei Jahren ihren Lauf nahm, die Maxley-Familie brutal auseinanderreißen sollte und den Sohn traumatisiert und ohne Ambitionen im Leben zurückließ.
Was damals genau geschah, erfährt der Leser erst zum Ende der verstörenden Novelle – bis dahin muss er sich mit einer aus Andeutungen und Erinnerungsfetzen gespeisten Ahnung begnügen und dem ziellosen Treiben des Maxley-Jungen folgen, das sich auf Spaziergänge, Partys, Alkoholexzesse und Nachtclubs zu beschränken scheint. Dass „Nichts als die Nacht“ wie ein von Edgar Allan Poe, Nathaniel Hawthorne und Ambrose Bierce inspirierte Schauergeschichte wirkt und an die Existentialisten Albert Camus und Jean-Paul Sartre denken lässt, ist vor allem der düsteren Entstehungsgeschichte geschuldet.
Williams trat Anfang der 1940er Jahre dem Army Air Corps bei und schrieb das Stück, als er mit Anfang 20 nach einem Flugzeugabsturz schwer verletzt wochenlang im burmesischen Dschungel festsaß. Da kann es kaum verwundern, dass die Erzählung von Einsamkeit, Verlust, Paranoia und Gewalt geprägt ist, von Orientierungs- und Ziellosigkeit, von Traumata und Delirien.
Für einen jungen Debütanten ist die Geschichte zunächst nur oberflächlich interessant, schließlich bieten die Reflexionen eines gelangweilten jungen Müßiggängers wenig Neues. Doch wie in sehr kurzer Zeit die gesellschaftlichen Konventionen durch Arthur Maxley aufgebrochen werden und er in einen bizarrer werdenden Strudel aus Gewalt gerät, ist sprachlich sehr ausdrucksstark inszeniert worden und vermag auch gut siebzig Jahre nach der Entstehung durch seine unmittelbare Intensität zu fesseln.
In seinen späteren Meisterwerken „Stoner“ und „Butcher’s Crossing“ verfeinerte Williams seine Erzählkunst, doch als Dokument seiner frühen schriftstellerischen Begabung und Berufung ist „Nichts als die Nacht“ von unschätzbarem Wert.
 Leseprobe John Williams - "Nichts als die Nacht"

Irvine Welsh – „Kurzer Abstecher“

Freitag, 20. Oktober 2017

(Heyne, 272 S., Pb.)
Jim Francis hat sich in Kalifornien mit seiner Frau, der Kunsttherapeutin Melanie, und den beiden gemeinsamen Töchtern Grace und Eve als erfolgreicher Künstler ein komfortables Leben eingerichtet. Als er einen Anruf seiner Schwester Elspeth erhält, die ihn zur Beerdigung seines – aus der Beziehung mit June stammenden - Sohnes Sean einlädt, wird er mit einem Mal an seine weniger ruhmreiche Vergangenheit erinnert, als er unter seinem bürgerlichen Namen Francis James Begbie in Edinburghs Viertel Leith mit seinen Kumpels auf die schiefe Bahn geraten war und er für einige Jahre in den Bau wanderte.
Da Sean Opfer eines Gewaltverbrechens wurde, macht sich Francis in seiner alten Heimat auf die Suche nach dem Täter und bekommt von David „Tyrone“ Power den Namen des Gangsters Anton Miller zugeflüstert, mit dem sich Sean eingelassen haben soll.
Gegen jeden gutgemeinten Ratschlag setzt Francis sein bürgerliches Leben aufs Spiel und räumt in den Straßen und an der Werft ordentlich auf.
„Frank Begbie betritt vertrautes Terrain. Es ist die Sorte von Dominanz, die er immer schon besonders verführerisch fand. Das erhebende Gefühl, anderen harten Kerlen ihre Macht und ihr Selbstvertrauen zu rauben. Tief in seinem Inneren flammt erwartungsvolle Begeisterung auf. Doch es ist wichtig, sich diesem Gefühl nicht hinzugeben. Nicht seine Stimme zu erheben.“ (S. 142) 
Seit seinem internationalen Durchbruch mit dem Debütroman „Trainspotting“ ist der schottische Schriftsteller Irvine Welsh immer wieder zu seinen Helden Mark Renton, Francis Begbie, Sick Boy und Spud zurückgekehrt, hat die Geschichte in „Porno“ weitergeschrieben und in „Skagboys“ die Vorgeschichte erzählt. „Kurzer Abstecher“ stellt dagegen eine Art Spin-Off dar, konzentriert sich als ungewöhnlich kurzer Roman ganz auf die Figur von Francis Begbie/Jim Francis und seine scheinbare Verwandlung eines Soziopathen zum geläuterten Künstler.
Im Gegensatz zu früheren Werken verzichtet Welsh hier auf detaillierte Milieubeschreibungen, stellt aber durchaus immer wieder die beiden konträren Welten, in denen sich Francis bewegt, gegenüber. Welsh inszeniert mit „Kurze Abstecher“ eine rasante One-Man-Show, in der Francis von Beginn an mit seinen gewalttätigen Trieben zu kämpfen hat. Noch bevor er den besagten Anruf aus Schottland bekommt, macht er mit den beiden Kerlen, die Melanie und die Kinder am Strand belästigen, kurzen Prozess – ohne dass seine Familie etwas davon mitbekommt. In Schottland muss er weniger rücksichtsvoll agieren. In psychologischer Hinsicht ist dabei spannend, wie Francis Begbie immer wieder sich selbst die Frage beantworten muss, ob er durch seinen Rachefeldzug sein Familienglück aufs Spiel setzen will. Die Brutalität, mit der er allerdings zu Werke geht, um alle Gangster auszuschalten, die irgendwie mit dem Mord an Sean zu tun hatten oder Francis in die Enge treiben wollen, spricht eine eindeutige Sprache. Welsh macht es wie seinem Protagonisten mächtig Spaß, die gerechtfertigt erscheinende Brutalität auszukosten, mit der Francis seine Widersacher ausschaltet.
„Kurzer Abstecher“ bietet kurzweiligen Action-Thrill, der immer wieder von Welshs typisch schottischen Humor durchdrungen ist, der in den spritzigen Dialogen zum Ausdruck kommt.
Bei so viel Tempo kommt der Leser gar nicht dazu, Begbies frühere Weggefährten zu vermissen.
Leseprobe Irvine Welsh - "Kurzer Abstecher"

David Lagercrantz (nach Stieg Larsson) – (Millennium: 5) „Verfolgung“

Montag, 16. Oktober 2017

(Heyne, 480 S, HC)
Nachdem Lisbeth Salander sich in das Drama um die Ermordung eines Professors eingemischt, daraufhin einen achtjährigen autistischen Jungen bei sich versteckt und schließlich die Zusammenarbeit mit der Polizei verweigert hatte, wurde sie zu zwei Monaten Haft im Gefängnis von Flodberga verurteilt. Dort hat selbst der Leiter des Sicherheitstrakts, Alvar Olsen, Angst vor der herrischen Gefangenen Benito Andersson, die es mit ihrer Gang vor allem auf die junge Muslimin Faria Kazi abgesehen hat. Doch erst als Benito ihrem Opfer lebensbedrohlich nahekommt, greift Lisbeth ein und weist die skrupellose Benito ebenso brutal in die Schranken.
Durch diesen Zwischenfall gelingt es ihr, an den Computer des eingeschüchterten Olsen zu kommen und Nachforschungen in eigener Sache zu betreiben: Bei einem seiner seltenen Besuche im Krankenhaus hat Lisbeths alter Mentor, der mittlerweile schwerkranke Holger Palmgren, Unterlagen erwähnt, die darauf hindeuten, dass Lisbeth in ihrer Kindheit Opfer des Missbrauchs durch die Behörden geworden ist.
Zusammen mit Mikael Blomkvist, der durch seine Story über die Verbindung der NSA-Führungsebene mit dem organisierten Verbrechen in Russland die „Millennium“-Zeitschrift wieder populär gemacht hat, versucht sie herauszufinden, welche Verbindung zwischen ihr und dem erfolgreichen Finanzanalysten Leo Mannheimer besteht. Das geplante freie Wochenende vor dem Druck der neuen „Millennium“-Ausgabe fällt für Blomkvist also aus, doch zwischen seinen nur langsam vorankommenden Nachforschungen findet er immerhin noch Zeit, sich mit seiner alten Geliebten Malin Frode zu treffen, die ebenso wie Mannheimer bei der Investmentgesellschaft von Alfred Ögren gearbeitet hatte und nun Pressesprecherin im Außenministerium ist.
„Er war hin- und hergerissen und wusste nicht, was er als Nächstes tun sollte. Lisbeth eine verschlüsselte Nachricht schicken? Ihr berichten, worauf er gestoßen war? Leo Mannheimer konfrontieren, um herauszufinden, ob er auf der richtigen Spur war?
Er trank noch einen Espresso und fühlte plötzlich, wie sehr er Malin vermisste. Wie eine Naturgewalt war sie in null Komma nichts in sein Leben gewirbelt.“ (S. 265) 
Mit seiner auch sehr erfolgreich verfilmten, posthum ab 2005 veröffentlichten „Millennium“-Trilogie hat der schwedische, 2004 an einem Herzinfarkt verstorbene Schriftsteller Stieg Larsson die skandinavische Krimi-Szene ordentlich aufgemischt. Dass von den immerhin zehn geplanten Bänden letztlich nur ein knappes Drittel erscheinen konnte, nahm sich David Lagercrantz der Herausforderung an, die „Millennium“-Reihe fortzusetzen. Zwar konnte der 2015 veröffentlichte vierte Band „Verschwörung“ kaum an das Niveau von Larssons packenden Erzählungen heranreichen, aber doch die dem Publikum ans Herz gewachsenen Figuren von Lisbeth Salander und Mikael Blomkvist mit glaubwürdigem Leben erfüllen.
Im nunmehr fünften Band „Verfolgung“ verknüpft Lagercrantz wieder verschiedene Erzählstränge. Es geht um eine Jagdgesellschaft bei Alfred Ögren, bei der der Psychologe Carl Seger ums Leben gekommen ist, um die Trennung von eineiigen Zwillingen, die zu Forschungszwecken bei gänzlich verschiedenen Adoptiveltern aufwuchsen, um die Qualen, die Faria Kazi in ihrer Familie erleiden musste, weil sie sich mit einem Jungen verabredet hatte, und natürlich um Lisbeths Kindheit, deren Geheimnis nun aufgeklärt wird.
Zwar springt der Autor mit Rückblicken immer mal wieder anderthalb Jahre zurück und schlägt überhaupt recht viele Haken in seinem vielschichtigen Plot, doch bleibt die Spannung dabei stets auf einem hohen Niveau. Leider bleiben bei so vielen Erzählsträngen die Figuren etwas blass. Sowohl Lisbeth Salander als auch Mikael Blomkvist sind immer irgendwie beschäftigt, ihre emotionalen Tiefen werden dabei kaum ausgelotet. Dennoch bietet „Verfolgung“ packenden Thrill, der das „Millennium“-Erbe durchaus würdig fortführt. 
Leseprobe David Lagercrantz - "Verfolgung"

Konstantin Sacher – „Und erlöse mich“

Samstag, 14. Oktober 2017

(Tempo, 233 S., HC)
Ein junger Ich-Erzähler, der anonym bleiben und deshalb auch nicht preisgeben will, wo er lebt, wendet sich hilfesuchend an seine Leser. Antworten wünscht er sich von ihnen, vor allem auf die Fragen: „Was soll ich von mir halten? Bin ich so sehr Egoist, dass ich nur noch mich selbst sehe?“ Um dies beurteilen zu können, berichtet der Autor von den letzten zwei Jahren seines Lebens, von seiner großen Liebe Sarah, aber auch von den Beziehungen davor und danach, wie er nach der gescheiterten Beziehung mit Sarah, die später bei einem Wohnungsbrand umgekommen ist, keinen normalen Sex mehr mit Frauen haben konnte, nur in den Po und ohne Kondom – normaler Sex hat ihn nicht mehr genug erregt. Und dann ist da noch die Sache mit der Religion. Noch bevor der Erzähler in die Details seiner ständig wechselnden Sex-Beziehungen geht, thematisiert er seinen christlichen Glauben, der zu einer Grundidee in seinem Leben zählt.
Doch bevor er sich intensiver mit seinem Glauben auseinandersetzt und seine Gedanken diesbezüglich seinen Lesern mitteilt, berichtet der Erzähler von seinem bisherigen Leben, der Kindheit in wohlhabenden Verhältnissen in einer Kleinstadt und seiner Babysitterin Jennifer, die „einen wunderbaren Hintern und tolle, große Brüste“ hatte.
Es folgen Erinnerungen über Ausflüge mit seinen Jungs zu wilden Partys und in den Puff, über One-Night-Stands und verschiedene Sex-Praktiken. Er spürt, dass ihn das wahllose Gerammel seelisch aushöhlt, doch selbst in festen Beziehungen kann er nicht von anderen Frauen ablassen. Um mit sich ins Reine zu kommen, sich selbst zu finden, folgt er dem Aufruf einer Hippie-Kommune auf einer spanischen Insel und besucht auch in der Woche Gottesdienste, freundet sich mit Pater Sebastian an und hilft ihm bei der Betreuung von Obdachlosen. Doch keinen dieser Selbstfindungstrips zieht er bis durch, sein Straucheln und seine Suche führen ihn nur zur nächsten Frau und schließlich doch wieder zum Glauben …
„Die Liebe, die einem genommen wurde, und die eigene Liebe, die ins Leere läuft, sind schlimmer als alles andere. Wenn mir die Liebe entzogen wurde, dann hilft nur noch der Glaube daran, dass sie zurückkommt, und die Hoffnung, dass der Glaube stimmt.
Es bleiben nur Glaube, Hoffnung und Liebe; und die Liebe ist garantiert nicht die größte unter ihnen!“ (S. 211) 
„Und erlöse mich“ ist der Debütroman des bei Frankfurt am Main lebenden evangelischen Theologen Konstantin Sacher und wirkt zunächst wie eine oberflächliche Schilderung wahllos aneinandergereihter sexueller Begegnungen, bei denen kein tiefes Gefühl im Spiel ist, nur fleischliche Lust und ihre Befriedigung. Die schnörkellose Prosa erinnert ein wenig an den Horror-Porn-Stil des US-amerikanischen Schriftsteller Richard Laymon („Der Keller“, „Die Jagd“), nur fehlt bei Sacher sowohl eine dramaturgische Spannung als auch die Möglichkeit zur Identifikation mit dem Erzähler, dem man im wirklichen Leben bestimmt nicht begegnen möchte.
Leider bekommt Sacher zum Ende hin auch nicht die Kurve zu einer überzeugenden Selbstreflexion. Zwar ist dem Erzähler bewusst, wie oberflächlich und moralisch verwerflich sein Verhalten gewesen ist, aber die dann doch etwas abrupt einsetzende und ausschweifende Darlegung seines Glaubens wirkt wie ein konstruierter Bruch und nicht wie die konsequente Folge einer konstruktiven Auseinandersetzung mit seinem bisherigen Lebenswandel.

Joe R. Lansdale – (Hap & Leonard: 9) „Krasse Killer“

Sonntag, 8. Oktober 2017

(Golkonda, 380 S., Pb.)
Einen Großteil ihres Einkommens verdanken Hap Collins und Leonard Pine dem Detektivbüro von Marvin Hanson. Als dieser den Job als Polizeichef annimmt, verkauft er seinen Laden an Haps Lebensgefährtin Brett – mit Hap und Leonard als ihre Vollzeitangestellten. Bei ihrem ersten Auftrag sollen die beiden Freunde für die betagte Dame Lilly Buckner ihre Enkelin Sandy finden, die ihr einst 50.000 Dollar und Wertpapiere aus dem Safe geklaut hatte, Journalismus studierte und vor fünf Jahren spurlos verschwunden ist.
Das Ermittler-Duo sucht das Autohaus Frank’s Unique Used Cars auf, wo offensichtlich nicht nur außergewöhnliche Autos, sondern mit ihnen auch exklusive Models angeboten werden, die mit ihren wohlhabenden Kunden kostspielige Reisen unternehmen, dabei gefilmt und schließlich erpresst werden. Unwillige Kunden werden, so bringen Hap und Leonards Informanten ans Tageslicht, von einem sogenannten Knipser mit einem Draht ums Leben und ihre Eier gebracht.
Doch hinter dem ganzen Unternehmen stecken weit skrupellosere Gangster der Dixie-Mafia, denen bereits das FBI auf den Fersen ist. Mit der Verstärkung von Haps alter Bekannten Vanilla Ride und den furchtlosen Booger und Jim Bob begeben sich Hap und Leonard schließlich in die Höhle des Löwen, um nicht selbst erneut ins Visier des Mobs zu gelangen, der längst eigene Anstrengungen unternommen hat, die hartnäckigen Jungs auszuschalten …
„Auf den Regalen waren auch viele alte, billig gerahmte Fotos aufgestellt. Völlig verstaubt, zeigten sie verschiedene Leute, die sich alle ähnlich sahen. Familienfotos, abwechselnd mit eingelegten Hoden. Schöne Erinnerungen, so richtig heimelig. Ich beugte mich vor und sah mir die Fotos genauer an. Es waren Fotos von aufgebahrten Toten, Männer im Anzug, Frauen im langen weißen Kleid, vielleicht sogar immer der gleiche Anzug, das gleiche Kleid für alle. Das erinnerte mich an viktorianische Fotografien von Toten, damals hatte man den kürzlich Verstorbenen ihre Sonntagsklamotten angezogen und sie so fotografiert.“ (S. 340) 
Als hätten Hap und Leonard mit ihrem zunehmend gefährlicheren Auftrag nicht genug zu tun, wird Hap auch noch mit der Bekanntschaft des jungen Mädchens Chance konfrontiert, das behauptet, Haps Tochter zu sein …
Auch in seinem neunten Band bleibt sich Joe R. Lansdale in seiner erfolgreichen Reihe um den weißen heterosexuellen Kriegsdienstverweigerer Hap und den schwarzen, homosexuellen Vietnamveteran Leonard treu, die mittlerweile auch in einer von den Amazon Studios produzierten Fernsehserie ihr Unwesen treiben dürfen.
In „Krasse Killer“ wird die Vorgeschichte der beiden Buddys nicht weiter thematisiert, aber ihre unterschiedlichen sexuellen Neigungen bieten zwischen den beiden schlagkräftigen Spaßvögeln immer wieder witzigen Gesprächsstoff, ebenso ihr Verhältnis zur Gewaltanwendung. In ihrem neuen Abenteuer haben es Hap & Leonard nicht nur mit der obligatorischen Suche nach einer Vermissten zu tun, sondern sie legen sich zunächst mit einer Biker-Gang und schließlich mit der Dixie-Mafia an, ohne ihrem eigentlichen Ziel wirklich nahezukommen. Diesen Plot inszeniert Lansdale mit so viel Witz, Tempo und Action, dass das Buch nach einer Verfilmung nur so schreit – wenigstens in einer Staffel der dazugehörigen Amazon-Serie.
Vor allem das Finale hat es in sich und bringt dabei auch zutiefst menschliche Regungen zutage. Toll!

Jo Nesbø – (Harry Hole: 11) „Durst“

Freitag, 6. Oktober 2017

(Ullstein, 624 S., HC/eBook)
Um mehr Zeit für seine Familie zu haben, hat sich Spezialfahnder Harry Hole aus dem aktiven Dienst zurückgezogen und einen Job als Dozent an der Polizeihochschule Oslo angenommen, wo er als prominenter Spezialist für Serienmorde den Polizeinachwuchs in seinen Vorlesungen und Seminaren an die Ermittlungsarbeit heranführt. Doch dann wird Holes Jagdinstinkt geweckt, als er von den Vampiristenmorden erfährt, die schnell die nationalen, dann auch internationalen Schlagzeilen bestimmen.
Der Täter scheint seine weiblichen Opfer über die Dating-Plattform Tinder kennenzulernen und sie mit Hilfe eines Metallgebisses nicht nur tödlich zu verletzen, sondern auch ihr Blut zu trinken. Unter den Opfern befindet sich auch die Kellnerin Marte Ruud aus Harry Holes Stammkneipe.
Da Polizeichef Mikael Bellman kurz davor steht, Justizminister zu werden, will er den Fall schnell gelöst haben und lässt er eine Sondereinheit gründen, die unter Leitung von Harry Hole parallel zu der Truppe von Kriminalkommissarin Katrine Bratt ermitteln soll. Vor allem der in Akademikerkreisen belächelte Vampiristen-Experte Hallstein Smith entwickelt sich zu einer großen Hilfe bei der Jagd auf den Killer, dessen Vorgehen Hole an Valentin Gjertsen erinnert, der vor vier Jahren auf spektakuläre Weise aus dem Gefängnis ausgebrochen war und sich diversen plastischen Operationen unterzogen hatte, weshalb er bis heute untertauchen konnte.
„‚Ich glaube nicht, dass es nicht Valentin Gjertsen ist. Obwohl mir dieser Gedanke tatsächlich auch schon gekommen ist. Ein Mörder begeht zwei Morde, ohne auch nur eine Spur zu hinterlassen. Das erfordert Planung und einen kühlen Kopf. Und dann überfällt er plötzlich jemanden und verteilt wie nichts Spuren und Beweise? Das ist auffällig, als legte der Betreffende es darauf an, seine Identität preiszugeben. Und das weckt dann natürlich den Verdacht, dass uns da jemand manipulieren und auf eine falsche Fährte führen will.‘“ (Pos. 3557) 
Auch in dem elften Band seiner populären Reihe um den charismatischen Spezialermittler Harry Hole gelingt es dem norwegischen Bestseller-Autor Jo Nesbø, den Leser von Beginn an mit einem faszinierenden Fall zu fesseln, der mit ungewöhnlicher Prämisse ausgestattet ist. Durch den Vampiristen-Experten Hallstein Smith erhalten wir einen kurzen Abriss über die Vampir-Mythologie und die psychische Disposition von Vampiristen, darüber hinaus bekommen wir Einblicke in das komplexe Beziehungsgeflecht, in das Hole mit seiner Frau Rakel, ihrem Sohn Oleg, der nun auch an der Polizeihochschule studiert, und seiner Kollegin Katrine Bratt vertrickt ist, die sich gerade von ihrem Kollegen, den Kriminaltechniker Bjørn Holm, getrennt hat.
Die Ermittlungen nehmen mit jedem weiteren Mord an Fahrt auf. Dabei verdichten sich die Hinweise, dass die Polizei und die Sondereinheit an der Nase herumgeführt werden. Zum Ende hin schlägt der Plot einige schon irrwitzig anmutende Kapriolen, die sicher für dramaturgische Spannung sorgen, aber auch zu konstruiert wirken, um wirklich überzeugen zu können.
Was „Durst“ neben dem an sich interessanten Thema besonders auszeichnet, sind eher die persönlichen Aspekte, die allerdings oft nur angerissen werden, aber im Vergleich zu anderen Reihen im Thriller-Genre sind Nesbøs Figuren gut gezeichnet und verleihen dem Werk eine angenehme psychologische Tiefe.
Leseprobe Jo Nesbø - "Durst"

Andrea De Carlo – „Ein fast perfektes Wunder“

Sonntag, 1. Oktober 2017

(Diogenes, 400 S., HC)
Als ein Blackout, der den öffentlichen Verkehr, die Telekommunikation, Sicherheitssysteme und Computernetzwerke und die Stromversorgung im gesamten Stadtgebiet von Fayence in der Provence-Alpes-Côte d‘Azur lahmlegt, droht Milena Migliari auf ihren Eiskreationen sitzenzubleiben. Nachdem sie eher vergeblich versucht hat, das Eis an Passanten zu verschenken, kommt ihr der unerwartete Auftrag mehr als gelegen, zehn Kilo mit all ihren Eissorten nach Callian zu bringen. Dort versucht der Rockmusiker Nick Cruickshank, sich mit seiner Band Bebonkers auf ein Benefiz-Konzert im Aerodrom und seine Hochzeit mit der Anti-Leder-Designerin Aileen vorzubereiten, begleitet von Journalisten, einem Kameramann und einem Fotografen des „Star Life“-Magazins.
Als er von Milenas Eis kostet, ist er hin und weg, wenig später sucht der Bebonkers-Frontmann, der auf zwei gescheiterte Ehen und fünf Kinder zurückblickt, Milena in ihrer Eisdiele „La Merveille Imparfaite“.
Was in den wenigen Momenten der kurzen Begegnungen auf Nicks Anwesen in Les Vieux Oliviers und in Milenas Eisdiele mit ihnen geschieht, ist beiden Beteiligten ein Rätsel. Schließlich bereitet sich Milena mit ihrer Lebensgefährtin Viviane gerade auf die künstliche Befruchtung vor, doch ein Baby auszutragen kommt Milena momentan wenig erstrebenswert vor. Auch Nick ist sich im Unklaren über die Beziehung mit der selbstbewussten Aileen, die alles, was mit der Band zu tun hat, im Griff zu haben scheint. Überrascht von der merkwürdig intensiven Anziehung, die Milena und Nick füreinander empfinden, lassen sie sich auf etwas ein, das ihnen ebenso fremd wie selbstverständlich, aufregend und vertraut erscheint.
„Was war dieser Kuss? Ein Fluchtversuch? Ein Überrumpelungsversuch? Eine Verzweiflungstat? Er war jedenfalls etwas absolut Unerwartetes: Ihm schien, als erkenne er sie von wer weiß welchem Punkt in Zeit und Raum und erkenne auch sich selbst oder einen Teil von sich, den er verloren hatte. Oder längst nicht mehr suchte.“ (S. 304) 
Andrea De Carlo („Zwei von zwei“, „Creamtrain“) bringt in seinem neuen Roman „Ein fast perfektes Wunder“ zwei außergewöhnlich kreative Menschen zusammen, die jeder für sich in ihrem ganz eigenen Kosmos leben - Nick in der schimmernd-glitzernden Welt der Rockmusik, die ihm nicht nur viel Geld, sondern auch die Anbetung durch unzählige Fans beschert hat; Milena in ihrer Eisdiele, die sie nach ihrer Flucht vor enttäuschten Liebesbeziehungen aus Italien in die französische Provinz gegründet hat, wo sie so außergewöhnliche Eissorten wie Kaki und Brustbeere kreiert.
Minutiös schildert er abwechselnd aus Nicks und Milenas Perspektive, wie sie mit ihrem Alltag, ihren Mitmenschen und Herausforderungen umgehen, wie das Zusammentreffen zwischen ihnen etliche Fragen darüber aufwirft, ob die gegenwärtigen Lebens- und Liebesumstände so aufrechterhalten sollten.
Sprachlich präsentiert sich De Carlo einmal mehr als großer Fabulierkünstler, vor allem in der Beschreibung der Geschmacksempfindungen bei der Verkostung von Milenas Eis, aber auch in der Kartierung der Gefühlswelten und der Fragestellungen, die die Beziehung zwischen Nick und Milena begleiten. So manch ein Leser wird sich mit Freuden oder Stirnrunzeln selbst und sein (Gefühls-) Leben hinterfragen wollen. Ein größeres Lob kann man einem Autor kaum zollen. 
Leseprobe Andrea De Carlo - "Ein fast perfektes Wunder"

Stephen King – „Es“

Samstag, 30. September 2017

(Heyne, 860 S., Jumbo)
Im Herbst 1957 wurde der sechsjährige George Denbrough tot, mit ausgerissenem Arm, an einem Gully aufgefunden. Sein bettlägeriger älterer Bruder William hatte ihm zuvor ein Boot aus Papier gebastelt und mit ihm zusammen wasserdicht gemacht. Mit diesem Boot machte sich Georgie im Regenmantel auf den Weg, das mit Paraffin bestrichene Papierschiffchen an der Kante zwischen Straße und Bürgersteig im Strom dahinschwimmen zu lassen, der sich durch vier Tage wolkenbruchartigen Regen entwickelt hat. 27 Jahre später kommt Adrian Mellon unter ähnlichen Umständen ums Leben. Zeugen meinten einen Clown unter der Brücke am Tatort gesehen zu haben, der wie eine Mischung aus Ronald McDonald und dem Fernsehclown Bozo wirkte.
Mike Hanlon, Bibliothekar in Derry, ahnt, dass „Es“ zurückgekommen ist, eine unheimliche Macht, der seine Freunde Bill Benbrough, Stanley Uris, Richard Tozier, Eddie Kaspbrak und Beverly Marsh damals nur dadurch in die Flucht schlagen konnten, weil sie als Freunde zusammengehalten haben. Während alle außer Mike als Erwachsene Derry verlassen haben, um erfolgreicher Komiker (Richie), Schriftsteller (Bill), Architekt (Ben), Modedesignerin (Bev) oder Prominenten-Chauffeur (Eddie) zu werden, hat Mike eine Chronik über die Welle von Gewaltverbrechen erstellt, die in regelmäßigen 27-Jahres-Zyklen Derry heimsuchen – und zwar seit nachweisbar sehr langer Zeit. Als Mike und seine Freunde damals „Es“ besiegt, aber nicht getötet hatten, schworen sie sich, wieder zusammenzukommen, sollte „Es“ zurückkehren.
Mike ruft seine alten Freunde an, die mit Ausnahme von Stan tatsächlich ihre Verpflichtungen liegen lassen und nach Derry kommen, um ihr Versprechen einzulösen. Schnell zeigt sich, dass Mike mit seiner Befürchtung recht gehabt hat: „Es“ hat nach wie vor allerlei Tricks auf Lager, seine Gegner mit ihren ureigensten Ängsten zu konfrontieren …
„Er wusste es nicht, aber er glaubte – ebenso wie er glaubte, dass alle Morde auf ein und dasselbe Konto gingen -, dass Derry sich tatsächlich verändert hatte, und dass diese Veränderung mit dem Tod seines Bruders begonnen hatte. Die Schreckensvisionen in seinem Kopf hatten ihren Ursprung in seiner tief verborgenen Überzeugung, dass in Derry jetzt alles Mögliche passieren konnte. Alles.“ (S. 168) 
Im Jahr seines 70. Geburtstages erlebt Stephen King eine bemerkenswerte Renaissance seiner Werke. Der „King of Horror“ schreibt nicht nur unermüdlich weiter, sondern durfte auch verfolgen, dass in diesem Jahr nach „The Dark Tower“ auch sein bereits 1990 durch Tommy Lee Wallace verfilmtes Epos „Es“ erneut eine filmische Adaption erfahren hat, diesmal für die große Leinwand und weitaus gruseliger als der frühere Fernseh-Zweiteiler.
Als Stephen King 1986 „Es“ veröffentlichte, konnte er bereits mit u.a. „Carrie“, „Shining“, „The Stand“, „Friedhof der Kuscheltiere“ und „Der Talisman“ (zusammen mit Peter Straub) auf etliche Bestseller zurückblicken. Aber erst mit „Es“ schuf Stephen King eine über mehrere Zeitebenen perfekt ausbalancierte Geschichte, die vor allem durch die sehr sorgfältige Zeichnung der sympathischen Figuren brilliert, die King jeweils mit sehr ausführlichem Hintergrund ausgestattet hat.
Geschickt verleiht er dem Grauen in Derry durch einen verführerischen Clown Gestalt und macht für die Kinder das Leben in der an sich idyllischen Kleinstadt zum Alptraum, zu dem nicht zuletzt der bösartige Henry Bowers mit seiner Clique mit ihren durchaus brutalen Gemeinheiten beitragen. Stück für Stück enthüllt Stephen King vor allem durch seinen Chronisten Mike Hanlon die Geschichte des Bösen in Derry, das es auf überdurchschnittlich viele Kinder abgesehen hat. Obwohl King selbst innerhalb eines Satzes von Kapitel zu Kapitel zwischen den Zeiten springt, hält er die Spannung immer aufrecht. Das gelingt ihm vor allem durch die minutiös geschilderten Biografien der „Club der Verlierer“-Mitglieder mit ihren ganz individuellen Geschichten, psychischen Dispositionen, Träumen und Ängsten, mit ihren persönlichen Beziehungen, Berufen und Problemen, so dass der Leser sich mitten im Geschehen erlebt und zusammen mit den Figuren zwischen den 1950er und 1980er Jahre hin- und herspringt.
Wenn zum Ende hin deutlich wird, wie es den Kindern damals gelang, „Es“ zu besiegen, wirkt das Vorgehen nicht gerade nachvollziehbar, aber King erweist sich als dermaßen souveräner und mitreißender Erzähler, dass der Spruch, dass ungewöhnliche Situationen ungewöhnliche Maßnahmen erfordern, in dieser Hinsicht auch auf „Es“ zutrifft.
Als ich den Roman 1986 – nach meinem Abitur - zum ersten Mal gelesen hatte, war ich so gefesselt, dass ich fortan – und bis heute – ein großer Fan von Stephen King wurde, der zugleich meine Lust zunächst an der Schauerliteratur und so am Lesen im Allgemeinen geweckt hat, womit ich ihm mehr als nur dankbar bin. Dreißig Jahre später hat das Horror-Epos für mich nichts an seiner Faszination eingebüßt, die auf die permanent gruselige Atmosphäre und die geschickte Dramaturgie zurückzuführen ist, wie sie nur Stephen King zu inszenieren vermag. 
Leseprobe Stephen King - "Es"

Ned Beauman – „Glow“

Dienstag, 26. September 2017

(Tempo, 320 S., Pb.)
Raf ist gerade dabei, sich bei einem illegalen Rave in einem Waschsalon ein Achtelgramm einer undefinierten Mischung aus Speed, Glutamat und einem noch nicht zugelassenen Medikament gegen soziale Phobie bei Hunden reinzuziehen, als er sich Hals über Kopf in Cherish verliebt, Tochter einer Burmesin und eines amerikanischen Ingenieurs, der für den international agierenden Minenkonzern Lacebark arbeitet. Wenn Raf sich nicht gerade auf irgendwelchen Raves herumtreibt und experimentelle Drogenmixturen ausprobiert, behütet er einen Staffordshire Bullterrier, der auf dem Dach eines achtzehnstöckigen Wohnhauses den Piratensender Myth FM bewacht.
Als nicht nur immer mehr Burmesen scheinbar spurlos verschwinden, sondern Raf auch beobachtet, wie mit Theo der Chef des Radiosenders durch einen geräuschlos fahrenden weißen Lieferwagen entführt wird, kommt Raf, der unter einer seltenen Schlaf-Wach-Rhythmusstörung leidet, die seinen Tag 25 Stunden dauern lässt, einer komplexen Verschwörung auf die Spur, in der auch Cherish und der Chemiker Win unklare Rollen einnehmen. Dabei geht es vor allem um die neue Droge Glow, bei deren Herstellung interessanterweise Füchse eine besondere Rolle spielen …
„Jetzt sind die Leute von Lacebark im Londoner Süden, sie infiltrieren die Stadt, sie verändern sie und verbreiten einen Nebel der Angst in den Straßen, die ihm einmal so viel bedeutet haben. Als seine Freundin ihn verlassen hatte, wurde hier für einige Zeit alles zu Scheiße, und er konnte nur dasitzen und leiden. Sieben Wochen später wird wieder alles zu Scheiße, aber diesmal kann Raf etwas dagegen unternehmen.“ (S. 152) 
Der britische Autor Ned Beauman hat nach seinem Studium in Cambridge für Zeitungen und Magazine wie „The Guardian“ und „The Daily Telegraph“ geschrieben, seit 2010 („Der Boxer“) ist er auch als Schriftsteller zu einer anerkannten Größe der europäischen Literaturszene herangewachsen und wurde für seinen zweiten Roman sogar für den Man-Booker-Prize nominiert.
Mit „Glow“, 2014 bereits als Hardcover bei Hoffmann und Campe erschienen, entführt Beauman seine Leser auf eine atemberaubende Odyssee, in der das waghalsige Erzähltempo durch exzessiven Drogenkonsum, wilde Rave-Partys und das Verschwinden von immer mehr Burmesen im Londoner Süden bestimmt wird. Rezepte gibt es dabei nicht nur für Drogencocktails, sondern auch für asiatische Gerichte, und Raf wird ebenso wie der Leser Zeuge des unerbittlichen Kampfes internationaler Großkonzerne (hier in Gestalt von Lacebark) gegen alternative Lebensformen (wie sie im Rave, Drogenkonsum und Piratensendern zum Ausdruck kommen).
So stellt sich „Glow“ einerseits als origineller Krimi dar, der durch sein irres Tempo und die mal verschnörkelt-verschachtelte, dann wieder wunderbar klare Sprache charakterisiert wird, andererseits aber als unorthodoxe Globalisierungskritik, die durch ihre ungewöhnlichen Auswüchse sehr zum Unterhaltungswert des Romans beiträgt.
Das ist bei der Lust des Autors an sprachlichen Kapriolen und dem vertrackten Plot nicht immer ein einfaches, aber bis zum Ende hin doch ein lohnendes Lesevergnügen.

Tom Drury – „Grouse County“

Sonntag, 24. September 2017

(Klett-Cotta, 795 S., HC)
Der aus Iowa stammende Tom Drury begann nach seinem Journalismus-Studium seine berufliche Laufbahn zunächst als Reporter und Redakteur in der regionalen Presse, ehe er 1994 mit „Das Ende des Vandalismus“ seinen ersten Roman veröffentlichte. Zusammen mit „Die Traumjäger“ (2000 in den USA veröffentlicht, 2008 in Deutschland) und dem hierzulande bislang unveröffentlichten Roman „Pazifik“ (2013) hat Klett-Cotta die hochgelobte „Grouse County“-Trilogie nun in einem Band veröffentlicht und dabei die ersten beiden Romane komplett überarbeitet.
In „Das Ende des Vandalismus“ macht der Leser Bekanntschaft mit einer bunt zusammengewürfelten Schar von Figuren, die vor allem das 321-Seelen-Dorf Grafton, aber auch die umliegenden Ortschaften Pinville, Wylie oder Boris bevölkern. Zu den Hauptdarstellern, wenn es denn welche gibt, in Drurys genau beobachteter Gesellschaftsstudie zählt dabei der amtierende Sheriff Dan Norman, der nicht nur den Diebstahl von mehreren Landmaschinen aufklären muss, sondern sich auch noch mitten im Wahlkampf befindet und mit Louise, der von Tiny Darling gerade geschiedenen Frau, zusammenlebt. Das kann der Taugenichts und Gelegenheitsdieb Tiny schwer ertragen, weshalb er nach Colorado geht, wo er auf einem Holzplatz in Lesoka eine Arbeit findet und mit Kathy Streeter von der Bäuerlichen Genossenschaftsbank eine Beziehung eingeht. Die Leser erleben mit, wie Alvin Getty seinen Lebensmittelladen aufgeben muss, wie Louise sich zunächst im Fotostudio von Perry Kleeborg engagiert, doch dann ein Schicksalsschlag ihr Leben völlig durcheinanderbringt.
Auch sonst haben es die Bewohner in Grafton nicht leicht. Vor fünfundzwanzig Jahren hatte es noch zwei Gastwirtschaften, drei Kirchen, einen Friseur, einen Holzhandel und eine Bank gegeben, nun sind nur noch zwei Kirchen und ein Lokal davon übrig, nur ergänzt von einem Schönheitssalon und eine Art Gebrauchtwagenhandel. Zu den Höhepunkten des gesellschaftlichen Lebens zählt die Schulaufführung von „Tarantella“.
„Es war in gewissem Sinn eine verkehrte Welt – Jugendliche lieferten zur Unterhaltung der Erwachsenen eine anspruchsvolle Darbietung -, während allgemein in Grouse County, wie sonst überall auch, das Theater nicht als etwas Sinnvolles angesehen wurde, womit man sich nach Abschluss der Schule noch abgeben konnte. Sich Geschichten auszudenken und sie dann auf die Bühne zu bringen, das war den Leuten einfach nicht geheuer.“ (S. 240f.) 
Tom Drury macht es dem Leser mit seinem Debütroman nicht leicht, einem wie auch immer gearteten Plot zu folgen und sich in der Vielzahl von gut siebzig Personen zurechtzufinden, die das wie ein buntes Potpourri zusammengewürfelte Geschehen bestimmen oder auch nur mal kurz auftauchen und dann wieder von der Bildfläche verschwinden. Allerdings gelingt es Drury, mit seiner detaillierten Beschreibung des ländlichen Lebens irgendwo im Mittleren Westen die Sorgen und Träume nachzuvollziehen. Das tut er ebenso einfühlsam wie humorvoll, so dass einem manche Figuren dann doch ans Herz wachsen.
Der Nachfolgeroman „Die Traumjäger“, der – im Original - sechs Jahre später erschien (2000), ist nicht nur weitaus kürzer ausgefallen, sondern wartet auch mit einem weitaus reduzierteren Figurenensemble und einer stringenteren Erzählung auf. Tiny Darling hat sich mittlerweile auf seinen richtigen Namen Charles besonnen und lebt mit seiner zweiten Frau Joan, ihrem gemeinsamen Sohn Micah und Joans 16-jähriger Tochter Lyris zusammen, die als Baby zur Adoption freigegeben wurde und seither eine wenig erbauliche Odyssee durch verschiedene Pflegefamilien durchgemacht hatte, bis sie wieder von Joan aufgenommen worden ist. Charles versucht nicht nur, das alte Gewehr seines Stiefvaters, mit dem er viele Jagdausflüge in seiner Jugend unternommen hatte, von der Pfarrerswitwe Farina Matthews zurückzukaufen, sondern fragt sich auch, warum seine Frau, die Geschäftsführerin eines Tierschutzvereins mit Sitz in Stone City ist, zu einer Rede vor der Kreisversammlung einen Badeanzug mitnimmt.
Ganz unbegründet sind seine Sorgen nicht, denn wie schon Louise im vorherigen Band begibt sich auch Joan auf einen Selbstfindungstrip, von dem sie erst im kommenden Frühjahr zurückzukehren gedenkt …
Erst 2013 erschien mit „Pazifik“ der hier erstmals in deutscher Sprache veröffentlichte dritte Band der „Grouse County“-Trilogie. Auf wiederum nur wenig mehr als 200 Seiten verfolgt Drury das Leben der Darling-Familie weiter. Joan Gower hat eine Karriere als Schauspielerin beim Fernsehen eingeschlagen und kehrt nach sieben Jahren in ihre alte Heimat zurück, um ihren mittlerweile 14-jährigen Sohn Micah nach Los Angeles mitzunehmen, wo er eine für ihn völlig neue Welt kennenlernt. Tiny hat sein Klempnergeschäft nach der Klage durch eine Versicherungsgesellschaft verloren und ist gar nicht begeistert, dass nun auch die erwachsene Lyris ihr Zuhause verlassen hat, um mit ihrem Verlobten, dem Journalisten Albert Robeshaw, zusammenzuleben.
Dan Norman ist nach dem Verzicht, ein sechstes Mal für das Sheriff-Amt zu kandidieren, Privatdetektiv geworden und wird von einem Ehepaar beauftragt, den zukünftigen Schwiegersohn ihrer Tochter Wendy unter die Lupe zu nehmen. Jack Snow betreibt einen Versandhandel mit keltischen Kunstgegenständen und „stinkt vor Geld“, was Wendys Eltern nicht geheuer ist.
Wenig später bekommt Dan Besuch von zwei staatlichen Ermittlern, die Jack Snow seit längerer Zeit im Visier haben …
Mit der über einen Zeitraum von knapp zwanzig Jahren entstandenen „Grouse County“-Trilogie hat Tom Drury eine Art liebevolle Bestandsaufnahme des ländlichen Lebens in Iowa kreiert, mit einer zunächst nahezu unüberschaubaren Schar an Figuren, die von knapp siebzig in „Am Ende des Vandalismus“ nahezu auf die Familien von Tiny Darling und Dan Norman reduziert wurden, aber allesamt ihre ganz persönlichen Sehnsüchte, Leidenschaften und Sorgen haben, die ihr Erzähler allesamt ernst nimmt und die im abschließenden Band „Pazifik“ sogar metaphysische und surreale Züge annehmen. Die Fürsorge, die Drury seinen Figuren angedeihen lässt, die wunderbare Sprache, die lebendige Dialoge und der lakonische Humor machen das epische „Grouse County“ zu einem unvergleichlichen Lesevergnügen, das zudem wie eine Anleitung zur Selbstverwirklichung und ein moralischer Kompass aufgefasst werden kann. 
Leseprobe Tom Drury - "Grouse County"

Antoine Laurain – „Die Melodie meines Lebens“

Dienstag, 12. September 2017

(Atlantik, 254 S., HC)
Als die Post bei Modernisierungsarbeiten in einer ihrer Pariser Filialen vier Briefe unter Holzregalen findet, die nicht zugestellt worden sind, ist auch einer aus dem Jahre 1983 dabei, der nun mit 33 Jahren Verspätung dem Empfänger zugestellt wird. Der über fünfzigjährige Allgemeinmediziner Alain Massoulier staunt nicht schlecht, als er so erfährt, dass die Band The Hologrammes, die er damals mit der Sängerin Bérangère Leroy, dem Schlagzeuger Stanislas Lepelle, dem Bassisten Sébastien Vaugan und dem Pianisten Frédéric Lejeune unterhalten hat, von Polydor einen Plattenvertrag angeboten bekommen hätte. Stattdessen hat sich die New-Wave-Band recht schnell aufgelöst, ihre Mitglieder haben sich in alle Winde zerstreut.
Alain, der von seiner Frau betrogen wird und ein unspektakuläres, aber zufriedenes Leben im 8. Arrondissement führt, macht sich auf die Suche nach den alten Bandmitgliedern und vor allem nach dem Demotape mit den fünf Songs, die damals für Furore hätten sorgen können. Sébastien war Alain als Kopf einer rechtsextremistischen Gruppe noch bekannt.
Durch seine Recherche im Internet erfährt er schließlich, dass Stan Lepelle ein aufstrebender Künstler geworden ist, Frédéric Lejeune in Thailand gerade ein Hotel eröffnet hat, Sébastien und der Texter Pierre Mazart ein Antiquitätengeschäft am linken Seine-Ufer unterhält. Der Produzent der Band, Mazarts Bruder Jean-Bernard – kurz JBM genannt -, kandidiert gerade für das Präsidentschaftsamt. Nur bei Bérangère hilft Alain das Internet nicht weiter, sondern der Zufall.
„Was sagt man zu einer Frau, die vor mehr als dreißig Jahren geliebt hat und der man zufällig am Bahnhof begegnet? Die man nur für ein paar Minuten und danach nie wieder sehen wird? Das ist, als ob das Leben einem ein Almosen gibt, keine zweite Chance, sondern eine Art Augenzwinkern.“ (S. 144) 
Mit seinem neuen Buch „Die Melodie meines Lebens“ spielt der Pariser Schriftsteller Antoine Laurain („Der Hut des Präsidenten“, „Das Bild aus meinem Traum“) weniger mit der „Was wäre, wenn …“-Möglichkeit, die das 33 Jahre zu spät erhaltene Angebot eines Plattenvertrags für die Bandmitglieder einer ambitionierten New-Wave-Band bereitgehalten hätte, als mit einem Abgleich der Persönlichkeiten von damals mit ihrem heutigen Leben.
Besonders gelungen sind dem Autor dabei die Rückblenden in die 1980er Jahre, als sich die Band gegründet und gefunden hatte. Weniger gut nachzuvollziehen sind die Schicksale der Protagonisten in der heutigen Zeit. Hier verliert sich Laurain in Einzelschicksalen und unzusammenhängenden Anekdoten. Allein JBMs Präsidentschaftswahlkampf und die Beziehung zu seiner ehrgeizigen persönlichen Assistentin Aurore sowie das Aufsehen erregende Kunstprojekt, mit dem Stan auf einmal weltberühmt wird, nehmen etwas mehr Raum im Strudel der Episoden ein.
Die Charakterisierungen und die Erzähldramaturgie leiden unter den sprunghaften Perspektivwechseln, zu denen auch die eingeschobenen Ich-Erzählungen einzelner Beteiligter zählen. Davon abgesehen verzaubert der kurze Roman aber mit nostalgischem Charme und Gedanken zu verpassten Möglichkeiten und verlorenen Lieb- und Freundschaften.