Jens Henrik Jensen – (Oxen: 2) „Oxen - Der dunkle Mann“

Montag, 19. März 2018

(dtv, 509 S., Pb.)
Niels Oxen darf sich als einziger dänischer Elite-Soldat damit rühmen, nicht nur diverse Tapferkeitsmedaillen, sondern auch das Tapferkeitskreuz erworben zu haben, bevor er am 01.01.2010 aus der Armee ausgeschieden ist. Seither leidet Oxen unter einer posttraumatischen Belastungsstörung und versucht, den Rest seines Lebens möglichst unbemerkt zu verbringen. Als allerdings sein Hund ermordet wurde, führte ihn die Suche nach dem Täter zum Schloss Nyborg, wo seit dem Mittelalter der einflussreiche Danehof die Geschicke des Landes leitete.
Im Zusammenhang mit den Ermittlungen im Mord an dem einflussreichen Vorsitzenden eines dänischen Thinktanks stieß er mit Margrethe Franck, Agentin des dänischen Geheimdienstes PET, auf die Tatsache, dass der allseits beliebte dänische Justizminister Ulrik Rosborg doch nicht der liebende Familienvater und Saubermann ist, für den ihn alle halten, sondern dabei gefilmt worden ist, wie er ein litauisches Mädchen bei Sex erwürgt.
Oxen hat sich anschließend in eine jütländische Waldhütte zurückgezogen, wo er dem alten Johannes bei der Fischzucht und Waldarbeit aushilft. Als der Museumsdirektor Malte Bulbjerg durch Schüsse in die Stirn und ein Auge getötet im Schloss aufgefunden wird, erwacht bei PET-Chef Axel Mossman erneut das Interesse an Oxen, doch so sehr Margrethe Franck noch einmal Oxens persönliches Umfeld durchleuchtet, bleibt der introvertierte Ex-Elitesoldat wie vom Erdboden verschluckt.
Währenddessen versucht der stellvertretende Polizeidirektor und Leiter des Morddezernats, H. P. Andersen, den Mord an Bulbjerg aufzuklären, der in letzter Zeit wohl immer mehr dem Glücksspiel verfallen war und bei dessen Leiche ein Tütchen Kokain gefunden wurde. Leider sickern interne Erkenntnisse an die Medien, außerdem bieten die verdeckt agierenden, vom elitären Danehof-Zirkel engagierten Söldner 30.000 Kronen für sachdienliche Hinweise. Schließlich gelingt es Franck und dann auch Mossman, Oxen doch noch aufzufinden, aber da der Danehof plant, Rosborg zu eliminieren, droht Oxens Überlebens-Police mit dem kompromittierenden Video wertlos zu werden. Oxen muss sich entscheiden, ob er nicht nur Franck, sondern auch Mossman vertrauen kann, um dem Danehof endgültig das Handwerk zu legen.
„Das Material bot einen kleinen Einblick in ein einzigartiges Machtgefüge, das die Jahrhunderte überdauert hatte. Es hatte manchmal Unterbrechungen gegeben, und die Struktur hatte sich verändert. Aber der Danehof war immer noch da und bedeutete eine latente Gefahr für jeden, der ihm in die Quere kam. Der Danehof war ein schlummernder Virus, intakt und nach all den Jahren immer noch tödlich.“ (S. 196f.) 
Mit dem hochdekorierten, aber traumatisierten und zurückgezogen lebenden Ex-Elitesoldaten Niels Oxen hat der dänische Schriftsteller Jens Henrik Jensen eine faszinierende Figur geschaffen, dessen ausgeprägten Talente nach wie vor wertvoll für den Geheimdienst sind. „Das erste Opfer“, Band 1 der „Oxen“-Trilogie, bezog seine Spannung weitgehend aus der Frage, inwieweit Oxen dem PET-Chef Mossman trauen kann oder nur als Spielball der Geheimdienstinteressen benutzt wird. Diese Frage schwebt auch über der Handlung des Nachfolgebandes „Der dunkle Mann“, wobei Jensen zunächst etliche geheimnisvolle Handlungsstränge mit anonymisierten Figuren entwirft, die erst nach und nach aufgelöst und zusammengeführt werden. Der Autor beschränkt sich dabei zunächst mehr auf ausgiebige Beschreibungen der jeweiligen Settings als seinen Figuren Charakter zu verleihen. Wieder sind es vor allem Niels Oxen und Margrethe Franck, die überhaupt etwas an Profil gewinnen. Aber sobald die Jagd durch den Danehof auf Oxen eröffnet wird, zieht die Spannung deutlich an, gewinnt die Handlung an Tempo und Struktur, werden Motivationen deutlicher herausgearbeitet.
Im furiosen Finale werden einige interessante Weichen für den Abschluss der Trilogie gestellt, der unter dem Titel „Gefrorene Flammen“ für September angekündigt ist.  
Leseprobe Jens Henrik Jensen - "Der dunkle Mann"

Max Scharnigg – „Der restliche Sommer“

Samstag, 17. März 2018

(Hoffmann und Campe, 239 S., HC)
Mit seiner Kolumne über gute Manieren, die er unter dem Pseudonym August Sternberg seit zwölf Jahren für den Stil-Teil eines Wochenmagazins schreibt, hat es der 45-jährige Journalist Paul Neulich zu einigem Ansehen geschafft. Kaum hat er die Trennung von der Paartherapeutin Sonja Wilms verwunden, ist er mit seiner neuen Lebensgefährtin Sara vor zehn Monaten zu einer Reise in die Algarve aufgebrochen, wo beide erst einmal verarbeiten, was sie in ihrem alten Leben zurückgelassen haben und ob sie überhaupt zueinander passen.
Paul träumt davon, das Lokal von Kiko für die Zeit zu übernehmen, in der sich die alte Dame einer Operation unterziehen muss, doch fühlt er sich der Aufgabe und der Konfrontation mit den vielen Menschen in der Bar nicht gewachsen, so dass an Sara die Arbeit hängenbleibt. Sie hatte einst davon geträumt, Schauspielerin oder Künstlerin zu werden, fühlt sich in dem gutbürgerlichen Leben mit Paul aber erst richtig im Leben angekommen.
Pauls Ex-Frau Sonja sorgt mit einem Interview für Aufsehen, wird auf einmal von den Medien als neues Vorbild für die Frauen umgarnt und erfährt so die Aufmerksamkeit, die sonst Paul beschieden war, dem sie irgendwie immer noch hinterhertrauert. Und dann ist da noch Saras Ex-Freund Tin Hasenglock, der seiner großen Liebe Sara hinterherfliegen will, am Flughafen aber Opfer eines Terroranschlags wird. Im Krankenhaus erfährt er allerdings, dass er nicht wegen des Attentats operiert worden ist, sondern dass ihm ein Stück krebsverseuchter Darm entnommen wurde.
Der Erfinder der Kontaktbörse harpf.com lernt mit der temperamentvollen und gesellschaftskritischen Bio-Brotverkäuferin Tove eine ganz andere Seite vom Leben kennen.
„Nach ihrem ersten Treffen im Aufenthaltsraum war sie jedenfalls zweimal täglich bei ihm vorbeigeschlendert und hatte es sich zur Aufgabe gemacht, ihm die Welt zu erklären, obwohl sie so viel jünger war. Tatsächlich fühlte sich Tin neben ihr wie ein Schlaganfallpatient, der das Sprechen neu lernen musste. Im gleichen schmerzhaften Prozess, in dem sich die Zellen rund um seine Narbe und in seinem zerstückelten Darm erneuerten, erneuerte sich dank Tove sozusagen auch die Welt vor seinem Fenster.“ (S. 172) 
Der 1980 in München geborene Autor Max Scharnigg schreibt nicht nur als Redakteur für die Süddeutsche Zeitung, sondern hat mit seinen Romanen „Die Besteigung der Eiger-Nordwand unter einer Treppe“ und „Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau“ auch als Schriftsteller auf sich aufmerksam gemacht, dazu mit „Herrn Knigge gefällt das!“ über gute Manieren im Netz philosophiert.
Mit seinem neuen, schlicht „Der restliche Sommer“ betitelten Roman beschreibt Scharnigg die ineinander verflochtenen Biografien von vier eigentlich erfolgreich mitten im Leben stehenden Menschen, die aber nicht so recht zu wissen scheinen, was sie denn genau vom Leben und vor allem der Liebe erwarten sollen. So suchen Paul und Sara erst einmal Abstand von ihrem alten Leben und den Sommer in Portugal zu verlängern, wo ihnen der Alltag nichts anhaben kann, wohl aber das mit giftigem Stachel bewehrte Petermännchen. Scharnigg widmet seinen vier gleichberechtigt nebeneinander angelegten Figuren jeweils eigene Kapitel im losen Wechsel, wobei vor allem deutlich wird, wie sich die ehemaligen Eheleute Paul und Sonja beruflich konträr entwickeln, wie der bislang vor allem in virtuellen Welten bewanderte Tin durch eine viel jüngere Frau das Leben von einer ganz anderen Seite kennenlernt und wie die eher ziellos im Leben dahingetriebene Sara in Portugal eine handfeste Arbeit zu schätzen lernt.
Der Autor entwickelt dazu keinen besonders kniffligen Plot, sondern treibt die Handlung – sofern es eine nennenswerte zu erzählen gibt – eher gemächlich voran. Vielmehr interessiert ihn die persönliche Entwicklung seiner Figuren, die ganz in ihren Gedanken und Erinnerungen portraitiert werden. Dabei legt Scharnigg eine sprachliche Gewandtheit und einen feinsinnigen Humor an den Tag, dass es eine Freude ist, den vier Typen und dann auch Tove durch das kurzweilige Buch zu folgen.

Harald Schodl – „Sommerfrische“

Donnerstag, 15. März 2018

(Text/Rahmen, 368 S., HC/eBook)
Der Journalist Carl Sandtner versucht seinen verschollenen Freund und Kollegen Benny Kappel zu finden. Nachdem sie seit drei Jahren nichts voneinander gesehen und gehört hatten, erhielt Carl vor einigen Wochen einen kryptischen Anruf von Benny, der aber dann zum vereinbarten Treffen nicht erschienen war und seitdem wie vom Erdboden verschluckt zu sein scheint. Von Bennys Ex-Frau Sylvia, die auf seine Unterhaltszahlungen wartet, erfährt er, dass Benny zuletzt als Kaufhausdetektiv tätig gewesen ist. Auch wenn die Polizei im weniger schicken Wiener Stadtteil Ottakring nicht gewillt ist, intensiver nach Benny zu suchen, erhält Carl von Abteilungsinspektor Lafa immerhin einen ersten Anhaltspunkt geliefert, der ihn zum Sicherheitsverantwortlichen beim Wiener Kaufhaus Heimwert, Manfred Racz, führt.
Carl heuert dort ebenfalls als Detektiv an, installiert eine Wanze in Racz‘ Büro und kommt so einer kriminellen Vereinigung auf die Spur, in der Racz und sein Kollege Stefan Kalhammer eher die zweite Geige spielen, dafür aber der Unterwelt-Boss Johannes Hoffmann mit seinen wenig zimperlichen Handlangern Zucker-Pauli und Satin-Schorsch umso kräftiger mitmischen.
„Dass in dem Kaufhaus etwas mindestens genauso faul war wie die Zähne altersschwacher südosteuropäischer Straßenhunde war mittlerweile auch für Carl klarer als Wiener Hochquellwasser. Könnte also Heimwert der Schlüssel sein, um die Hieroglyphen zu entziffern, die Bennys rätselhaftes Verschwinden hinterlassen hatte?“ (Pos. 2004) 
Mit seinem Debütroman „Sommerfrische“ taucht der Wiener Autor Harald Schodl tief in die dunklen Abgründe der österreichischen Hauptstadt ein und schafft bereits in dem stimmungsvollen Prolog eine drückend-schwüle Atmosphäre, die sich mit ihrer Mischung aus Schweiß und Blut, Dreck und Gestank nachdrücklich im Gehirn des Lesers festsetzt.
Unter der unerträglichen Hitze leidet vor allem der Journalist Carl Sandtner, dessen von Dämonen und Fürsorge getriebene Persönlichkeit eher an skandinavische als amerikanische Vorbilder erinnert und definitiv die vielschichtigste und sympathischste Figur des Romans darstellt. Dagegen orientieren sich Hoffmann, Racz und Kalhammer an den Genrekonventionen für Bösewichter, wobei Schodl hier durch seine derbe, schwarzhumorige Sprache zumindest in den Dialogen für den entsprechenden Biss sorgt.
Positiv fällt auch die ungewöhnlich vielfältige Charakterisierung von Racz‘ schöner Schwester Annette auf, die nicht nur mit dem Handicap einer Beinprothese leben muss, sondern auch nicht so recht von Hoffmann loskommt. Dagegen wirken die immer wieder mal kurz thematisierten Morde an prominenten SPÖ-Politikern wie ein MacGuffin, der den Spannungsfluss eher stört als vorantreibt. Allerdings ist Schodl auch nicht an einem eindimensionalen Krimi-Plot gelegen. Stattdessen zeigt der ehemalige Student der Publizistik, Politikwissenschaften und Geschichte, dann als zehn Jahre als Journalist arbeitende Autor, wie sich am Beispiel des „Wiener Boten“ die politische Gesinnung im Land nachhaltig verändert hat.
„Sommerfrische“ ist ein überaus gelungenes Debüt, das durch seine atmosphärische Milieubeschreibung, eine starke Hauptfigur und eine sehr bildhafte Sprache überzeugt und das Potenzial besitzt, den Auftakt einer längeren Reihe um den charismatischen Carl Sandtner zu bilden.
Leseprobe Harald Schodl - "Sommerfrische"

John Katzenbach – „Der Reporter“

Dienstag, 6. März 2018

(Knaur, 427 S., Tb.)
Ein Jahr nach Richard Nixons Abdankung erschüttert der brutale Mord an der allseits beliebten 16-jährigen Cheerleaderin Amy ausgerechnet am Unabhängigkeitstag Miami. Malcolm Anderson, der als Polizeireporter beim „Journal“ gute Beziehungen zum Morddezernat unterhält, ist mit dem Fotografen Andrew Porter als erster Pressevertreter am Tatort und sorgt mit seiner exklusiven Titelstory für Angst und Unbehagen in der Bevölkerung. Denn als sich der Killer telefonisch bei Anderson meldet, gibt er zu, ein völlig unschuldiges Opfer ausgewählt zu haben, dem weitere ebenso beliebige folgen werden. Wenig später wird ein altes Ehepaar ebenfalls tot in seiner Wohnung aufgefunden, wie das Mädchen an den Händen gefesselt und mit einer großkalibrigen Waffe erschossen.
Die Angst, die die Stadt großflächig erfasst, macht auch vor dem Reporter und seiner Freundin, der Krankenschwester Christine, nicht halt, schließlich ruft der offensichtlich psychotische Killer Anderson auch zuhause an und erzählt ihm ausführlich von seinen traumatischen Kriegserlebnissen in Vietnam und der Beziehung zu seiner verführerischen Mutter und dem strengen Vater. Auf einmal machte sich der erschütternde Gedanke breit, dass der Täter nicht nur seinen perversen Sexualtrieb befriedigen will, sondern es auf jeden beliebigen Menschen absehen könnte.
Trotz der vielen Hinweise, die der redegewandte Mörder Anderson auf seine Identität gibt, gelingt es der Polizei nicht, eine Spur zu finden. Das mörderische Treiben sichert dem „Journal“ prächtige Auflagen, während die Detectives Wilson und Martinez weiterhin im Dunkeln tappen.
„Je mehr ich mir die Stimme und den Tonfall des Killers vergegenwärtigte, seine Erinnerungen, seine Ichbezogenheit, seine Arroganz, desto mehr verlagerte sich meine Loyalität vom Mörder zur Polizei. Doch statt darüber erleichtert zu sein, hatte ich ein mulmiges Gefühl, ohne dass ich sagen konnte, warum.“ (S. 219) 
Bereits mit seinem Roman-Debüt „In the Heat of the Summer“ aus dem Jahre 1982 avancierte der ehemalige Gerichtsreporter John Katzenbach zum Thriller-Star. Schließlich wurde sein Debüt 1985 mit Kurt Russell in der Hauptrolle als „Das mörderische Paradies“ erfolgreich verfilmt, drei Jahre später erschien bei Bastei Lübbe die gleichnamige deutsche Erstausgabe, die nun als „Der Reporter“ in völlig neu bearbeiteter Ausgabe bei Knaur wiederveröffentlicht worden ist.
Dabei beweist der Sohn einer Psychoanalytikerin und des früheren US-Justizministers Nicholas Katzenbach viel Gespür für die Materie. Sowohl die Abläufe der polizeilichen Ermittlungsarbeit als auch die psychologischen Profilanalysen des Killers wirken absolut plausibel, zumindest die Haupt-Charaktere sind dazu gut gezeichnet.  
Katzenbach beschreibt nicht nur, was die erschreckend beliebigen Tötungsdelikte im Mikrokosmos der Beziehung von Ich-Erzähler Malcolm Anderson und seiner attraktiven und empathischen Freundin Christine anrichten, sondern wie verunsichert sowohl die Medien als auch die Bevölkerung mit dem Umstand umgehen, dass da draußen ein anonymer Killer herumläuft, der seine Geschichte in den Medien präsent haben will. Dabei thematisiert der Autor sowohl das Recht des Amerikaners auf den Besitz einer Waffe als auch die Verantwortung der Medien, die offenbar keine andere Möglichkeit sehen, als an der Story dranzubleiben. All dies verwebt Katzenbach zu einem gnadenlos packenden Thriller, der den Leser bis zum wendungsreichen Finale in Atem hält.
Leseprobe John Katzenbach - "Der Reporter"

Jason Starr – „Ein wirklich netter Typ“

Freitag, 2. März 2018

(Diogenes, 265 S., HC)
Der zweiunddreißigjährige Tommy Russo wartet in New York noch immer auf den Durchbruch als Schauspieler, doch in den letzten neun Jahren schaffte er es nur zu zwei Rollen – als Zweitbesetzung in einem Off-Broadway-Stück, das nach sechs Vorstellungen abgesetzt wurde, und als kleine Nebenrolle in einem Direct-to-Video-Kung-Fu-Streifen. Seinen Lebensunterhalt verdient er sich als Rausschmeißer in einer Bar in Manhattan, sein Mini-Apartment kann er sich nur leisten, weil er für seinen Vermieter auch den Hausmeister-Job übernimmt. Immer wieder versucht er, beim Glücksspiel und auf der Pferderennbahn das große Geld zu machen, doch überwiegen die Verluste bei weitem die sporadischen Gewinne. Als er zufällig seinen alten Kumpel Pete Logan wiedertrifft, der zwar stinkt wie ein Scheißhaufen, aber immerhin zwei Schuhgeschäfte besitzt, sieht er seine große Chance kommen: Denn Pete lädt ihn ein, einer von fünf gleichberechtigten Besitzern eines Rennpferds zu werden.
Allerdings muss er dafür einen Anteil von zehntausend Dollar einbringen, den er natürlich nicht hat. Der Versuch, mit geliehenem Geld beim Glücksspiel die erforderliche Summe aufzutreiben, schlägt natürlich fehl, aber dann bietet sich für Tommy die Möglichkeit, den Safe seines Chefs Frank O’Reilly auszuräumen, wo die Einlagen für den Super-Bowl-Toto deponiert sind.
Als der Diebstahl entdeckt wird, gerät Franks Stiefsohn Gary in Verdacht, aber Tommy verstrickt sich zunehmend in ein Geflecht aus Lügen, Diebstahl, Betrug und sogar Mord, um seinen Traum vom Besitz eines gewinnbringenden Galoppers zu verwirklichen.
„Mir gefiel, dass die vielen Kameras und Scheinwerfer auf mich gerichtet waren. Ich fühlte mich wieder als Schauspieler. Ich trat in einem Kinofilm oder einer Fernsehsendung auf und wusste, dass das erst der Anfang war. Als berühmter Pferdebesitzer würde ich andauernd Pressekonferenzen abhalten.“ (S. 209) 
Auch mit seinem dritten Roman nach „Top Job“ (1997) und „Die letzte Wette“ (1998) präsentiert Jason Starr seinem Publikum einen Protagonisten, der alles andere als sympathisch ist. Zwar verfügt der Ich-Erzähler Tommy Russo über das – wie er selbst findet – attraktive Aussehen und natürlich auch Talent eines Filmschauspielers, doch da er im Show Business nicht über eine angesehene formale Ausbildung und die nötigen Kontakte verfügt, bleibt ihm diese Karriere nun mal wie so vielen anderen Möchtegern-Stars verschlossen.
In der Bar seines Chefs und Freundes Frank, dessen Frau Debbie nicht nur an der Flasche hängt, sondern auch vor Franks Augen mit anderen Männern schläft, gibt er sich oberflächlich mit ein paar Frauen ab, von denen er letztlich nur Geld leihen will oder sogar den Schmuck stiehlt. Den ihm gegenüber geäußerten Verdacht kann er stets geschickt auf andere Personen lenken, so dass Tommy einfach weiter seinen kleinkriminellen Aktivitäten nachgehen und vom kommenden Ruhm als Pferdebesitzer träumen kann. All dies beschreibt der Autor in gewohnt einfacher, leichtflüssiger Sprache, wobei vor allem der schwarze Humor, der hinter Tommys perfiden Plänen und Aktionen hervorblitzt, für die unterhaltsamen Elemente sorgt, doch bleiben die Figuren allesamt sehr flach.

Richard Bachman – „Amok“

Donnerstag, 1. März 2018

(Heyne, 220 S., Tb.)
Mitten im Algebraunterricht bei Mrs. Jean Underwood an der Placerville High School wird Charles Decker in das Büro von Direktor Thomas Denver gerufen, um mit ihm über den Vorfall mit Charlies Mitschüler John Carlson zu sprechen, den er krankenhausreif geschlagen hatte. Doch Charlie lässt sich auf keine Diskussion ein, verlässt das Büro mit dem kompromittierenden Vorwurf, vom Direktor sexuell belästigt worden zu sein, holt aus seinem Spind die Pistole seines Vaters und schießt seiner Algebra-Lehrerin in den Kopf.
Als der Geschichtslehrer Mr. Vance nach dem Rechten sehen will, erschießt Charlie auch ihn und hält seine 24 Klassenkameraden als Geiseln. Auf Verhandlungen mit der Polizei oder dem Schulpsychologen Mr. Grace lässt sich Charlie nicht ein.
Stattdessen lässt er seine Mitschüler von ihren ersten sexuellen Erfahrungen und anderen einschneidenden persönlichen Erlebnissen berichten, gibt auch von sich selbst einiges preis.
„Ich warf einen schnellen Blick zum Publikum. Sie waren gebannt, wie hypnotisiert. Sie dachten nicht an Mr. Grace oder Tom Denver oder Charles Everett Decker. Sie beobachteten angespannt, und was sie sahen, war vielleicht ein kleiner Einblick in ihre eigenen Seelen, der ihnen aus einem zersprungenen Spiegel entgegenblitzte. Es war prächtig. Es war wie frisches Gras im Frühjahr.“ (S. 101) 
Nachdem der stets äußerst produktive Schriftsteller Stephen King mit seinen ersten Romanen „Carrie“ (1974), „Brennen muss Salem“ (1975) und „The Shining“ (1977) die Bestsellerlisten gestürmt hatte, wollte er austesten, ob sich seine Bücher auch ohne den großen Namen dahinter verkaufen würden, und veröffentlichte zwischen 1977 und 1984 die fünf Romane „Amok“ (1977), „Todesmarsch“ (1979), „Sprengstoff“ (1981), „Menschenjagd“ (1982) und „Der Fluch“ (1984) unter dem Pseudonym Richard Bachman, die später, als dessen Geheimnis gelüftet war, auf dem deutschen Markt mit dem Zusatz „Bachman ist King – Stephen King ist Bachman“ veröffentlicht wurden.
Das Bachman-Debüt „Amok“ ist auch nach vierzig Jahren erschreckend aktuell, betrachtet man die zunehmenden Massaker von Amokläufern an amerikanischen High Schools. Während die aktuellen Diskussionen allerdings eher um die Frage nach dem Waffenbesitz thematisieren, nutzt Stephen King alias Richard Bachman das extreme Szenario einer Geiselnahme mit dem Mord an zwei Lehrkräften eher als Coming-of-Age-Drama, bei dem die jungen Erwachsenen sich gezwungen sehen, Geheimnisse ihrer zwischenmenschlichen Beziehungen zu offenbaren und sich dadurch bei anderen Mitschülern teils unbeliebt machen, teils aber einfach überraschende Erkenntnisse liefern.
Charles Decker, der die Geschichte aus seiner Perspektive erzählt, taugt dabei nicht zwingend als sympathische Identifikationsfigur, aber um die Chuzpe, mit der dieser junge Mann jedwede Autoritätsperson beleidigt und vorführt, beneiden ihn sicher so einige Leser in Charlies Alter.
So kurzweilig sich die 220 Seiten lesen lassen und Einblicke in die Psyche nicht nur des soziopathisch veranlagten Protagonisten, sondern auch in die ganz normaler Teenager gewähren, so ist dieses Frühwerk doch noch weit von der atmosphärischen Dichte und psychologischen Raffinesse entfernt, die wir aus späteren Meisterwerken des „King of Horror“ kennen.

Anthony McCarten – „Jack“

Montag, 26. Februar 2018

(Diogenes, 255 S., HC)
Die Berkeley-Literaturstudentin Jan Weintraub hat sich im Frühjahr 1968 vorgenommen, die offizielle Biographie über ihr Idol Jack Kerouac zu schreiben, doch ihn aufzufinden erweist sich als gar nicht so leicht. Nach zehn veröffentlichten Romanen hat Kerouac zwei Jahre zuvor beschlossen, sich völlig aus der Öffentlichkeit zurückzuziehen. Als sie ihn schließlich in Florida bei seiner Mutter aufspürt, bleibt ihr nicht viel Zeit, die Erlaubnis von dem Kultautor einzuholen, dessen Roman „Unterwegs“ in den 1950er Jahren zur Bibel der Beatniks geworden war, denn der 47-Jährige hat sich vorgenommen, sich totzusaufen. Doch mit einer dreisten Lüge gelingt es Jan, nicht nur eine Einladung in Jacks Haus zu bekommen, sondern mit ihrem Idol auch über seine Vergangenheit zu sprechen, über die Reihenfolge in der Entstehung seiner Werke, über seine erste Frau Edie Parker, über die Freundschaft mit Allen Ginsberg, William W. Burroughs und vor allem mit Neal Cassady, der das Vorbild für Jacks berühmteste Figur, Dean Moriarty, werden sollte.
Doch vor allem will die ambitionierte Studentin an die Briefe kommen, die Jack verschiedenen Quellen zufolge sorgsam archiviert hatte, aber nun verbrannt sein sollen. Als sie von Jack dabei erwischt wird, wie sie seine Schubladen nach den Briefen durchsucht, erfährt die Beziehung zwischen Autor und Biographin eine ganz neue Dynamik. Nicht nur Jans Mutter gerät mehr in den Fokus ihrer Ambitionen, sondern auch Jacks einst bester Freund Neal.
„Bei alldem, in dem ganzen Bericht, den ich auf Band aufgenommen hatte, zeigte er nicht einen Hauch von Bedauern über sein Verhalten, wie ich es eigentlich von ihm erwartet hätte. Kein Hinweis, dass etwas daran nicht richtig gewesen sei, kein Gefühl der Mitschuld an Neals Niedergang, (…) nicht ein Fünkchen Mitgefühl. Wer war dieser Mann bloß, fragte ich mich, dieser riesige weiße Wal, der so selten aus der Tiefe auftauchte?“ (S. 92) 
Anthony McCarten hat bereits mit seinen Drehbüchern zu den verfilmten Biographien von Stephen Hawking („Die Entdeckung der Unendlichkeit“) und Winston Churchill („Die dunkelste Stunde“) eindrucksvoll bewiesen, dass er einen ganz besonderen Blick auf die Lebensgeschichten ungewöhnlicher Persönlichkeiten besitzt. Zum Beatnik-Star Jack Kerouac hat der in Neuseeland geborene und in London lebende Bestseller-Autor („Englischer Harem“, „Superhero“) insofern eine ganz besondere Beziehung, weil dieser ihn zum Schreiben gebracht habe und er sich sehr gut mit den Dämonen auskenne, die auch Kerouac verfolgt haben.
Der erste Teil des ebenso kurzen wie kurzweiligen und wendungsreichen Buches liest sich zunächst wie die eher konventionelle Annäherung einer Möchtegern-Biographin an ihr Idol. Von ihrem eingangs geschilderten Besuch seiner Beerdigung richtet die Berkeley-Studentin als Ich-Erzählerin den Blick zurück auf die Suche nach Jack Kerouac und den nicht immer leichten Zugang zu ihrem Idol, der sich aber doch auf Tonbandaufnahmen der Gespräche zwischen ihnen einlässt. Hier werden im Schnelldurchlauf die wichtigsten Stationen in Kerouacs Leben skizziert, etwas ausführlicher wird dabei auf Neal Cassady eingegangen, an dem die Biographin ein besonderes Interesse zeigt.
Warum das so ist, wird im zweiten Teil nach Jans Kompromittierung durch Kerouac deutlich, als einige unbequeme Wahrheiten aufgedeckt werden und ein munteres Spiel um Identitäten seinen Lauf nimmt. Hier verlässt McCarten das vertraute Terrain konventioneller Künstler-Biographien und richtet den Blick nicht nur verstärkt auf die Ich-Erzählerin, sondern widmet sich dabei ganz allgemein auch der Frage, wer wir eigentlich sind und woran die Identität eines Menschen eigentlich festgemacht wird. Der philosophische Diskurs ist dabei aber ganz unterhaltsam in die Verstrickungen eingebunden, in die sich die junge Frau manövriert hat und für die sie sich nicht nur Kerouac gegenüber rechtfertigen muss.
McCarten gelingt dabei das Kunststück, eine literarische Kultfigur wieder lebendig werden zu lassen und dabei den Leser zum Nachdenken über seine eigene Persönlichkeit anzuregen.
Leseprobe Anthony McCarten - "Jack"

James Carlos Blake – „Red Grass River“

Sonntag, 25. Februar 2018

(Liebeskind, 528 S., HC)
Die Everglades werden von den Einheimischen wegen der mörderischen Mischung aus Treibsand, Zypressensümpfen, Zwergpalmetto-Gestrüpp, Alligatoren, Panther, Schlangen und Mücken als Devil’s Garden bezeichnet. Hier hilft im Dezember 1911 der achtzehnjährige John Ashley seinem Vater dabei, Alkohol an die Indianer zu verkaufen. Als er bei einer Auseinandersetzung den Indianer DeSoto Tiger erschießt, kommt er erstmals mit dem Gesetz und Sheriff Bobby Baker in Konflikt, dem er nicht nur das Mädchen wegnimmt, sondern der ihn und seine Familie von Gesetzesvertretern immer wieder herausfordert, zunächst mit Banküberfällen, zur Prohibition mit flächendeckendem Alkoholschmuggel und Morden.
Bei einem der Raubüberfälle schießt ihm der Chicagoer Gangster Kid Lowe versehentlich ein Auge aus. Zusammen mit seiner Geliebten, der blinden Loretta May, die er im Freudenhaus von Miss Lillian kennen- und lieben gelernt hat, lebt John Ashley mit seinen Brüdern und seinem Neffen Hanford Mobley in den Sümpfen, die er wie kein Zweiter in- und auswendig kennt. Kurz bevor Ashley eine Haftstrafe im Staatsgefängnis von Raiford antritt, lernt er die schöne Laura Upthegrove kennen und führt sie in seine Familie ein, die mit ein paar Freunden von John Vater Old Joe Ashley dafür sorgt, dass Ashley aus dem Gefängnis fliehen kann, worüber Bobby Baker alles andere als erfreut ist.
„Es schien, als warte er auf etwas, von dem er nicht genau wusste, was es war. Und viele Menschen teilten dieses Gefühl. Sie sagten, es fühle sich an wie ein schlimmer Sturm, der sich am Horizont zusammenbraute, auch wenn man die Anzeichen noch nicht benennen könne. Als braue er sich ohne Geräusch oder Geruch und ohne Windhauch zusammen, und doch wisse doch jeder, dass er da draußen lauere und unweigerlich heranziehen werde.“ (S. 398) 
Zwischen dem schnell zur Legende gewordenen Outlaw und dem liebevollen Familienvater und Gesetzeshüter Bobby Baker entwickelt sich ein tiefverwurzelter Hass, ein Krieg, der erst am 1. November 1924 beendet wird, als die Ashley-Gang auf dem Weg nach Jacksonville zu einem weiteren Bankraub ist und in eine Straßensperre auf dem Dixie Highway gerät.
Der in Mexiko geborene, in Texas aufgewachsene und heute in Arizona lebende Schriftsteller James Carlos Blake wurde hierzulande durch die mit dem Los Angeles Times Book Prize prämierte deutsche Erstveröffentlichung „Das Böse im Blut“ bekannt und hat schon in seinem Debütroman „Pistolero“ einer amerikanischen Gangster-Legende nachgespürt, dem Revolverhelden John Wesley Hardin (1853-1895).
Mit seinem im Original 1998, nun endlich in deutscher Übersetzung veröffentlichten Roman „Red Grass River“ rekapituliert er das Leben und Wirken des Outlaws John Ashley aus der Sicht des Liars Club, einer Gruppe von alten Männern, die als sogenannte „Cracker“, Viehtreiber, aus dem Süden nach Florida kamen und sich allerlei Geschichten über John Ashleys Gang und die Verbrechen, die sie begingen, erzählten.
Bereits aus dieser Erzählperspektive wird deutlich, wie sehr sich Fakt und Fiktion bei dem vorliegenden Werk vermischen. Blake bedient sich dabei einer ebenso rauen wie farbenprächtigen Sprache, die den harschen Umgangston unter den Männern ebenso pointiert wiedergibt wie die Schrecken der unbarmherzigen Natur, die allerdings zunehmend zurückgedrängt wird. Der Autor nutzt die epische Gangster-Ballade nicht nur für die Darstellung der über ein Jahrzehnt andauernden Fehde zwischen den Ashleys und Bakers, sondern auch zur Beschreibung von gewaltigen Veränderungen, von der Bezähmung der Natur, der Ausbreitung von wirtschaftlichen Interessen und Verbrechen, aber auch von der Leidenschaft, mit der Menschen sich lieben und zerstören.
Ähnlich wie Cormac McCarthy („Die Abendröte im Westen“) - wenn auch nicht ganz so düster - beleuchtet James Carlos Blake die dunklen Kapitel in der amerikanischen Geschichte. Detailliert beschreibt er, welche Wunden Messer, Pistolen, Gewehre und Fußtritte und Faustschläge anrichten, wie Rippen und Kiefer brechen, Haarbüschel von der Kopfhaut geschossen werden und Blut gespuckt wird. Auch bei der Schilderung der vielen Sexszenen fühlt sich der Leser eher an Raufereien als an liebevolle Zusammenkünfte erinnert.
Zwar stehen die Ashleys im Mittelpunkt der Geschichte, aber James Carlos Blake kommt auch immer wieder auf die Baker-Familie zurück, um so einen bürgerlichen Gegenentwurf zu dem Verbrecherdasein der Ashleys zu zeichnen, auch wenn dieser weitaus weniger interessant erscheint. Nachdem jetzt erst drei Romane des vielfach ausgezeichneten Autors auf Deutsch erhältlich sind, bleibt zu hoffen, dass auch die nach „Red Grass River“ veröffentlichten Romane und dabei vor allem die bereits vier Bände umfassende Wolfe-Reihe bald nachfolgen werden. 
Leseprobe James Carlos Blake - "Red Grass River"

Nils Daniel Peiler – „201 x 2001 – Fragen und Antworten mit allem Wissenswerten zu Stanley Kubricks Odyssee im Weltraum“

Montag, 19. Februar 2018

(Schüren, 108 S., Tb.)
Nach seinem Meisterwerk „Dr. Seltsam oder: Wie ich lernte, die Bombe zu lieben“ (1964) war der gefeierte Filmemacher Stanley Kubrick so sehr von der Idee außerirdischen Lebens fasziniert, dass er einen wirklich guten Science-Fiction-Film realisieren wollte, was ihm 1968 in Zusammenarbeit mit dem Science-Fiction-Darsteller Arthur C. Clarke mit „2001: Odyssee im Weltraum“ auch gelang. Immerhin kürte das American Film Institute Kubricks Film 2008 zum besten Science-Fiction-Film aller Zeiten. Seither ist auch viel Literatur zum 1999 verstorbenen Regisseur und natürlich auch zu „2001: Odyssee im Weltraum“ veröffentlicht worden.
Der Filmwissenschaftler Nils Daniel Peiler hat sich bereits als Promotionsstipendiat der Friedrich-Ebert-Stiftung am Institut für Europäische Kunstgeschichte der Universität Heidelberg zur künstlerischen Rezeption des Films geforscht, dazu sowohl den Nachlass des Regisseurs an der University of the Arts in London ausgewertet als auch Kontakt zur Familie gehalten. Schließlich ist er Kokurator der „2001“-Jubiläumsausstellung im Deutschen Filmmuseum Frankfurt, die bis September 2018 Originalrequisiten, Zeichnungen und Dokumente präsentiert.
Peilers gerade mal gut 100-seitiges Büchlein nähert sich dem vieldiskutierten Meisterwerk auf ungewohnte Weise, nämlich in Form von 201 Fragen, die alphabetisch zu Themen wie „Arbeitstitel“ und „Auszeichnung“ bis zu „Zeilen“ des Filmdialogs und zum „Zeitgeist“ abhandeln. Einige Antworten wie zur Affengrube und den dort eingesetzten Special Effects sind sicher interessanter als beispielsweise Fragen, wessen Atem bei den Astronauten zu hören ist, in welchen Ländern der Film in die Kinos kam oder wer die deutschen Synchronsprecher waren. Und manche Fragen wiederholen sich, wenn es beispielsweise um die Zusammenarbeit zwischen Kubrick und Clarke oder die Fortsetzungen und ihre dazugehörigen Marketing-Slogans geht. Aber für den interessierten Leser ergibt sich so wirklich häppchenweise ein informatives Gesamtbild aus faszinierenden Facetten, die Verschwörungstheorien genauso umfassen wie Erklärungen zu den damals bahnbrechenden Special Effects, für die Kubrick übrigens seinen einzigen Oscar zu Lebzeiten erhielt.
Wer tiefer in die Materie zu Stanley Kubricks außergewöhnlichen Werk eintauchen möchte, sollte aber beispielsweise auf das von Alison Castle herausgegebene „Stanley Kubrick Archiv“ (Taschen), „Stanley Kubrick und seine Filme“ von Fernand Jung und Georg Seesslen (Schüren) oder „Stanley Kubrick“ von Andreas Kilb und Rainer Rother (Beltz) zurückgreifen.

John Grisham – „Die Firma“

Sonntag, 18. Februar 2018

(Heyne, 558 S., Tb.)
Kurz vor seinem Anwaltsexamen verfügt der ehrgeizige Harvard-Student Mitchell McDeere bereits über äußerst lukrative Angebote von der Wall Street und aus Chicago, doch so richtig begeistert ist er nach einem Bewerbungsgespräch bei der kleinen, aber in jeder Hinsicht äußerst großzügigen Anwaltskanzlei Bendini, Lambert & Locke, die ihm nicht nur ein besseres Gehalt zahlen würde als die bisherigen Interessenten, sondern auch eine zinsgünstige Hypothek auf ein schickes Eigenheim und einen BMW bereitstellen. Zwar würde er sich in den ersten Jahren fast totschuften müssen, aber die Partnerschaft wäre ihm in ein paar Jahren sicher.
Auch seine wunderschöne Frau Abby, die als Lehrerin arbeitet, ist von dem Angebot begeistert und zieht mit ihrem aus ärmlichen Verhältnissen stammenden Mann bereitwillig nach Tennessee, wo sie mit einer Innenarchitektin das neue Heim einrichtet und mit den Frauen der anderen Anwälte shoppen geht. Mitch gibt derweil sein Bestes und trumpft in der Firma mit einer für einen Frischling erstaunlichen Summe an anrechenbaren Stunden auf. Doch schon bald zeigen sich Risse in der luxuriösen Fassade, denn Mitch stellt fest, dass abgesehen von den Ruheständlern kein Anwalt die Firma lebendig verlassen hat.
Gleich zu Beginn wohnt Mitch der Beerdigung zweier vielversprechender Kollegen bei, die unter mysteriösen Umständen bei den Cayman-Inseln ums Leben gekommen sind – offensichtlich nicht der erste merkwürdige Todesfall in der Firma. Wenig später tritt auch noch FBI-Agent Wayne Tarrance an Mitch heran, um ihn als Informanten zu ködern, denn die Firma soll ein gut funktionierender Geldwäschebetrieb der berüchtigten Morolto-Familie aus Chicago sein.
Mitch lässt sich auf einen Deal mit dem FBI ein, bei dem auch Mitchs Bruder Ray aus dem Gefängnis entlassen werden soll, doch dann entdeckt das FBI ein Leck in den eigenen Reihen, so dass Mitch, Abby und Ray gezwungen sind, einen eigenen Fluchtplan zu entwickeln.
„Er musterte sie, einen nach dem anderen, rings um die Tische herum. Ihre Gesichter waren gerötet. Ihre Augen funkelten. Sie waren seine Freunde – Familienväter mit Frauen und Kindern -, und alle steckten in dieser furchtbaren Verschwörung. (…)
Vor einem Jahr war er ein toller Harvard-Mann mit Stellenangeboten in jeder Tasche gewesen.
Jetzt war er Millionär, und bald würde auf seinen Kopf ein Preis ausgesetzt sein.“ (S. 415) 
Nach seinem erfolgreichen Jura-Studium an der University of Mississippi praktizierte John Grisham zehn Jahre lang in seiner eigenen Anwaltskanzlei und wurde dort zu dem Thema inspiriert, das 1990 die Grundlage für seinen ersten Thriller bilden sollte. Der später mit Tom Cruise in der Hauptrolle verfilmte internationale Bestseller ließ Grisham seinen Anwaltsjob aufgeben und zu einem der weltweit erfolgreichsten Schriftsteller werden.
Mit „Die Firma“ hat er einen packenden Plot konstruiert, der von den sympathischen Aufsteigern Mitch und Abby McDeere getragen wird, deren Ehe nicht nur durch Mitchs enorme Arbeitsleistung in der Firma belastet wird. Grisham ist sicher kein Autor, der sich durch besonders komplexe Charakterisierungen seiner Figuren auszeichnet. Sowohl die McDeeres als auch die Anwälte bei Bendini, Lambert & Locke sowie die FBI-Leute wirken recht eindimensional, aber der Autor ist definitiv ein Meister in der Beschreibung juristischer Arbeitsprozesse und spannender Verwicklungen, die sich zu einem actionreichen Finale verdichten.
Vor allem die Einführung der McDeeres in die neue, luxuriöse Welt gelingt Grisham großartig, die Beschreibung der ersten komplizierten Fälle, an denen der Junganwalt arbeitet, und auch die ersten Begegnungen mit dem FBI. Und auch Grishams eigener ehemaliger Berufszweig bekommt auf der Jagd nach möglichst vielen anrechenbaren Stunden ordentlich sein Fett weg.
Die Flucht der McDeeres sowohl vor dem Mob als auch dem FBI ist dann so temporeich und komprimiert dargestellt, dass der etwas arg konstruierte Plot kaum negativ ins Gewicht fällt, so sehr fiebert der Leser mit den cleveren McDeeres mit. 
Leseprobe John Grisham - "Die Firma"

Stephen King – „Die Augen des Drachen“

Sonntag, 11. Februar 2018

(Heyne, 382 S., Tb.)
Einst herrschte Roland, der Gütige, über das Königreich Delain. Er war weder der schlechteste noch der beste König, der das Land regiert hatte, aber er gab sich große Mühe, keinem Unrecht zu tun. Als sein Ende nahte, war jedem im Königreich klar, dass Rolands erster Sohn Peter das Zepter übernehmen würde, doch der dämonische Hofzauberer Flagg setzte alles daran, Peters jüngeren und weitaus schwächeren Bruder Thomas auf den Thron zu hieven.
Da Peter so sehr seiner ebenso schönen wie gutmütigen Mutter Sasha glich und wenig beeinflussbar schien, schmiedete Flagg einen teuflischen Plan, an dessen Beginn der unauffällige Mord an der Königin stand, die verblutete, als sie Thomas zur Welt brachte. Tatsächlich gelingt es dem teuflischen Flagg, Peter den Mord an seinem Vater anzuhängen, so dass Peter für den Rest seines Lebens in der Spitze der Nadel – so der Name für das Gefängnis im königlichen Schloss – verbringen und Thomas zum neuen König gekrönt werden.
Als dessen Berater könnte Flagg viel leichter seine eigenen Ziele verwirklichen. Als Zeuge von Flaggs Bösartigkeit gab sich Thomas zunehmend dem Alkohol hin und ließ das Königreich vor die Hunde gehen, während Peter seinerseits einen Plan schmiedete, aus dem hundert Meter über dem Erdboden befindlichen Gefängnis zu fliehen. Doch dafür benötigte er die Hilfe seines alten Dieners Dennis und des mittlerweile verbannten Richters Peyna …
„Peter hatte einen Traum gehabt – seit über einer Woche kehrte er immer wieder und wurde zunehmend deutlicher. Darin sah er Flagg über einen hellen, leuchtenden Gegenstand gebeugt – er tauchte das Gesicht des Magiers in ein fahlgrünes Licht. In diesem Traum kam stets der Zeitpunkt, da Flagg zuerst überrascht die Augen aufriss – und sie dann zu tückischen Schlitzen zusammenkniff. Die Brauen sträubten sich; die Stirn runzelte sich; sein Mund zog sich verbittert wie ein Halbmond nach unten. In diesem Augenblick konnte der träumende Peter eines – und nur eines – deutlich lesen: Tod.“ (S. 279) 
Bevor sich Stephen King an sein großes Magnum Opus machte, den achtteiligen Zyklus um den „Dunklen Turm“, veröffentlichte er 1983 eine auf 1250 limitierte und illustrierte Ausgabe des Märchens „Die Augen des Drachen“, das er eigentlich für seine eigene Tochter Naomi und für Ben, den Sohn seines befreundeten Kollegen Peter Straub, geschrieben hatte. Erst vier Jahre später erschien die – gekürzte - deutsche Erstausgabe bei Heyne.
„Die Augen des Drachen“ ist aus der Sicht eines klassischen Geschichtenerzählers geschrieben, der immer wieder geschickt sein Publikum direkt anspricht und es so wunderbar in das Geschehen miteinbezieht. Die Geschichte enthält alles, was ein gutes Märchen ausmacht: einen aufrechten König, der in seiner Jugend Drachen erlegte; eine schöne und schüchterne Königin, die ihrem Erstgeborenen persönlich die beste Erziehung angedeihen lässt; den eifersüchtigen und einfältigen Spätgeborenen und den dämonischen Hofzauberer, der geschickt intrigiert und seine tödlichen Gifte ganz nach seinen teuflischen Plänen einzusetzen versteht.
Mit Roland und Flagg sind zumindest namentlich auch schon Hinweise auf den „Dunklen Turm“ gegeben, doch im Gegensatz zu den komplexen Konstruktionen in Raum und Zeit, die King in diesem monumentalen Fantasy-Epos entworfen hat, ist „Die Augen des Drachen“ ganz geradlinig erzählt und natürlich auch für ein jüngeres Publikum wunderbar geeignet.  
Stephen King, der wenig später sein einflussreiches Horror-Meisterstück „Es“ publizieren sollte, erwies sich bereits hier als fesselnder Storyteller, der sich offenbar in jedem literarischen Genre zu Hause fühlt. 
Leseprobe Stephen King - "Die Augen des Drachen"

Cormac McCarthy – „Die Abendröte im Westen“

Samstag, 10. Februar 2018

(Rowohlt, 444 S., Pb.)
Im Jahr 1849 verlässt ein namenloser, ebenso blasser wie magerer Junge, dessen Mutter bei seiner Geburt vor vierzehn Jahren verstarb und dessen Vater vom ehemaligen Lehrer zum Dichter rezitierenden Trinker heruntergekommen ist, das Elternhaus und kehrt nicht mehr zurück. Mit seinem latenten Hang zu sinnloser Gewalt zieht er westwärts nach Memphis und dann weiter durch die pastorale, flache Landschaft nach Saint Louis und New Orleans. Er arbeitet in einem Sägewerk, in einer Quarantänestation für Diphtheriekranke und auf einer Farm, wo er sich seinen Lohn in Gestalt eines bejahrten Maultiers auszahlen lässt. Zunächst lässt er sich von der amerikanischen Armee anwerben, doch dann schließt er sich einer Gruppe von Freischärlern um den skrupellosen John J. Glanton an, die mit Freuden auf Skalpjagd gehen, die Ohren ihrer Opfer auf eine makabre Halskette aufreihen und dort schwarz verschrumpeln lassen.
Der mexikanisch-amerikanische Krieg fordert aber auch unter der Glanton-Bande zahlreiche Opfer. Am Ende zählen der Junge und der charismatische „Richter“ Holden zu den wenigen Überlebenden des Massakers. Der gebildete, große und komplett haarlose Richter hält sich für unsterblich und macht seinerseits Jagd auf den Jungen …
„Die ganze Nacht über brannten ihre Wachfeuer im finsteren Weltrund; der Junge löste den Revolverlauf, hielt ihn wie ein Fernrohr vors Auge, suchte die warme Sandkimmung vor dem Brunnen ab und forschte nach, ob sich bei den Feuern etwas rührte. Wohl keine Wüste ist so verlassen, dass nicht nachts irgendein Wesen einen Laut von sich gibt, aber hier war es so; umgeben von Dunkel und Kälte lauschten sie ihren Atemzügen, lauschten dem Schlag ihrer rubinfleischernen Herzen.“ (S. 371) 
Dass der ursprünglich 1985 veröffentlichte fünfte Roman von Cormac McCarthy von der US-amerikanischen Kritik sehr gespalten aufgenommen worden war, ist verständlich. Schließlich beschreibt der später mit dem National Book Award (für „All die schönen Pferde“) und Pulitzer Preis (für „Die Straße“) ausgezeichnete Autor in schonungsloser Manier das Ausleben der dunkelsten Triebe des Menschen, das rücksichtslose Foltern und Morden und Abschlachten von Menschen, vornehmlich von Schwarzen, Indianern und Mexikanern, aber auch vermeintliche Konkurrenten aus den eigenen Reihen fallen hier reihenweise dem blutgierigen Treiben der Freischärler zum Opfer. Damit entromantisiert er die Mythen des Wilden Westens und seziert den Siegeszug des weißen Mannes als mörderisches, blutiges Spektakel. McCarthy macht sich nicht die Mühe, um das Skalpieren und Töten herum eine sinnvolle, dramatisch-spannende Geschichte aufzubauen. Er konzentriert sich ganz auf seine ganz und gar unsympathischen triebhaften und bösen Figuren, die ihr räuberisches Tun in keiner Weise moralisch zu rechtfertigen versuchen, sondern aus der puren Lust und Möglichkeit dazu anderen Menschen Leid zufügen.
Nicht mal der vierzehnjährige Junge ohne Namen, mit dem die Geschichte ihren Anfang nimmt, taugt zur Identifikationsfigur, auch wenn er zumindest mehr als eine Ahnung von dem Unterschied zwischen Gut und Böse besitzt. Stattdessen führt der hochgebildete, selbstherrliche, moralisch aber völlig verkommene Richter das Wort, wobei er das Böse und so auch den Krieg als natürlichen Bestandteil der Weltenschöpfung betrachtet.
Als Widerpart zu den unreflektierten Gewaltdarstellungen zeichnet McCarthy allerdings eindringlich schöne Landschaftsbilder, die ein wenig von dem Zauber bewahren, den der Leser durch den Hollywood-Mainstream vom Wilden Westen gewonnen hat.
Es ist beileibe kein kurzweiliges Vergnügen, dem sinnlosen Abschlachten durch das Buch zu folgen, aber in Sachen sprachlicher Eleganz und bildreicher Fabulierkunst gehört „Die Abendröte im Westen“ fraglos zu den ganz großen Werken der amerikanischen Literatur. 
Leseprobe CormacMcCarthy - "Die Abendröte im Westen"

Wallace Stroby – (Crissa Stone: 3) „Fast ein guter Plan“

Montag, 5. Februar 2018

(Pendragon, 316 S., Pb.)
Crissa Stone ist zwar eine professionelle Berufsverbrecherin, aber eine mit dem Herz am rechten Fleck, weshalb sie auch nur die bösen Jungs bestiehlt und keine rechtschaffenden Leute. Nachdem sie bereits eine illegale Pokerrunde erleichtert und die Beute aus einem großen Lufthansaraub an sich genommen hat, wird sie nun für einen an sich simplen Coup engagiert. Zusammen mit ihrem alten Kumpel Charlie Glass, Larry Black und Charlies Cousin Cordell King will Crissa in Detroit in die Übergabe von gut einer halben Million Drogengeld eingreifen, die über den Kofferraum eines unscheinbaren Altwagens abgewickelt wird.
Trotz einiger Bedenken willigt Crissa in den Plan ein, der Coup geht tatsächlich reibungslos über die Bühne, erst bei der Aufteilung der Beute erlebt sie eine böse Überraschung: Cordell taucht plötzlich mit einem Partner auf, nimmt die Crew unter Beschuss. Crissa kann mit Larry gerade noch türmen, aber in einem nahegelegenen Lagerhaus stirbt Larry an seinen Schussverletzungen. Loyal wie Crissa nun mal veranlagt ist, bringt sie ihren eigenen Anteil in Sicherheit und macht sich mit Larrys Anteil auf den Weg in den Süden, wo Larrys Frau Claudette und seine sechsjährige Tochter Haley lebt.
Da sich Larrys Frau jedoch auf einen Drogenhändler eingelassen hat, will Crissa sichergehen, dass Larrys Geld auch in gute Hände gerät, und verbringt Zeit mit Haley. Währenddessen hat der bestohlene Drogenboss Marquis allerdings den Ex-Cop Burke angeheuert, das gestohlene Geld wiederzubeschaffen. Ebenso effektiv wie skrupellos räumt Burke hinter den Geldräubern auf und kommt Crissa immer dichter auf die Fersen …
„Du musst morgen weg, dachte Crissa. Gib das Auto zurück, nimm den Zug nach Norden. Je länger du bleibst, desto schwerer wird es für euch beide, euch voneinander zu verabschieden. Mit der Zeit und mit etwas Glück könnte Haley vergessen, was geschehen war und hier ein neues Leben anfangen. Aber sie fühlte keinen Drang, zurückzugehen. Niemand wartete auf sie, auch keine Pflicht.“ (S. 264) 
Wie Übersetzer Alf Mayer in seinem Nachwort zu dem dritten Crissa-Stone-Abenteuer noch einmal erwähnt, ist dem amerikanischen Schriftsteller Wallace Stroby die Idee zu Crissa Stone gekommen, als er Ali MacGraw in der Verfilmung von Jim Thompsons „The Getaway“ sah, die 1972 allerdings neben Steve McQueen eine sehr passive Rolle gespielt hatte.
Mit Crissa Stone hat er nicht nur eine aktivere, sondern auch eine ebenso taffe wie gutherzige Protagonistin geschaffen, die sich durch ihren gut funktionierenden moralischen Kompass immer wieder in Bedrängnis bringt. Stroby erweist sich auch in „Fast ein guter Plan“ als äußerst ökonomischer Erzähler, der Crissa gleich in ihrem neuen Abenteuer präsentiert, mitten in ihrem neuen Team bei der Überwachung der Rostlaube, in der die Drogenhändler ihr Geld zwischenparken. Statt die übrigen Figuren eingehend zu charakterisieren, setzt Stroby auch im dritten Crissa-Stone-Band auf effektiv gestraffte Handlungsstränge und lebendige Dialoge, die den Plot wie eine Filmhandlung vor den Augen des Lesers ablaufen lassen.
Einzig Crissas Widersacher Burke erfährt eine detailliertere Beschreibung, wobei auch hier seine gnadenlose Effektivität für sich selbst spricht. Natürlich läuft alles auf einen Showdown zwischen Crissa und Burke hinaus, natürlich behält Crissa am Ende die Überhand, aber bei aller Vorhersehbarkeit bietet der Plot einfach coole Action, unterhaltsame Dialoge und genügend Verweise auf Crissas eigene verkorkste Geschichte, dass der Leser gar nicht abwarten kann, wie es mit ihr und ihrem weiterhin im Gefängnis ausharrenden Geliebten weitergeht. 
Leseprobe Wallace Stroby - "Fast ein guter Plan"

Jason Starr – „Die letzte Wette“

Donnerstag, 1. Februar 2018

(Diogenes, 293 S., Tb.)
Eigentlich träumt Bauarbeiter Joey DePino seit Jahren davon, sich mit seiner Frau Maureen ein kleines Häuschen in einer besseren Gegend leisten zu können, doch bislang war dem wettsüchtigen in dieser Hinsicht kein Glück beschieden. Das Schicksal scheint sich auf der Pferderennbahn Meadowlands zu wenden, als Joey bei einer 65:1-Wette ein Gewinn von 17.600 $ winkt – bis sein Gewinnerpferd nach dem Zieleinlauf disqualifiziert wird.
Statt des saftigen Gewinns, mit dem er den Großteil seiner Wettschulden bezahlen und eine Anzahlung auf ein nettes Häuschen hätte leisten können, kehrt Joey noch deprimierter als ohnehin schon zu seiner Frau zurück, die sich in der schmal geschnittenen Zwei-Zimmer-Wohnung zunehmend beengt fühlt und außerdem noch Kinder haben möchte.
Wie sehr beneidet sie doch ihre alte Schulfreundin Leslie, die mit ihrem bei einer Werbeagentur gutverdienenden Mann David Sussman und der zehnjährige Tochter Jessica das große Los gezogen hat. Was Leslie und Maureen allerdings nicht wissen, ist, dass David im Büro eine Affäre nach der nächsten hat und seine aktuelle Geliebte Amy keine Lust hat, einfach so abserviert zu werden.
Als Joey von der Affäre erfährt, reift in ihm ein teuflischer Plan, nachdem er auch noch seinen Job verloren hat …
„Joey hockte den ganzen Vormittag in Unterwäsche vorm Fernseher. Er war nicht in Stimmung, sich einen Job zu suchen, und wusste auch nicht, wo er hingehen sollte. Außerdem war Freitag, und die Stellenanzeigen erschienen frühestens in den Sonntagszeitungen. Wahrscheinlich war er am Tiefpunkt seines Lebens angelangt, aber ihn deprimierte vor allem, dass er nicht mehr wetten konnte.“ (S. 89f.)
In seinem zweiten Roman nach seinem erfolgreichen Debüt „Top Job“ (1997) beschreibt Jason Starr die sehr unausgewogene Figurenkonstellation eines halbwegs befreundeten Pärchens, wobei die Beziehung des Quartetts schon allein dadurch im Ungleichgewicht ist, weil Joey und David beruflich in ganz anderen Welten unterwegs sind und sich gesellschaftlich in unterschiedlichen Kreisen bewegen. So herrscht auf der Seite von Joey und Maureen vor allem Neid auf die gut situierten Sussmans vor, während Leslie ihre Stärke daraus bezieht, dass es ihrer Freundin viel schlechter geht, sich selbst aber für zu fett hält und sich ständig erbrechen muss.
Ihr Mann leidet unter der fortschreitenden Glatzenbildung und einer zu anhänglichen Geliebten, die zunehmend zu einem Problem für die eigene Familie wird. Auf der anderen Seite ist Joey am absoluten Tiefpunkt angelangt, steckt er doch bei seinen Buchmachern und dem Kredithai tief in den Miesen, der natürlich auch vor Gewalt nicht zurückschreckt, um seinen Forderungen Nachdruck zu verleihen.
Die Geschichte wird vor allem aus der Perspektive der beiden männlichen Protagonisten erzählt, die durch ihre ganz unterschiedlich ausgeprägten Lebenskrisen auch an Profil gewinnen, während die Frauenfiguren seltsam konturenlos bleiben und die Motivation von Davids Geliebten Amy schwer nachvollziehbar bleibt. Wie sich David und Joey ihrer massiven Probleme annehmen, erzählt Starr auf sehr lebendige, kurzweilige Weise, auch wenn seine Figuren und ihre Probleme teilweise arg konstruiert wirken.

Linwood Barclay – „Nachts kommt der Tod“

Sonntag, 28. Januar 2018

(Knaur, 560 S., Tb.)
Wegen seiner aufbrausenden Art musste Cal Weaver den Dienst als Cop in Promise Falls quittieren und lebt nun mit seiner Frau Donna in der Kleinstadt Griffon bei den Niagarafällen. In einer regnerischen Nacht gabelt er die siebzehnjährige Claire, Tochter von Bürgermeister Bertram Sanders, vor Patchett’s Bar auf, als sie sich als Freundin seines Sohnes Scott zu erkennen gibt, und will sie nach Hause fahren.
Seit Scott vor zwei Monaten im Drogenrausch beim Sturz vom Dach des örtlichen Möbelhauses tödlich verunglückt ist, sucht Cal, der nun als Privatermittler arbeitet, nach demjenigen, der Scott die Drogen angedreht hat. Doch Claire kann ihm in dieser Hinsicht nicht weiterhelfen. Da ihr angeblich übel ist, bittet sie Cal, sie im Iggy’s auf die Toilette gehen zu lassen, doch als sie nach längerer Zeit wieder ins Auto steigt, stellt der Detektiv fest, dass es sich um ein anderes Mädchen namens Hanna Rodomski handelt, die Claire so ermöglichen möchte, ihren mutmaßlichen Verfolger abzuschütteln.
Bevor Cal weitere Details dieses Täuschungsmanövers erfahren kann, stürzt Hanna an der nächsten roten Ampel aus dem Wagen und flüchtet in den nahegelegenen Wald. Am nächsten Morgen wird ihre halb entblößte Leiche am Flussufer gefunden. Cal gerät damit nicht nur ins Visier der örtlichen Polizei, die von seinem Schwager Augie Perry geleitet wird, sondern auch in den Konflikt zwischen Chief Perry und Bürgermeister Sanders, der der Polizei unlautere Methoden vorwirft.
Als auch noch Claire spurlos verschwindet und Hannas Freund Sean Skilling wegen Mordverdachts verhaftet wird, macht sich Cal auf die Suche nach dem vermissten Mädchen. Zu seiner Hartnäckigkeit gesellen sich aber auch immer wieder die Beziehungsprobleme mit Donna und sein aufwallendes Temperament.
„Es gab Zeiten, da litt ich unter der Wahnvorstellung, ein anständiger Mensch zu sein. Ich glaubte, ich hätte Ideale. Ich glaubte, mein Verhalten werde von edlen Motiven bestimmt.
Aber mit zunehmendem Alter kommt auch die Einsicht, dass jeder Tag einem Kompromisse abverlangt. Dass man die allgemeinen Regeln den eigenen Bedürfnissen anpasst, ist nichts, was einem schlaflose Nächte bereiten müsste.“ (S. 316) 
Seit seinem Debütroman „Ohne ein Wort“ zählt der kanadisch-US-amerikanische Schriftsteller Linwood Barclay zu den populärsten Vertretern des Thriller-Genres. Mit dem erstmals 2014 veröffentlichten Roman „Nachts kommt der Tod“ verweist er am Rande schon auf die kürzlich erschienene „Promise Falls“-Trilogie, denn Cal Weaver mischt auch im zweiten Band „Lügennacht“ als Ermittler mit.
In „Nachts kommt der Tod“ berichtet Weaver als Ich-Erzähler nicht nur von der Tragödie seines Sohnes, dessen Tod nach wie vor wie ein dunkler Schatten über seinem Leben und seiner Ehe liegt, sondern von den merkwürdigen Vorfällen, die mit dem Mord an Hanna und dem Verschwinden ihrer Freundin Claire ihren Anfang nehmen. Barclay erweist sich dabei als routinierter Spannungs-Autor, der seine Figur lebendig portraitiert und die Handlung bei hohen Tempo voranschreiten lässt. Das Ensemble in der Kleinstadt Griffon bleibt dabei angenehm überschaubar, die Verflechtungen innerhalb der städtischen Bewohner gestalten sich allerdings ungewöhnlich komplex.
Natürlich fügen sich kontinuierlich die einzelnen Puzzle-Teile allmählich zusammen, werden falsche Spuren gelegt und ebensolche Schlüsse gezogen. Zum Ende weist der Plot die obligatorischen Wendungen und Bekenntnisse der Schuldigen auf. Barclay bedient sich souverän der Genre-Konventionen und versteht es, die Spannung auf einem hohen Niveau zu halten.
Das macht auch „Nachts kommt der Tod“ zu einem kurzweiligen und packenden Lesevergnügen.

Jon McGregor – „Speicher 13“

Mittwoch, 24. Januar 2018

(Liebeskind, 352 S., HC)
Die dreizehnjährige Rebecca Shaw, die mit ihren Eltern die Weihnachtsferien in einem kleinen Dorf in Mittelengland verbringt, verschwindet während einer Moorwanderung spurlos, bereits nach wenigen Stunden wird sie offiziell für vermisst erklärt und ein auch aus Freiwilligen organisierter Suchtrupp organisiert. Doch weder der Hubschrauber, der seine Runden über das Heidekraut zieht, noch die Taucher in den insgesamt dreizehn Speicherseen und im Fluss werden fündig. Reporter kommen und gehen, der Alltag nimmt wieder seinen Lauf. 
Die örtliche Pastorin Jane Hughes gibt in ihren Predigten ihrer Hoffnung Ausdruck, dass sich die Dorfgemeinde nicht von der Trauer überwältigen lässt, schließlich lässt die Polizei im Februar sogar mit Schauspielern aus Manchester die tragischen Ereignisse nachstellen. Doch über all die Jahre, die vergehen, bleibt das Verschwinden von Rebecca oder Becky oder Bex nach wie vor ungeklärt. Die Teenager James, Deepak, Sophie und Liam lernten das verschwundene Mädchen besser kennen als jeder andere und organisieren eine eigene Suchaktion, immerhin schien James der letzte Mensch gewesen zu sein, der Becky vor ihrem Verschwinden gesehen hatte. Ruth und Martin Fowler kämpfen mit ihrem Metzgerladen ums Überleben und letztlich auch um ihre Beziehung. Cathy Harris führt den Hund des alten Mr. Wilson regelmäßig spazieren, Su Cooper droht ihren Job bei der BBC zu verlieren. Beziehungen bahnen sich an, Begierden werden befriedigt, andere bleiben unerfüllt. Das Leben nimmt seinen Lauf, in der Natur ebenso wie bei den Menschen.
„Nach dem Mädchen war überall gesucht worden. Vielleicht hatte sie sich mit jemandem verabredet, war mit dem Auto weggefahren und befand sich in Sicherheit. Vielleicht war sie in ein Loch gefallen. Vielleicht hatten ihre Eltern einen schrecklichen Fehler begangen und sie verletzt. Vielleicht war das Mädchen weggerannt, weil es das wollte oder weil es keine andere Wahl hatte. Man wollte es trotzdem wissen.“ (S. 286) 
Obwohl der Booker Prize nominierte Roman des britischen Schriftstellers Jon McGregor mit dem Verschwinden eines dreizehnjährigen Mädchens eigentlich einen klassischen Krimi-Plot eröffnet, bildet das Rätsel um das Schicksal der Vermissten nur den Rahmen für die fein beobachtete Gesellschaftsstudie, die McGregor („Nach dem Regen“, „So oder so“) mit seinem preisgekrönten Roman „Speicher 13“ abliefert. Im Mittelpunkt seines sprachlich so ausgefeilten und atmosphärisch stimmigen Romans stehen nämlich die Schicksale der im Dorf Lebenden. Zwar bleiben auch die Eltern des vermissten Mädchens noch für unbestimmte Zeit dort, aber wie sie mit dem ungeklärten Verschwinden ihrer Tochter umgehen, wird nur am Rande thematisiert. Stattdessen begleitet der Autor ganz verschiedene Menschen in ihrem Alltagsleben mit ihrer von Existenzsorgen begleiteten Arbeit (als Metzger, Töpfer, Journalistin) und der Sehnsucht nach Liebe, die hier und da zu erhofften Beziehungen führt, aber nicht immer erfüllt wird.
Dabei behält die Dramaturgie einen eindringlichen, fast hypnotischen Rhythmus bei, in der immer wieder erwähnt wird, wie alt Becky zum Zeitpunkt der gerade geschilderten Ereignisse wäre, welches Gemüse gerade im Gemeinschaftsgarten zum Ernten ansteht und wie es um den Lauf der Natur mit ihren Rehen, Füchsen, Ringeltauben, Springschwänzen und Wintergoldhähnchen gerade so steht.
„Speicher 13“ lebt weniger von der Spannung, ob das Verschwinden von Rebecca Shaw aufgeklärt wird, sondern von der feinfühligen Beobachtung, wie die Dorfbewohner mit dem Ereignis und ihrem eigenen Leben umgehen. Dabei entwickelt der Roman einen so faszinierenden Sog, dass sich nach der letzten Seite fast schon Bedauern breitmacht, den ganz normalen Schicksalen in dem unbenannten Dorf nicht mehr folgen zu dürfen. 
Leseprobe Jon McGregor - "Speicher 13"

Michael Connelly – (Harry Bosch: 18) „Ehrensache“

Samstag, 20. Januar 2018

(Droemer, 411 S., HC)
Um seiner Suspendierung aus dem Weg zu gehen, mit der der LAPD-Detective rechnen musste, hat sich Harry Bosch vorzeitig pensionieren lassen. Ihm ist etwas unwohl dabei, die Seiten zu wechseln, als er sich bereiterklärt, für seinen Halbbruder, den sogenannten „Lincoln Lawyer“ Mickey Haller, als Ermittler einzuspringen, nachdem Hallers eigentlicher Ermittler Cisco bei einem Motorradunfall außer Gefecht gesetzt worden ist.
Haller vertritt Da’Quan Foster, der beschuldigt wird, die beliebte West-Hollywood-Verwaltungsdirektorin Lexi Parks in ihrem eigenen Bett ermordet und vergewaltigt zu haben. Vor allem die Tatsache, dass Fosters Sperma an und in Parks‘ Leiche gefunden worden ist, scheint dem Angeklagten zum Verhängnis zu werden. Doch ähnlich wie Haller ist auch Bosch bald der Meinung, dass Foster das Verbrechen angehängt werden soll.
Bei seinen eigenen Ermittlungen stößt Bosch in der Wohnung von Parks auf die Verpackung einer Luxus-Uhr, die offenbar zur Reparatur nach Las Vegas geschickt worden ist und deren Spur schließlich zu einem Schönheitschirurgen in Beverly Hills führt. Noch ahnt Bosch nicht, dass er sich mit jedem weiteren Schritt zur Lösung des Verbrechens immer mehr selbst zur Zielscheibe der eigentlichen Mörder macht, die absolut skrupellos zu Werke gehen.
„Er spürte, wie sein Verstand auf Touren kam. Er war etwas auf der Spur, war aber nicht sicher, was es war. Er war immer noch zu wenig mit dem Fall vertraut und benötigte dringend mehr Informationen, aber er kam der Sache näher. Seiner Ansicht nach war des Rätsels Lösung in beiden Fällen bei Lexi Parks zu suchen. Warum war sie getötet worden? Wenn er diese Frage beantworten konnte, ergab sich alles andere wie von selbst.“ (S. 190) 
Auch wenn der altgediente Mordermittler Harry Bosch seinen Dienst nicht mehr beim Los Angeles Police Department verrichten darf, hat er seinen Gerechtigkeitssinn noch nicht verloren. Lange muss er in seinem 20. Fall überlegen, ob er für seinen Halbbruder – wenn auch nur in diesem einen Fall - die Seiten wechseln soll und darf, um für einen Strafverteidiger zu arbeiten, der gewöhnlich genau die Leute vor dem Gefängnis bewahren will, die zuvor Bosch und seine Kollegen als mutmaßliche Täter in einem Verbrechen festgenommen haben.
Doch sobald Bosch das Mordbuch durchgearbeitet und mit dem Angeklagten selbst gesprochen hat, ist er tatsächlich überzeugt, dass Foster das Verbrechen vom wahren Mörder angehängt worden ist. Wie gewohnt beschreibt der ehemalige Polizeireporter Michael Connelly äußerst akribisch, wie einer der in der Krimiliteratur berühmtesten Detectives der Sache auf den Grund geht und einer in diesem Fall zunächst unscheinbaren Luxus-Uhr-Verpackung nachspürt, die er schließlich als elementar für die Lösung des Falls ansieht.
Nebenbei fließen auch ein paar private Episoden in die Handlung mit ein, das Ende von Boschs Beziehung mit der Journalistin Skinner und die kurzen Gespräche mit seiner bei ihm lebenden Tochter Maddie, die mit Hallers etwas gleichaltriger Tochter demnächst auf das gleiche College geht und zunächst auf ein dreitägiges Zeltlager fährt. Doch diese allzu kurzen Exkurse dienen eher dazu, Harry Bosch auch eine menschliche Seite zu verleihen und ihn nicht allein als verantwortungsbewussten und extrem sorgfältigen Ermittler zu charakterisieren, der nur für seine Arbeit lebt.
Connelly erweist sich in „Ehrensache“ einmal mehr als souveräner und besonders ökonomischer Erzähler, der nur wenige Zeilen benötigt, um Boschs derzeitige persönliche Lage zu skizzieren und auch Mickey Haller vorzustellen, dem der Autor bereits eine eigene Serie gewidmet hat (deren erster Band „Der Mandant“ gleich verfilmt worden ist). Nachdem sich Bosch zunächst ausführlich mit seinem Gewissen auseinandersetzt, macht er sich wie ein Bluthund auf die Suche nach dem Täter, denn im Gegensatz zu Haller, der nur einen Freispruch für seinen Mandanten erwirken will, geht es für Bosch darum, auch den wahren Schuldigen dingfest zu machen.
Das Finale fällt zwar sehr vorhersehbar aus und ganz den Konventionen des Genres verhaftet, doch bis dahin macht es einfach Spaß, Bosch bei jedem seiner Schritte zu folgen, bis er den Fall gelöst hat.
Leseprobe Michael Connelly - "Ehrensache"

Hari Kunzru – „White Tears“

Sonntag, 14. Januar 2018

(Liebeskind, 352 S., HC)
Mit einem unauffällig versteckten Aufnahmegerät und zwei kleinen Mikros in den Ohren macht sich der 25-jährige Seth regelmäßig auf den Weg, Menschen und Orte aufzunehmen, die Welt mit ihren Gewittern, dem Lärm auf den Straßen und in den U-Bahnen festzuhalten, das Knarren eines Schaukelstuhls auf der Veranda und das Zirpen der Grillen in den Bäumen am Abend. Eines Tages beobachtet Seth den Schachspieler PJ am Washington Square Park und nimmt dabei eher zufällig einen Blues-Song auf, den PJs aufgeweckter Gegner vor sich hinsingt.
Als Carter, sein bester und aus wohlhabender Familie stammende Freund und Geschäftspartner, die Aufnahme zu hören bekommt, ist dieser völlig begeistert und bastelt daraus den Song „Graveyard Blues“, den er – von Nebengeräuschen bereinigt und mit uraltem analogen Knistern versehen – dem fiktiven Blues-Sänger Charlie Shaw zuschreibt und der sich um Internet zu einem gesuchten Sammlerstück entwickelt. Der besonders hartnäckige Sammler JumpJim behauptet sogar, dass es Charlie Shaw tatsächlich gegeben habe.
Als Carter von einem Unbekannten ins Koma geprügelt wird, machen sich Seth und Carters attraktive Schwester Leonie auf den Weg in den Süden, um das Geheimnis des unter mysteriösen Umständen verschwundenen Sängers und des einzigen Songs zu lüften, den er je aufgenommen haben soll …
„Der Himmel wird langsam grau, und in diesem grauen Licht komme ich zu der Erkenntnis, dass ich es nie schaffen werde, mich bis zu Charlie Shaw durchzugraben. Was erwarte ich überhaupt? Eine Leiche? Einen lebenden Mann in einem Sarg? Einen Mann, der singt und Gitarre spielt, mit dem ich verhandeln kann, den ich um Gnade bitten kann? Ist es das, wonach ich grabe? Dass ich mein Leben zurückbekomme?“ (S. 295) 
Seit seinem Debütroman „Die Wandlungen des Pran Nath“ (2002) hat sich der britische Journalist und Schriftsteller Hari Kunzru zu einem der interessantesten jungen Autoren der Literaturszene entwickelt. Mit seinem neuen Roman greift er ein überaus aktuelles Thema auf, nämlich die Retromanie, mit der die Hipster der Generation Y ihre eigene Identität dadurch formen, dass sie sich gefällige Artefakte vergangener Epochen zu eigen machen und es als eigene Kreation präsentieren. In Kunzrus bereits fünften Roman „White Tears“ ist es vor allem Carter, der als Spross eines mächtigen Familienclans vor allem eine Leidenschaft für alte Blues-Platten entwickelt hat und sich dadurch eine legitime schwarze Identität zulegen will. Tatsächlich ist es aber sein weitaus weniger coole und wohlhabende Kumpel Seth, der auf seiner Reise in die Vergangenheit die Identität des gesuchten Blues-Musikers Charlie Shaw anzunehmen scheint und dabei seine eigene Persönlichkeit zu verlieren droht.
Kunzru erweist sich vor allem in der ersten Hälfte des Romans als begnadeter Erzähler, der die Stimmungen und Leidenschaften seiner jungen Protagonisten stimmungsvoll einfängt und dabei auch die neurotischen Züge der Sammler wunderbar beschreibt. Der Duktus der Erzählung verändert sich mit der Reise, die Seth in den Süden antritt, mal mit Carters Schwester Leonie, mal mit Chester Bly, Seths Kollegen vom „Herald Tribune“. Mit der Fahrt nach Mississippi verschwimmen Gegenwart und Vergangenheit, Fantasie und Realität, letztlich ganze Identitäten miteinander.
„White Tears“ erweist sich als psychologisch vielschichtiger, atmosphärisch dichter und spannender Road-Trip, der geschickt, rätselhaft und verstörend eine von fehlgeleiterter Leidenschaft geprägte Suche thematisiert, an deren Ende die vollkommene Selbstauflösung steht.
Leseprobe Hari Kunzru - "White Tears"

Kent Haruf - "Lied der Weite"

Freitag, 12. Januar 2018

(Diogenes, 384 S., HC)
In der Kleinstadt Holt in den Great Plains muss sich der Lehrer Tom Guthrie mit dem Umstand anfreunden, dass seine kränkliche Frau Ella für unbestimmte Zeit nach Denver zu ihrer Schwester zieht und ihn mit den beiden Jungen Ike und Bobby alleinlässt. Sie tragen morgens die Denver News aus, freunden sich mit der alten Mrs. Stearns an und bekommen es mit dem aufmüpfigen Russell Beckman zu tun, der bereits ihren Vater in der Schule zur Verzweiflung treibt.
Währenddessen wird die siebzehnjährige schwangere Victoria von ihrer Mutter vor die Tür gesetzt. Verzweifelt wendet sie sich an die Lehrerin Maggie Jones, die das Mädchen raus auf die Farm der beiden alten Junggesellen Harold und Raymond McPheron bringt.
Sie wissen zwar nichts mit der jungen Frau anzufangen, nehmen sie aber bei sich auf, umsorgen sie, kaufen mit ihr ein und versuchen sogar, Gespräche mit ihr zu führen, obwohl sie darin völlig ungeübt sind. Doch dann taucht der leibliche Vater des Babys plötzlich auf und bringt die zunächst aus Not geborene, mittlerweile aber liebevolle Konstellation bei den Viehzüchtern aus dem Lot. Toms Frau Ella zieht die Konsequenzen aus den Jahren der Unzufriedenheit und kehrt nicht mehr zurück.
„Ich will mehr vom Leben. Das ist mir jetzt klargeworden. Ich war gar nicht mehr da, mir selbst entfremdet. Die ganzen Jahre habe ich noch etwas anderes von dir gewollt, mehr. Ich wollte jemanden, der mich so will, wie ich bin. Nicht seine eigene Version von mir.“ (S. 147) 
Der amerikanische Bestseller-Autor Kent Haruf (1943-2014) hat nur sechs Romane veröffentlicht, von denen „Unsere Seelen bei Nacht“ im vergangenen Jahr mit Jane Fonda und Robert Redford verfilmt worden ist. Wie alle anderen von Harufs Romanen spielt auch das 1999 veröffentlichte und 2001 bei btb erstmals in deutscher Sprache veröffentlichte Werk „Lied der Weite“ in der fiktiven Kleinstadt Holt, Colorado, und beschreibt in schlichter, aber eindringlicher Sprache das Leben einer kleinen Schar von ganz normalen Menschen mit ihren ganz alltäglichen Problemen.
Im Mittelpunkt stehen dabei zunächst Tom Guthrie mit seinen beiden Söhnen, die miterleben müssen, wie ihre Eltern sich nicht mehr menschlich, sondern auch räumlich voneinander entfernen; dann die beiden alten McPheron-Brüder, deren Leben durch die schwangere Victoria völlig auf den Kopf gestellt wird.
Interessanterweise widmet der Autor den Tieren in seinem Roman fast genauso viel Raum und Interesse. Detailliert beschreibt er verschiedene Untersuchungen, Geburten und vor allem die Obduktion eines Pferdes, das elendig an einem Darmverschluss verstarb. Das Gebaren der Tiere folgt ganz natürlichen Prozessen, und ebenso lässt sich das Verhalten der hier vorgestellten Menschen vorhersehen, der Umgang mit einer ungewollten Schwangerschaft, Trennungen, den Versuchen, Beziehungen aufzubauen, Unsicherheiten und mangelnden Erfahrungen zu begegnen.
Wie Haruf mit ganz alltäglichen Ereignissen und Empfindungen umgeht, allzu menschliche Schwächen und Bedürfnisse beschreibt, präsentiert überhaupt keine moralisierenden Einsichten oder schlichte Lebensweisheiten, sondern ein nüchtern erscheinendes Portrait menschlicher Wesenszüge. Doch in Harufs schnörkelloser wie poetischer Art wachsen dem Leser die Figuren schnell ans Herz.
Leseprobe Kent Haruf - "Lied der Weite"